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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2010
11. Jahrgang
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1. Für die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung nach Jugendstrafrecht sind nicht ausnahmslos und stets erhebliche „neue“ Tatsachen erforderlich. Vielmehr ist die Neuregelung des § 7 Abs. 2 JGG auch dann anwendbar, wenn die wesentlichen die Gefährlichkeit begründenden Tatsachen bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung erkennbar waren und im Vollzug der
Jugendstrafe keine erheblichen „neuen“ Tatsachen hervorgetreten sind. Auch ein Hang ist nicht gesondert festzustellen. Gleichwohl muss die spezifische Gefährlichkeit des Verurteilten im Hinblick auf die Begehung von Anlasstaten in seiner Persönlichkeit angelegt sein. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bei jungen Straftätern nach § 7 Abs. 2 JGG ist auf einzelne höchstgefährliche Straftäter zu begrenzen. Allerdings kann ein Hang zu erheblichen Straftaten eine Indiztatsache für das Vorliegen der spezifischen Gefährlichkeit zu Anlasstaten i.S.d. § 7 Abs. 2 JGG darstellen.
2. Die Vorschrift des § 7 Abs. 2 JGG steht im Einklang mit der Verfassung. Sie verstößt weder gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG noch gegen das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) des Art. 103 Abs. 3 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, dass die Anwendungsbereiche des Art. 103 Abs. 2 und 3 GG auf staatliche Maßnahmen beschränkt sind, die eine repressive, dem Schuldausgleich dienende Strafe darstellen. Demgegenüber fällt die Maßregel der Sicherungsverwahrung als präventive, der Verhinderung zukünftiger Straftaten dienende Maßnahme – ungeachtet ihrer strafähnlichen Ausgestaltung – nicht in den Anwendungsbereich dieser Verbote. Denn ihr Zweck besteht nicht darin, begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen (vgl. BVerfG NJW 2009, 980, 981; ebenso BGHSt 52, 205, 209 f.; 50, 284, 295 jew. m.w.N.). Auch ein Verstoß gegen das rechtsstaatliche und grundrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes, Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG liegt nicht vor.
3. Ein Verstoß gegen Art. 5 EMRK und Art. 7 EMRK liegt im Fall des § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG nicht vor.
4. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung steht die Europäische Menschenrechtskonvention im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention beeinflussen die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Ihr Text und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer – von der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfG, Beschl. vom 4. Februar 2010 – 2 BvR 2307/06 m.w.N.).
5. In der vorliegenden Konstellation hat die Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK i.V.m. Art. 1 EMRK Vorrang vor dem Freiheitsrecht des Verurteilten aus Art. 5 EMRK.
6. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich die besondere Gefährlichkeit des Verurteilten in einem psychischen Zustand im Zusammenspiel mit äußeren Stressfaktoren gründet, geboten ist, ist rechtzeitig dafür Sorge zu tragen, dass dem Verurteilten im Falle seiner Entlassung ein gesicherter sozialer Empfangsraum zur Verfügung steht, um das Rückfallrisiko des in Freiheit entlassenen Verurteilten zu mindern. Zudem sollte frühzeitig mit einer geeigneten Therapie begonnen werden.
1. Schutzzweck der §§ 176, 176 a StGB ist die ungestörte Entwicklung von Kindern (BGHSt 45, 131, 132). Mit sexuellem Missbrauch ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender psychischer Schäden verbunden. Hinsichtlich künftiger Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu prognostizieren, ist nahezu ausgeschlossen, weshalb auch die allgemeine und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten Grundlage von Sicherungsverwahrung sein kann (BGH NJW 2000, 3015). Die hier zu beurteilenden Missbrauchsfälle sind daher grundsätzlich als erheblich i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB einzustufen, was nicht zuletzt die Einordnung des schweren sexuellen Missbrauchs als Verbrechen mit einem Strafrahmen von Freiheitsstrafe von ein bis fünfzehn Jahren verdeutlicht.
2. Dass der Angeklagte darüber hinaus keine körperliche Gewalt gegen seine Opfer angewandt hat, beseitigt nicht die Erheblichkeit seines Tuns, sondern führt lediglich dazu, dass er nicht auch noch der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) schuldig ist, kommt ihm aber nicht bei der Prüfung von § 66 StGB zugute (BGH NStZ 2007, 464, 465).
1. Drohen anwaltsrechtliche Sanktionen gemäß § 114 Abs. 1 BRAO, müssen die Strafzumessungserwägungen erkennen lassen, dass es diese bei der Festsetzung der Einzelstrafen und der Gesamtstrafe berücksichtigt hat. Die Nebenwirkungen einer strafrechtlichen Verurteilung auf das Leben des Täters sind jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn dieser durch sie seine berufliche oder wirtschaftliche Basis verliert (vgl. BGH, Beschl. vom 27. August 1987 – 1 StR 412/87, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 8).
