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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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Von Wolfgang Staudinger, Regensburg *
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. April 2010 einen Beschluss folgenden Inhalts gefasst:
"Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen, so kann eine Zurücknahme des Rechtsmittels grundsätzlich auch noch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen." (Leitsatz)
Vorausgegangen war ein Urteil des Landgerichts Hechlingen, das auf einer Verständigung gem. § 257c StPO beruhte.
Die Angeklagte wurde zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Noch am Tag der Urteilsverkündung legte der Instanzverteidiger per Telefax Revision ein. Er erhob die allgemeine Sachrüge. Etwa eine Stunde später nahm er das Rechtsmittel ebenfalls per Telefax wieder zurück (Rn. 3).[1] Zwei Tage später zeigte ein anderer Verteidiger an, die Angeklagte zu vertreten, und reichte weitere fünf Tage später "auf ausdrücklichen Wunsch der Angeklagten" Revision ein (Rn. 4). Er trug vor, dass die Angeklagte nie mit dem Urteil ohne Bewährungsausspruch einverstanden gewesen sei; sie hätte vielmehr ihrem Instanzverteidiger ausdrücklich aufgetragen, Rechtsmittel einzulegen. Zudem sei sie auch nicht mit der Rücknahme des Rechtsmittels einverstanden gewesen (Rn. 6).
Die vom Vorsitzenden erbetenen Stellungnahmen von Instanzverteidiger und Instanzrichter brachten folgende Information: Den Vorschlag zur Einlegung und Rücknahme des Rechtsmittels habe der Verteidiger vorgebracht; das Gericht betonte, dass dieses Prozedere jedenfalls nicht "Gegenstand der Absprache" (Rn. 12) gewesen sei. Der Instanzverteidiger wies darauf hin, dass seine Mandantin bereits im Vorfeld von ihm über die Möglichkeit einer Verständigung informiert wurde; seiner Mandantin sei es insbesondere bewusst gewesen, dass die in Aussicht gestellte Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt werde (Rn. 8).
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschied durch den Beschluss, dass kein Verstoß gegen § 302 Abs. 1 S. 2 StPO vorliege. Das habe mehrere Gründe: Zum ersten sei gesetzlich nicht geregelt, wie mit einem eingelegten und noch in der Einlegungsfrist zurückgenommenen Rechtsmittel zu verfahren sei. § 302 Abs. 1 S. 2 StPO regele nur den Verzicht (vgl. Rn. 17).
Zum zweiten habe das Gericht nicht auf ein solches Vorgehen hingewirkt und es auch nicht zum Gegenstand der Verständigung gemacht. Das stützt der Senat auf die dienstliche Äußerung des Vorsitzenden (Rn. 22).
Angemerkt hat der Senat noch, dass ein Mitwirken des Gerichts bei einer solchen Lösung wohl in der Nähe einer Umgehung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO mit der Folge der Unwirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme läge (Rn. 23).
Mit der letzten Überlegung liegt der Senat richtig. Ein Mitwirken des Gerichts, vor dem eine Verständigung stattfindet, an einer Verständigung mit dem Inhalt eines faktischen Rechtsmittelverzichts ist jedenfalls nicht im Sinne des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO. Fraglich ist allerdings zweierlei: zum einen (2.), ob die vom Senat gesehene Rechtsfolge zwingend und ausreichend ist, und zum anderen (1.), ob nicht auch schon das Vorgehen des Verteidigers in unserem Fall eine Umgehung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO darstellt.
Der Senat sieht keine Umgehungshandlung, solange das Gericht nicht an dem Vorgehen mitgewirkt hat. Das sei schon aufgrund des Wortlauts so. Vulgo: Wenn nicht ausdrücklich im Gesetz steht, dass es verboten ist, ein Rechtsmittel einzulegen und dann zurückzunehmen, dann ist es auch erlaubt. Dem steht aber entgegen, dass nicht nur das Wortlautargument zählt. Müsste der Gesetzgeber alle möglichen Fälle ausdrücklich benennen, wären die Normen unendlich lang. Das muss der Gesetzgeber aber auch nicht. Neben der vom Senat vorgenommenen Wortlautauslegung sind nämlich auch die weiteren Auslegungsregeln zu beachten, zumindest dann, wenn die Wortlautauslegung nicht zu einer eindeutigen Lösung führt.[2]
Die Auffassung des Senats zu § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ist mit dem Wortlaut vereinbar; es steht nicht geschrieben, dass das in Frage stehende Vorgehen verboten ist. Das ist aber nicht zwingend. Vielmehr kann auch durch den Wortlaut gemeint sein, dass alle Möglichkeiten unwirksam sind, die zu einem faktischen Rechtsmittelverzicht führen.
