HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2010
11. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

456. BGH 2 StR 397/09 – Beschluss vom 17. März 2010 (LG Darmstadt)

BGHSt; Beeinträchtigungen des Konfrontationsrechts durch andere Vertragsstaaten der EMRK (Recht auf ein faires Strafverfahren; Zurechnung; Verschulden; Garantiegehalt der Menschenrechte; Protokollverlesung; besonders vorsichte Beweiswürdigung); Mord (niedrige Beweggründe; Ehrenmord; Familienehre).

Art. 6 Abs. 3 lit. d, Abs. 1 EMRK; Art. 1 EMRK; § 251 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 StPO

1. Eine allgemeine Zurechnung des Verfahrensgangs in Vertragsstaaten der EMRK unabhängig davon, ob die konkret betroffenen Verfahrenshandlungen dem jeweils nationalen Verfahrensrecht entsprechen oder nicht, ist durch die Konvention nicht geboten. Die Regelungen der EMRK schaffen kein einheitliches Verfahrensrecht der Vertragsstaaten im Einzelnen mit einer unbeschränkten Zurechnung unabhängig von den nationalen Verfahrensrechtsordnungen. (BGHSt)

2. Der Beschuldigte hat als besondere Ausformung des Grundsatzes der Verfahrensfairness ein Recht, Belastungszeugen unmittelbar zu befragen oder befragen zu lassen; wenn ein Zeuge nur außerhalb der Hauptverhandlung vernommen worden ist, muss dem Beschuldigten dieses Recht zur konfrontativen Befragung entweder bei der Vernehmung oder zu einem späteren Zeitpunkt eingeräumt werden (BVerfG NJW 2010, 925 f.; BGHSt 51, 150, 154). (Bearbeiter)

3. Eine Nichtgewährung des Befragungsrechts führt aber nicht ohne weiteres zur Unverwertbarkeit der belastenden Aussage; vielmehr kommt es darauf an, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und -würdigung den Geboten der Verfahrensfairness genügt (BVerfG NJW 2010, 925, 926; BGHSt 46, 93, 95). Hierbei ist es von erheblicher Bedeutung, ob der Umstand, dass der Angeklagte keine Möglichkeit zur konfrontativen Befragung hatte und dies auch nicht durch kompensierende Maßnahmen (z.B. Videovernehmung; Anwesenheit zumindest des Verteidigers bei der Zeugenbefragung) ausgeglichen wurde, der Justiz zuzurechnen ist oder auf Gründen außerhalb des Einfluss- und Zurechnungsbereichs der Strafverfolgungsbehörden beruht (BGHSt 51, 150, 155). (Bearbeiter)

4. Im ersteren Fall folgt aus der Zurechenbarkeit des Verstoßes gegen den Fairnessgrundsatz zwar kein grundsätzliches Verwertungsverbot; jedoch sind an die Beweiswürdigung in diesem Fall besonders hohe Anforderungen zu stellen. Dies schließt es regelmäßig aus, die Verurteilung des Angeklagten allein auf die Aussage der betreffenden Belastungszeugen zu stützen; diese kann vielmehr nur dann Grundlage einer Verurteilung sein, wenn sie durch andere, gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt wird (BGHSt 46, 93, 106; 51, 150, 155 f.; BGH NStZ 2005, 224, 225; NStZ-RR 2005, 321). Nicht erforderlich ist, dass diese weiteren Beweisergebnisse schon für sich allein die Verurteilung tragen und die betreffende Zeugenaussage daher nur noch „bestätigenden“ Charakter hat (BVerfG NJW 2010, 925, 926 [Rdn. 20]). (Bearbeiter)

5. Eine allgemeine Zurechnung des Verfahrensgangs in Mitgliedsstaaten der EMRK unabhängig davon, ob die konkret betroffenen Verfahrenshandlungen dem jeweils nationalen Verfahrensrecht entsprechen oder nicht, ist durch die Konvention nicht geboten. (Bearbeiter)


Entscheidung

457. BGH 4 StR 606/09 – Beschluss vom 9. März 2010 (LG Schwerin)

BGHSt; erforderlicher Zwischenrechtsbehelf für die Geltendmachung der Verletzung eines Zeugnisverweigerungsrechts (Verlöbnis; Heirat; Verfahrensrüge).