2. Eine Anrechnung von vier Monaten der erkannten Strafe für eine im Zwischenverfahren eingetretene Verzögerung von sechs Monaten ist überzogen. Zwar lassen sich allgemeingültige Kriterien für die Bemessung der Kompensation nicht aufstellen; entscheidend sind stets die Umstände des Einzelfalls, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Verfahrensdauer als solche und die damit verbundenen Belastungen des Angeklagten bereits straf-
mildernd in die Strafzumessung eingeflossen sind. Die Anrechnung hat sich aber im Regelfall auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken (vgl. BGHSt 52, 124, 146 f.; BGH, Urt. vom 9. Oktober 2008 – 1 StR 238/08; Beschl. vom 11. März 2008 – 3 StR 54/08; Senatsbeschl. vom 24. November 2009 – 4 StR 245/09).
Die Unterbringung nach § 64 StGB geht der dem Vollstreckungsverfahren vorbehaltenen Maßnahme gemäß § 35 BtMG vor; von der Anordnung der Unterbringung darf daher nicht abgesehen werden, weil eine Entscheidung nach § 35 BtMG ins Auge gefasst ist (vgl. Senat, Beschl. v. 24. Juni 2009 – 2 StR 170/09; BGH StV 2008, 405, 406). Hieran hat sich durch die Neufassung des § 64 StGB durch das Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16. Juli 2007 (BGBl. I S. 1327) grundsätzlich nichts geändert, auch wenn die Maßregel nach der Neufassung der Vorschrift nicht mehr zwingend anzuordnen.
Bei Aufhebung einer Gesamtstrafe durch das Revisionsgericht und Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht ist in der neuen Verhandlung die Gesamtstrafenbildung nach Maßgabe der Vollstreckungssituation zum Zeitpunkt der ersten tatrichterlichen Verhandlung vorzunehmen. Dem Beschwerdeführer darf ein früher erlangter Rechtsvorteil nicht durch sein Rechtsmittel genommen werden.
Bei der Prüfung gemäß § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte keine Krankheitseinsicht zeigt und sich weigert, die Medikamente einzunehmen, die eine „schnelle Linderung der krankheitsbedingten Symptome“ herbeiführen würden. Jedoch ist auch zu erörtern müssen, ob die vom Angeklagten ausgehende Gefahr insbesondere durch die Begründung eines Betreuungsverhältnisses nach §§ 1896 ff. BGB und/oder durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht (§§ 67b Abs. 2, 68b StGB) abwenden oder jedenfalls so stark abschwächen lässt, dass ein Verzicht auf den Vollzug der Maßregel gewagt werden kann. Denn die damit verbundenen Überwachungsmöglichkeiten und das dem Beschuldigten zu verdeutlichende Risiko, bei Nichterfüllung solcher Weisungen mit dem Vollzug der Unterbringung rechnen zu müssen, können geeignet sein, die vom Sachverständigen und der Strafkammer angeführten Voraussetzungen einer erfolgversprechenden ambulanten Therapie herbeizuführen. Hierzu besteht jedenfalls dann Anlass, wenn sich der Angeklagte trotz seines Zustandes bis zur Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat straffrei geführt hat und auch danach ohne weitere relevante Auffälligkeiten zunächst auf freiem Fuß verblieben ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2009 – 4 StR 148/09 m.w.N.).
Eine Kürzung der Dauer des angeordneten Vorwegvollzugs um die Dauer der bisher erlittenen Untersuchungshaft ist nicht zulässig (BGH, Beschluss vom 25. Februar 2009 – 5 StR 22/09).
1. Jede Erhöhung einer Freiheitsstrafe ist selbst bei parallelem Wegfall einer Geldstrafe als das schwerere Übel anzusehen; eine solche Erhöhung kann daher einen Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot begründen.
2. Ist der Richter bei der nachträglichen Bildung der Gesamtstrafe gemäß § 55 StGB aus diesem Grund gehindert, eine schwerere Rechtsfolge zu verhängen, so bietet es sich an, von der Möglichkeit des § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB Gebrauch zu machen, die Geldstrafe also gesondert aufrecht zu erhalten.
Die vom Angeklagten insgesamt erlittene Untersuchungshaft ist im Rahmen der Strafvollstreckung auf die Dauer des vor der Unterbringung zu vollziehenden Teils der Strafe anzurechnen. Daher darf ihre Dauer bei der Bestimmung der vor Maßregeln zu vollziehenden Teile einer Freiheitsstrafe nicht (nochmals) berücksichtigt werden.