Der Gesetzgeber führt in § 302 Abs. 1 S. 2 StPO explizit nur den Verzicht an, weil er sich Konstellationen vorstellen kann, in denen eine Rücknahme des Rechtsmittels sinnvoll ist und daher ermöglicht werden soll. Die Rücknahme des Rechtsmittels soll für den – aus Sicht der Verteidigung – keinen Erfolg versprechenden Fall möglich sein, um Kosten für den Mandanten zu vermeiden. Dabei hatte der Gesetzgeber wohl auch im Blick, dass die Gründe des Urteils in der Regel erst nach der Einlegungsfrist vorliegen; die Verteidigung hat also meist erst nach Ablauf der Einlegungsfrist die Möglichkeit, die Chancen des Rechtsmittels zu prüfen. Daher muss auch nach einem Verständigungsurteil die Rücknahme des eingelegten Rechtsmittels möglich bleiben. Was der Gesetzgeber sicherlich nicht wollte, ist durch die Rücknahme faktisch einen Verzicht zu ermöglichen.[3] Das nämlich stellt eine klassische Umgehungshandlung dar: Ein Weg, der formal zu rechtfertigen ist, wird eingeschlagen, um den direkten, aber verbotenen Weg zu vermeiden.[4]
Der Gesetzgeber wollte mit § 302 Abs. 1 S. 2 StPO einen Verzicht auf ein Rechtsmittel ausschließen, damit der Angeklagte im Fall der Verständigung noch einmal Zeit hat, das abgesprochene Urteil zu überdenken.[5] Das steht in der Tradition der Entscheidung des Großen Senats, der bei einer Absprache vor Kodifizierung der Verständigungsregelung schon eine qualifizierte Belehrung forderte.[6] Der Gesetzgeber geht eben nur einen Schritt weiter. Zum Schutz des Angeklagten soll überhaupt kein Rechtsmittelverzicht möglich sein. Das wird aber unterlaufen, wenn das eingelegte Rechtsmittel sofort wieder zurückgenommen wird.[7]
Es kann dabei keine Rolle spielen, ob der "Verzicht" bereits Teil der Verständigung war oder ob der Verteidiger aus eigener Initiative gehandelt hat. § 302 Abs. 1 S. 2 StPO regelt, dass kein Verzicht möglich ist. Ob er bereits Teil der Verständigung oder Eigeninitiative ist, darf nur eine Frage der Rechtsfolge sein, nämlich ob nur die Rücknahme oder der ganze Verzicht unwirksam ist (siehe sogleich). Vielmehr kommt es auf den Grund der Rücknahme des Rechtsmittels an: wird es zurückgenommen, weil es tatsächlich aussichtslos erscheint (und um damit Kosten zu sparen) oder weil ein faktischer Verzicht erreicht werden soll. Im Rahmen der Beweiswürdigung ist in dem besprochenen Fall aufgrund der besonderen Kürze des Abstands zwischen Einlegung und Rücknahme der Revision (17.17 Uhr – 18.11 Uhr desselben Tags, Rn. 3) naheliegend, dass es nur um einen faktischen Rechtsmittelverzicht ging. Das ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Instanzrichters, der dieses Vorgehen weit von einer "Absprache" sehen will (Rn. 12, "Vielmehr erklärte der Verteidiger (…) von sich aus, (…) dass er ja Revision
einlegen und diese wieder zurücknehmen könne. Ich erklärte ihm hierauf, dass es seine Sache sei, ob er dies mache; jedenfalls Gegenstand der Absprache sei es nicht."). Das spricht für sich.
Der Senat beantwortet die Rechtsfolgenfrage knapp, ohne sie näher zu begründen. Das muss er auch nicht, weil er § 302 Abs. 1 S. 2 StPO nicht anwendet, da die Sachlage seiner Ansicht nach anders ist. Er geht davon aus, dass – für den Fall, dass die Rücknahme nur zur Umgehung erklärt wurde – nur ebendiese Rücknahme selbst unwirksam sei. Allerdings sind zwei Fälle zu unterscheiden: erstens der Fall, dass das Vorgehen Teil der Verständigung ist und zweitens der Fall, dass die Rücknahme aus eigenem Antrieb der Verteidigung folgt.
Für den zweiten Fall ist die Rücknahme unwirksam. So sieht das § 302 Abs. 1 S. 2 StPO vor.[8] Wie mit der Einlegung des Rechtsmittels verfahren werden kann, beantwortet der Senat in seinem knappen Ausblick nicht. Es drängt sich allerdings eine Lösung auf: Auch die Einlegung muss unwirksam sein. Sie ist nämlich nur zu dem Zweck erfolgt, sie sogleich wieder zurückzunehmen, also zur Umgehung des § 302 Abs. 1 S. 2 StPO. Folglich muss der Angeklagte wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden. Denn es erscheint nicht sinnvoll, dass er kein Rechtsmittel mehr einlegen kann aufgrund des Fristablaufs, der durch einen unwirksamen faktischen Verzicht eingetreten ist.