§ 52 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StPO; § 238 Abs. 2 StPO; § 252 StPO

1. Die in die Hauptverhandlung eingeführte Bewertung des Vorsitzenden einer Strafkammer, eine Zeugin sei nicht mit dem Angeklagten verlobt, kann vom Angeklagten nur dann zur Grundlage einer Verfahrensrüge gemacht werden, wenn er eine Entscheidung des Gerichts gemäß § 238 Abs. 2 StPO herbeigeführt hat. (BGHSt)

2. Zweck des § 238 Abs. 2 StPO ist es, die Gesamtverantwortung des Spruchkörpers für die Rechtsförmigkeit der Verhandlung zu aktivieren, hierdurch die Möglichkeit zu eröffnen, Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn es im unbeschränkten Belieben des um die Möglichkeit des § 238 Abs. 2 StPO wissenden Verfahrensbeteiligten stünde, ob er eine für unzulässig erachtete verhandlungsleitende Maßnahme des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 2 StPO zu beseitigen sucht oder stattdessen hierauf im Falle eines ihm nachteiligen Urteils in der Revision eine Verfahrensrüge stützen will. Er hat daher grundsätzlich auf Entscheidung des Gerichts anzutragen; unterlässt er dies, kann er in der Revisionsinstanz mit einer entsprechenden Rüge nicht mehr gehört werden (BGH, Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, BGHSt 51, 144, 147; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsprechung: BVerfG, Beschluss vom 10. Januar 2007 – 2 BvR 2557/06). (Bearbeiter)

3. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Anordnung des Vorsitzenden eine strafprozessuale Regelung zu Grunde

liegt, die ihm für die Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen einen Beurteilungsspielraum eröffnet oder ihm auf der Rechtsfolgenseite Ermessen einräumt, und die Revisionsrüge auf eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums oder einen Ermessensfehlgebrauch gestützt werden soll (BGH aaO). Umso mehr ist eine Beanstandung nach § 238 Abs. 2 StPO geboten, wenn das Revisionsgericht an solche tatrichterlichen Feststellungen gebunden ist, wie dies die Rechtsprechung bezüglich der Voraussetzungen eines Verlöbnisses annimmt (vgl. die Nachweise bei BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 300 [dort offen gelassen]). (Bearbeiter)

4. Gerade wenn dem Revisionsgericht eine Richtigkeitsprüfung infolge einer Bindung an die Feststellungen des Tatrichters verwehrt ist, besteht für den späteren Revisionsführer Anlass, sich mit der Maßnahme des Vorsitzenden nicht zu begnügen, sondern diese und ihre im Nachhinein selbst im Freibeweisverfahren kaum rekonstruierbare Tatsachengrundlage zunächst zur Überprüfung durch das gesamte Tatgericht zu stellen. Unterlässt er diese Anrufung des Gerichts, so gibt er damit zu erkennen, dass er die Grenzen des Beurteilungsspielraums des Vorsitzenden nicht als überschritten und die Anordnung nicht als rechtswidrig ansieht. (Bearbeiter)

5. Da das Verlöbnis ein allein vom Willen der Betroffenen abhängiges, an keine Form gebundenes Rechtsverhältnis ist, dessen Auflösung sogar dann in Betracht kommt, wenn einer der Beteiligten einseitig den Heiratswillen aufgibt (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 – 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 300 f.), unterliegt die „Feststellung“, ob ein Verlöbnis vorliegt, als Maßnahme der Verhandlungsleitung der wertenden Beurteilung des Vorsitzenden nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalls. Sie ist deshalb nach § 238 Abs. 2 StPO angreifbar. (Bearbeiter)


Entscheidung

443. BGH 4 StR 619/09 – Beschluss vom 2. März 2010 (LG Saarbrücken)

Verlesung der Niederschriften über polizeiliche Vernehmungen bei Berufung des Zeugen auf § 55 StPO; (tatsächliche Unmöglichkeit der Vernehmung).

§ 55 StPO; § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO

1. Die Vernehmung eines Zeugen, der sich vorab auf ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen hat, darf nicht durch die Verlesung einer von ihm stammenden früheren schriftlichen Erklärung nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO ersetzt werden (BGHSt 51, 325; offen gelassen in der Senatsentscheidung BGHSt 51, 280).

