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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Jul./Aug. 2010
11. Jahrgang
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1. Die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ist kein Teil der Vernehmung im Sinne von § 247 StPO. (BGHSt)
2. Die fortdauernde Abwesenheit eines nach § 247 StPO während einer Zeugenvernehmung entfernten Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen begründet regelmäßig den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO. (BGHSt)
3. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, namentlich angesichts der hohen Bedeutung der Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung, die als Anspruch auf rechtliches Gehör und angemessene Verteidigung in Art. 103 Abs. 1 GG sowie durch Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK garantiert wird, ist der mit einem Ausschluss des Angeklagten zwangsläufig verbundene Eingriff in seine Autonomie auf solche Verfahrenshandlungen zu beschränken, bei denen der jeweilige Schutzzweck den Ausschluss unbedingt erfordert. (Bearbeiter)
4. Die Erstreckung des Ausschlusses des Angeklagten auf die Verhandlung über die Entlassung eines Zeugen ist
mit Rücksicht auf den Normzweck des § 247 Satz 1 und 2 StPO nicht geboten. Ein Ausschluss des Angeklagten von der Entlassungsverhandlung ist weder aus Gründen der Wahrheitserforschung (§ 247 Satz 1 StPO) erforderlich noch zum Schutz des Zeugen (§ 247 Satz 2 StPO) stets unerlässlich. (Bearbeiter)
5. Die Verhandlung über die Entlassung eines in Abwesenheit des Angeklagten vernommenen Zeugen ist grundsätzlich ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung. (Bearbeiter)
6. Ein Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht des Angeklagten bei der Verhandlung über die Entlassung kann mit der Folge geheilt werden, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO entfällt. (Bearbeiter)
7. Eine Heilung der Verletzung des Anwesenheitsrechts liegt darin, dass der Angeklagte bei seiner Unterrichtung mitteilt, keine Fragen mehr an den Zeugen stellen zu wollen, oder er dies auf Befragen erklärt, nachdem die zu frühe Entlassung des Zeugen bemerkt wurde. Wenn der Angeklagte in dieser Situation den Zeugen weiter zu befragen wünscht, so ist eine Heilung durch Ladung des Zeugen und ergänzende Befragung möglich. Bleibt der Fehler unbemerkt oder konnte der Zeuge nicht mehr herbeigeschafft werden, so muss der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO auf eine entsprechende Verfahrensrüge hin durchgreifen. (Bearbeiter)
1. Verwertungsverbot für verdecktes Verhör eines inhaftierten Beschuldigten durch einen als Besucher getarnten nicht offen ermittelnden Polizeibeamten unter Zwangseinwirkung. (BGHSt)
2. Der Senat zweifelt – nicht tragend – daran, ob die repressive Generalklausel aus § 161 Abs. 1, § 163 Abs. 1 Satz 2 StPO hinreichende Ermächtigungsgrundlage für verdeckte Verhöre mit dem Ziel einer Selbstbelastung des Beschuldigten sein kann. (Bearbeiter)
3. Die Aushorchung eines Beschuldigten unter Ausnutzung der besonderen Situation seiner Inhaftierung begründet von vornherein Bedenken gegen die Zulässigkeit einer heimlichen Ermittlungsmaßnahme. (Bearbeiter)
4. Zwar sind Verdeckte Ermittler berechtigt, unter Nutzung einer Legende selbstbelastende Äußerungen eines Beschuldigten entgegenzunehmen und an die Ermittlungsbehörden weiterzuleiten. Sie sind aber nicht befugt, in diesem Rahmen den Beschuldigten zu selbstbelastenden Äußerungen zu drängen oder ihn hierzu gar im Sinne des § 240 StGB zu nötigen. Umso mehr gilt dies für Polizeibeamte, die nicht einmal formell als Verdeckte Ermittler tätig sind. (Bearbeiter)
5. In Fällen von Aussagezwang wird ohne Rechtsgrundlage in den Kernbereich der grundrechtlich und konventionsrechtlich geschützten Selbstbelastungsfreiheit eines Beschuldigten eingegriffen. Der gravierende Rechtsverstoß kann nicht anders als durch Nichtverwertung des hierdurch gewonnenen Beweismittels geheilt werden. (Bearbeiter)
1. Das Beschlusserfordernis in § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO soll angesichts der potentiellen Bedeutung der Verlesung für die Zuverlässigkeit der Beweisgewinnung und Rekonstruktion des Tatgeschehens auch gewährleisten, dass das Gericht durch eine gemeinsame Meinungsbildung sowie in seiner Gesamtheit die Verantwortung dafür trägt, ob ausnahmsweise die Einschränkung der Unmittelbarkeit durch den Verzicht auf den Zeugen hinnehmbar ist oder die Aufklärungspflicht die Vernehmung der Beweisperson gebietet. (BGHR)
2. Das Einverständnis von Staatsanwalt, Verteidiger und Angeklagtem nach § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO ist lediglich Voraussetzung für die Entscheidung gemäß § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO, ersetzt aber nicht die nach dieser Vorschrift einzuhaltenden formellen Voraussetzungen, derer es ansonsten nicht bedürfte. (Bearbeiter)
3. Zwar ist es zutreffend, dass das Beruhen nach der Rechtsprechung entfallen kann, wenn den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung bewusst war und die persönliche Vernehmung des Zeugen zur weiteren Aufklärung nicht hätte beitragen können (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 52; 2001, 261). Ein solcher Ausschluss des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Verletzung des Gesetzes und dem Urteil kann jedoch mit Rücksicht auf Sinn und Zweck des Beschlusserfordernisses nur in Ausnahmefällen angenommen werden. (Bearbeiter)
1. Grundsätzlich sind bei einem auf die Vernehmung eines Zeugen gerichteten Beweisantrag Name und Anschrift des Zeugen zu nennen. Dies ist aber nicht in jedem Fall zwingend erforderlich. Es genügt vielmehr, wenn die zu vernehmende Person derart individualisiert
ist, dass eine Verwechslung mit anderen nicht in Betracht kommt. Die Nennung eines Namens ist in diesem Zusammenhang dann entbehrlich, wenn der Zeuge unter Berücksichtigung des Beweisthemas über seine Tätigkeit insbesondere in einer Behörde zu individualisieren ist (vgl. BGH VRS 25, 426, 427; BayObLG b. Rüth DAR 1980, 269; OLG Köln NStZ-RR 2007, 150).