Der erste Fall erscheint bedeutend komplizierter. Sicherlich ist auch die Rücknahme des Rechtsmittels unwirksam und die Einlegung selbst bleibt ebenso unbeachtlich; im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann erneut und wirksam ein Rechtsmittel eingelegt werden. Das sind Mindestfolgen, die dem Schutz des Angeklagten dienen. Die Mitwirkung des Gerichts an einem Rechtsmittelverzicht als Bestandteil der Verständigung wiegt aber noch schwerer. Ein Rechtsmittelverzicht darf gemäß § 257c Abs. 2 S. 1 StPO nicht Bestandteil einer Verständigung sein.[9] Da aber kaum noch zu ergründen sein wird, ob die Verständigung auch ohne Rechtsmittelverzicht genauso stattgefunden hat, ist die gesamte Verständigung und zudem das auf ihr beruhende Urteil hinfällig. Weiter ist zu überlegen, ob – zumindest wenn das Gericht aktiv und bewusst gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers[10] verstößt – auch § 339 StGB zu prüfen ist.
Der Senat macht es sich zu leicht, nur auf die Wortlautauslegung abzustellen[11] und eine Umgehung ohne weitere Begründung zu verneinen. Er geht nicht darauf ein, dass das Vorgehen an sich schon eine Umgehungshandlung darstellt. Nach einer Verständigung ist ein Rechtsmittelverzicht aber immer unwirksam und die Einlegung und sofortige Rücknahme eines Rechtsmittels ist eine Umgehungshandlung, wenn sie nur zum Zweck der sofortigen Rechtskraft des auf der Verständigung aufbauenden Urteils erfolgt.[12]
Der Instanzrichter hat zumindest gut daran getan, in seiner dienstlichen Stellungnahme ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass das Vorgehen des Instanzverteidigers weder eine Idee des Gerichts war noch Bestandteil der Verständigung geworden sei.[13] Anderenfalls wäre das gesamte Urteil fehlerhaft.
Der Ansicht des 1. Strafsenats, dass kein Verstoß gegen § 302 Abs. 1 S. 2 StPO vorliege, kann nicht gefolgt werden. Die Norm regelt alle Varianten des Verzichts, so dass sowohl der tatsächliche als auch der faktische Verzicht zu einer Unwirksamkeit führen müssen.
* Der Autor ist Rechtsreferendar im Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg, derzeit tätig in der Kanzlei Dr. Jan Bockemühl, Regensburg, und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht, Prof. Dr. Tonio Walter, Universität Regensburg.
[1] Die Randnummern beziehen sich auf die des Beschlusses.
[2] Zur Auslegung allgemein T. Walter, Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2009, S. 210 ff.
[3] Vgl. BT-Drs. 16/13095, S. 9 f.
[4] Vgl. Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Wieder (Hrsg.), Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, 2010, Teil B § 302 Rn. 16.
[5] BT-Drs. 16/13095, S. 10: "Durch den Ausschluss des Rechtsmittelverzichts wird sichergestellt, dass sich die Berechtigten in Ruhe und ohne Druck überlegen können, ob sie Rechtsmittel einlegen wollen oder nicht." Scheitert die Verständigung bleibt aber wohl der Verzicht möglich, v. Heintschel-Heinegg, in: KMR, 56. Ergänzunglieferung (November 2009), § 257c Rn. 64.
[6] BGHSt 50, 40 ff. = HRRS 2005 Nr. 310. Vgl. auch den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, der noch eine qualifizierte Belehrung forderte, BT-Drs. 16/11736, S. 4.
[7] Beulke, Strafprozessrecht, 11. Aufl. (2010), Rn. 395e.
[8] Eschelbach, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar StPO, § 302 Rn. 21; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. (2009), Ergänzungsheft, § 302 Rn. 2.
[9] Eschelbach, a.a.O. (Fn. 8), § 257c Rn. 17; Velten, in: SK StPO, 64. Lieferung (Oktober 2009), § 257c Rn. 18.
[10] Vgl. BT-Drs. 16/13095, S. 10.
[11] Vgl. Kier/Bockemühl, Österreichisches Anwaltsblatt, 2010/09 (im Erscheinen), III. b) (1), die von "semantisch anmutender Begründung" sprechen.
[12] Ebenso Beulke, a.a.O. (Fn. 7), Rn. 395e; Niemöller, a.a.O. (Fn. 4), § 302 Rn. 16.
[13] V. Heintschel-Heinegg, a.a.O. (Fn. 5), § 257c Rn. 65, sieht allerdings, dass von den Gerichten in der Regel informell erwartet werden wird, dass kein Rechtsmittel eingelegt wird.