2. Diese Rechtsprechung gilt nicht, wenn ein Zeuge sich im Ausland befindet und neben dem beabsichtigten Gebrauch des § 55 StPO erklärt, er habe Angst um sein Leben und nicht die Absicht, in absehbarer Zeit nach Deutschland zu kommen. Die Niederschriften eines solchen Zeugen über seine polizeilichen Vernehmungen dürfen daher gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesen werden.

Entscheidung

446. BGH 1 StR 64/10 – Beschluss vom 14. April 2010 (LG Hechingen)

BGHSt; wirksame Revisionsrücknahme nach Verständigung (unwirksamer Rechtsmittelverzicht und Umgehung durch abgesprochene Revisionsrücknahmen); Recht auf ein faires Verfahren (Subjektstellung).

Art. 6 EMRK; § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO; § 257c StPO

1. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c StPO) vorausgegangen, so kann eine Zurücknahme des Rechtsmittels grundsätzlich auch noch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. (BGHSt)

2. Dies gilt auch dann, wenn Revisionseinlegung und Revisionsrücknahme binnen einer Stunde erfolgen, um die Rechtskraft des Urteils gezielt herbeizuführen. (Bearbeiter)

3. Anders wäre der Fall wohl zu beurteilen, wenn ein Gericht im Zusammenhang mit Verständigungsgesprächen auf den Angeklagten einwirkt, Rechtsmittel allein deshalb einzulegen, um sodann durch Zurücknahme des Rechtsmittels die Rechtskraft herbeizuführen oder wenn eine solche Vorgehensweise gar Inhalt einer Verständigung wäre. Dann läge eine Umgehung des § 302 Abs. 1 Satz 2 StPO nahe mit der Folge der Unwirksamkeit einer solchen Rechtsmittelrücknahme. (Bearbeiter)


Entscheidung

394. BGH 4 StR 620/09 – Beschluss vom 2. Februar 2010 (LG Essen)

Verbotene Vernehmungsmethoden (unzulässiger Druck zu einem Geständnis in der Hauptverhandlung; Darlegungsanforderungen: nähere Umstände des Verständigungsgesprächs, Widerspruchsobliegenheit, Missachtung der Protokollierungspflicht).

§ 136a StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 273 Abs. 1a StPO; § 243 Abs. 4 StPO

Zwar kann grundsätzlich auch bei einem der Verständigung entsprechenden Urteil gerügt werden, der Angeklagte sei mit unzulässigem Druck dazu veranlasst worden, der Verständigung zuzustimmen und ein Geständnis abzulegen. Doch ist es jedenfalls dem verteidigten Angeklagten im Regelfall zuzumuten, Inhalten der Verständigung, die er für unzulässig hält, sogleich zu widersprechen und gegebenenfalls – schon im Interesse späterer Überprüfbarkeit – auf ihre Protokollierung hinzuwirken oder solche Umstände zum Gegenstand eines Ablehnungsgesuchs zu machen (vgl. BGH, Beschl. vom 28. Oktober 2008 – 3 StR 431/08, StV 2009, 171 (nur LS)).


Entscheidung

370. KG 2 Ws 511/09 Vollz – Beschluss vom 14. Januar 2010 (LG Berlin)

Akteneinsicht im Strafvollzug; Informationsrecht; Aktenauskunft (rechtliches Interesse); Gefangenenpersonalakten; Gesundheitsakten (objektivierbare Befunde und Behandlungsergebnisse); redaktioneller Hinweis.

§ 185 StVollzG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art 2 Abs. 1 GG; § 19 BDSG

1. Strafgefangene haben nach § 185 StVollzG in Verbindung mit § 19 BDSG in erster Linie Anspruch auf Auskunft aus den sie betreffenden Akten. Akteneinsicht steht ihnen nur zu, soweit eine Auskunft für die Wahr-

nehmung ihrer rechtlichen Interessen nicht ausreicht und sie hierfür auf die unmittelbare Einsichtnahme angewiesen sind.

2. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung genügt als solches nicht, um ein rechtliches Interesse auf Akteneinsicht in diesem Sinne zu begründen.