2. Wird der Sachbearbeiter eines bestimmten Finanzamts in Litauen für im Detail gekennzeichnete steuerrechtlich erhebliche Vorgänge im Geschäftsbetrieb einer bestimmten Firma als Zeuge benannt, genügt dies dem Individualisierungserfordernis.
3. Eine Prognose, der Auslandszeuge werde die Unwahrheit sagen, kann Grundlage der Ablehnung eines Beweisantrags gemäß § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO sein (vgl. BGHSt 40, 60, 62). Der hierfür erforderliche Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 StPO) muss jedoch die für die Ablehnung wesentlichen Gesichtspunkte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten, so doch in ihrem tatsächlichen Kern verdeutlichen. Die Begründung der Ablehnung eines Beweisantrages ist nicht nur gegebenenfalls Grundlage einer revisionsrechtlichen Überprüfung der Ablehnung, sondern sie hat auch die Funktion, den Antragsteller davon zu unterrichten, wie das Gericht den Antrag sieht, damit er sich in seiner Verteidigung auf die Verfahrenslage einstellen kann, die durch die Antragsablehnung entstanden ist (BGHSt 40, 60, 63 m.w.N.). Ein unzulänglich begründeter Beschluss zur Ablehnung eines Beweisantrags nicht anhand der Urteilsgründe ergänzt werden, auch wenn die nachgeschobene Begründung tragfähig ist (st. Rspr.). Anderes könnte möglicherweise gelten, wenn den Urteilsgründen der Sache nach die Beweisbehauptungen zu Grunde gelegt wären.
4. Die Zurückweisung eines Beweisermittlungsantrags begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Revision nur dann, wenn dadurch die Aufklärungspflicht verletzt wurde. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn das Gericht den Antrag (zu Unrecht) für einen Beweisantrag hielt und ihn nach den hierfür geltenden Regeln beschieden hat (BGH StV 1996, 581; BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 23 jew. m.w.N.).
Ergeben sich die tatsächlichen Voraussetzungen eines geltend gemachten Konventionsverstoßes nicht schon aus den Urteilsfeststellungen, muss ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens mit Hilfe einer Verfahrensrüge geltend gemacht werden (vgl. BGH NStZ 2001, 53). Diese Rüge muss den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügen.
Bei einer auf die nur ausschnittsweise Verlesung eines Schriftstücks – bzw. einer nur teilweisen Anhörung eines aufgenommenen Gesprächs – bezogenen Verfahrensrüge bedarf es der genauen Bezeichnung der verlesenen bzw. angehörten Abschnitte in der Sitzungsniederschrift. Die bloße Dokumentation einer „teilweisen“ Verlesung oder Anhörung genügt in aller Regel nicht (vgl. Senatsbeschlüsse vom 17. Juli 2003 – 1 StR 34/03; 25. Oktober 2006 – 1 StR 424/06; 21. November 2006 – 1 StR 477/06).
Gemäß § 260 Abs. 1 StPO hat das Urteil „auf die Beratung“ zu ergehen; diese muss der Urteilsverkündung unmittelbar vorausgehen. Tritt das Gericht nach den Schlussvorträgen und der Beratung wieder in die Verhandlung ein, so muss es vor der Verkündung erneut beraten. Dies gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes grundsätzlich auch dann, wenn wie im vorliegenden Fall der Wiedereintritt in die Verhandlung keinen neuen Prozessstoff ergeben hat (BGHR StPO § 260 Abs. 1 Beratung 2; BGH NStZ-RR 1998, 142; BGH NStZ 2001, 106).
Wird eine weitere Anklage gegen denselben Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung zu einem bereits anhängigen Verfahren mit einer laufenden Hauptverhandlung hinzu verbunden, muss, wenn die Voraussetzungen des § 266 StPO nicht vorliegen, mit der Hauptverhandlung neu begonnen werden (BGHSt 53, 108; vgl. auch Senatsbeschluss vom 28. Mai 2008 – 2 ARs 214/08). Dem Angeklagten darf innerhalb einer laufenden Hauptverhandlung jenseits der Tatidentität des § 264 Abs. 1 StPO und der gesetzlichen Regelung des § 266 StPO eine Anklageerweiterung nicht aufgezwungen werden.