Entscheidung

398. BGH 4 StR 660/09 – Beschluss vom 9. Februar 2010 (LG Halle)

Beweiswürdigung (Inbegriff der Hauptverhandlung; Vorhalt und Verlesung einer Vernehmungsniederschrift).

§ 261 StPO; § 252 StPO

Zwar ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, einen Richter als Zeugen über die von der das Zeugnis in der Hauptverhandlung verweigernden Person gemachten Aussagen zu vernehmen, sofern er an einer richterlichen Vernehmung dieser Beweisperson beteiligt war. Auch dürfen dem Richter, der die Vernehmung durchgeführt hat, die Vernehmungsprotokolle – notfalls durch Vorlesen – als Vernehmungsbehelf vorgehalten werden (vgl. BGH NJW 2000, 1580). Grundlage der Feststellung des Sachverhalts kann jedoch nur das in der Hauptverhandlung erstattete Zeugnis des Richters über den Inhalt der früheren Aussage des jetzt die Aussage verweigernden Zeugen sein, nicht aber der Inhalt der Vernehmungsniederschrift selbst. Deshalb genügt nicht, wenn der Richter lediglich erklärt, er habe die Aussage richtig aufgenommen; verwertbar ist nur das, was – ggf. auf den Vorhalt hin – in die Erinnerung des Richters zurückkehrt (BGH StV 2001, 386).


Entscheidung

458. BGH 4 StR 572/09 – Beschluss vom 16. März 2010 (LG Essen)

Wirksame Rücknahme der Revision durch den Pflichtverteidiger (Falschberatung durch den Pflichtverteidiger; erforderliche Ermächtigung; Unanfechtbarkeit).

§ 302 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StPO

1. Die Revisionsrücknahme ist ebenso wie der Rechtsmittelverzicht generell unwiderruflich und unanfechtbar (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 46, 257, 258; BGHR StPO § 302 Abs. 1 Rücknahme 6). Nur in eng begrenztem Umfang erkennt die Rechtsprechung Ausnahmen an (vgl. dazu BGHSt 45, 51, 53 m.w.N.). Ein solcher Ausnahmefall ist schon deshalb nicht gegeben, wenn die unrichtige Auskunft, durch die der Angeklagte zu seiner Erklärung veranlasst worden sein soll, nicht durch das Gericht (vgl. hierzu BGHSt 46, 257 f.), sondern durch den Pflichtverteidiger erteilt wurde.

2. Ein bloßer Irrtum über die Auswirkungen eines Urteils oder sonstige enttäuschte Erwartungen sind insoweit unbeachtlich (Senatsbeschluss vom 13. Mai 2003 – 4 StR 135/03 m.w.N.).


Entscheidung

453. BGH 4 StR 640/09 – Beschluss vom 9. März 2010 (LG Bochum)

Verkannte Bindungswirkung eines früheren Urteils (übernommene Feststellungen; Urkundsbeweis).

§ 358 StPO; § 249 Abs. 1 StPO

Feststellungen rechtskräftiger Urteile zu früheren Tatgeschehen einschließlich der Beweistatsachen, die in einem späteren Verfahren von Bedeutung sein können, binden den neu entscheidenden Tatrichter nicht (BGHSt 43, 106, 107 f.; BGH NStZ 2008, 685). Feststellungen aus früheren rechtskräftigen Strafurteilen können aber gegebenenfalls im Wege des Urkundenbeweises gemäß § 249 Abs. 1 StPO in die neue Hauptverhandlung eingeführt und verwertet werden; der neue Tatrichter darf sie jedoch nicht ungeprüft übernehmen (BGH aaO).


Entscheidung

413. BGH 2 StR 27/10 – Beschluss vom 17. März 2010 (LG Köln)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Zurechnung des Verschuldens von Prozessbevollmächtigten und des Kanzleipersonals beim Nebenkläger; nötige Darlegung der unverschuldeten Säumnis).

§ 44 StPO

1. Das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten ist dem Nebenkläger nach dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen. Für die Frage, inwieweit der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt für Verschulden seines Kanzleipersonals haftet, kommt es darauf an, ob dieses sorgfältig ausgewählt und überwacht wird und ob eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche Büroorganisation vorhanden ist.

2. Es bleibt offen, ob in der Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten, wonach die am Wochenende eingehende Post zusammen mit der am Montag eingehenden Post bearbeitet wird, überhaupt eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche Büroorganisation zu sehen ist. Eine Handhabung dergestalt, dass die Wochenendpost dem Briefkasten entnommen und bearbeitet wird, bevor die Montagspost eingeht, ist geeignet, Fehler beim Posteingang und damit der Fristberechnung von vornherein zu vermeiden.

3. Die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfordert grundsätzlich eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung aller zwischen dem Beginn und Ende der versäumten Frist liegenden Umstände, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen Verschulden es zur Versäumung gekommen ist (BGHR StPO § 45 Abs. 2 Tatsachenvortrag 1). Zu dem erforderlichen Tatsachenvortrag gehört damit, dass der Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt, der ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden ausschließt (BGHR a.a.O. Tatsachenvortrag 5).


Entscheidung

414. BGH 2 StR 31/10 – Beschluss vom 31. März 2010 (LG Hanau)

Wirksamer Rechtsmittelverzicht; Verständigung; Protokollierung als wesentliche Förmlichkeit; negative Beweiskraft des Protokolls; unzulässiger Wiedereinsetzungsantrag; Reichweite der Verwerfungsbefugnis des Tatgerichts.

§ 257c StPO; § 302 Abs. 1 StPO; § 44 StPO; § 273 Abs. 1a StPO

1. Der nach § 273 Abs. 1a Satz 3 StPO zwingend vorgeschriebene Vermerk, dass eine Verständigung (nach

§ 257c StPO) nicht stattgefunden hat, gehört zu den wesentlichen Förmlichkeiten im Sinne des § 274 Satz 1 StPO.

2. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 274 Satz 2 StPO).

3. Ist die Revision bereits wegen eines Rechtsmittelverzichts unzulässig, ist kein Raum für eine Entscheidung des Tatrichters, denn dessen Verwerfungskompetenz ist gemäß § 346 Abs. 1 StPO auf Fälle beschränkt, in denen die Unzulässigkeit ausschließlich daraus folgt, dass die Revision verspätet eingelegt ist oder die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht in der in § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebenen Form angebracht worden sind; dies gilt wegen der vorrangig zu prüfenden Frage, ob der Rechtsmittelverzicht wirksam ist, auch dann, wenn der Verzicht mit einem solchen Form- oder Fristmangel zusammentrifft.


Entscheidung

354. BGH 3 StR 559/09 – Urteil vom 4. März 2010 (LG Oldenburg)

„Betäubungsmittelbande“; Bande (Beweiswürdigung; Überzeugungsbildung; überspannte Anforderungen); prozessualer Tatbegriff (Identität, Nämlichkeit, individuelle Merkmale des Tatgeschehens); Aufklärungspflicht (Vernehmung eines ausländischen Polizeibeamten); Verfall (Bruttoprinzip).

§ 30a BtMG; § 264 StPO; § 261 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 73 StGB

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.

2. Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild des Geschehens, das die Anklage umschreibt, so kommt es darauf an, ob die „Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichungen noch gewahrt ist. Dies ist ungeachtet gewisser Unterschiede dann der Fall, wenn bestimmte individuelle Merkmale die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen kennzeichnen.


Entscheidung

340. BGH 3 StR 30/10 – Beschluss vom 1. April 2010 (LG Düsseldorf)

Urteilsabsetzungsfrist (fehlende Unterschrift); absoluter Revisionsgrund.

§ 338 Nr. 7 StPO; § 275 Abs. 2 StPO

1. Ein vollständiges schriftliches Urteil liegt erst dann vor, wenn sämtliche an ihm beteiligten Berufsrichter seinen Inhalt gebilligt und dies mit ihrer Unterschrift bestätigt haben.

2. Das in § 275 Abs. 2 Satz 1 StPO formulierte Gebot, dass das Urteil von den mitwirkenden Berufsrichtern zu unterschreiben ist, lässt es nicht zu, dass die den Urteilstext abschließende Unterschrift als durch eine an anderer Stelle der Akte befindliche Unterschrift des mitwirkenden Richters – und sei es auch auf der Verfügung zur Zustellung des nämlichen Urteils – ersetzbar angesehen wird.