HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2009
10. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

217. EGMR Nr. 26073/03 – Urteil vom 13. November 2008 (Ommer vs. Deutschland Nr. 2)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (überlange Verfahrensdauer; Kriterien der Angemessenheit; Beginn der Frist); Recht auf Beschwerde; Individualbeschwerde (Verlust der Opfereigenschaft durch Abhilfe in Form innerstaatlicher Rechtsbehelfe; mangelnde Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges; Antrag auf Entschädigung nach dem StrEG); Amtshaftungsansprüche; redaktioneller Hinweis.

Art.  6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; Art.  13 EMRK: Art.  34 EMRK; Art.  35 EMRK; Art.  2 Abs. 1, Abs. 2 GG; Art.  20 Abs. 3 GG; Art.  34 GG; § 839 BGB; § 2 StrEG; § 7 StrEG

1. Die einer Prozesspartei auf der innerstaatlichen Ebene zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe gegen die überlange Verfahrensdauer sind dann im Sinne von Artikel 13 „wirksam“, wenn sie die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindern oder bezüglich einer bereits geschehenen Rechtsverletzung angemessene Abhilfe schaffen. Ein Rechtsbehelf ist daher wirksam, wenn er entweder eine schnellere Entscheidung durch die mit dem Fall befassten Gerichte erwirken oder der Prozesspartei eine angemessene Abhilfe für bereits eingetretene Verzögerungen verschaffen kann.

2. Anders als bei zivilrechtlichen Verfahren kann das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerde prinzipiell Abhilfe für die unangemessene Dauer strafrechtlicher Verfahren schaffen, indem es die Staatsanwaltschaft oder die für die Strafverfahren zuständigen Gerichte anweist, die notwendigen Schlüsse aus einer unangemessenen Verfahrensverzögerung zu ziehen. Dies gilt aber nicht, wenn die betroffene Person keiner Straftat schuldig gesprochen wird oder das Verfahren

schon aufgrund der Annahme eingestellt wird, dass die betroffene Person voraussichtlich von den Strafgerichten nicht wegen einer Straftat schuldig gesprochen werden könnte.

3. Kann der Beschwerdeführer, der Abhilfe für eine Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung sucht, durch die Stellung eines Entschädigungsantrags nach §§ 2 und 7 Abs. 1 StrEG nur einen Ersatz für die materiellen Schäden erlangen, die infolge der Durchsuchungen seiner Wohnräume und der Beschlagnahme seines Eigentums entstanden sind, liegt in der Nichtwahrnahme dieses Rechtsbehelfs keine Nichtausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs.

4. Das Amtshaftungsverfahren gegen den Staat kann nicht als ein Rechtsbehelf angesehen werden kann, mit dem eine angemessene Wiedergutmachung für die lange Dauer von Strafverfahren erlangt werden kann. Insbesondere könnten die innerstaatlichen Gerichte eine Entschädigung für immateriellen Schaden nicht zusprechen, obwohl Beschwerdeführer auch in Strafverfahren vor allem einen Schaden dieser Art erleiden. Dies gilt jedenfalls solange, als die innerstaatlichen Gerichte nicht die Auffassung vertreten, dass die überlange Verfahrensdauer die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen verletzt, und daher bereit gewesen wären, für den durch die überlange Verfahrensdauer entstandenen immateriellen Schaden Entschädigung zu gewähren.

5. Die „angemessene Frist“ nach Artikel 6 Absatz 1 in Strafsachen beginnt dann zu laufen, wenn eine Person förmlich beschuldigt wird oder durch Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden infolge eines gegen sie bestehenden Verdachts ernsthaft betroffen ist.

6.  In jedem Fall ist es für den Verlust der Opfereigenschaft eines Beschwerdeführers nach einer Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung erforderlich, dass die Verletzung dieses Rechts staatlicherseits anerkannt worden ist und dass ihm für die Verletzung seines Konventionsrechts auf der innerstaatlichen Ebene angemessene Wiedergutmachung geleistet wurde.


Entscheidung

218. BVerfG 1 BvR 519/08 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 9. Juli 2008 (LG Dresden

Beschlagnahme sämtlicher Exemplare einer Jugendzeitschrift; Meinungsfreiheit (Presseveröffentlichung); böswillige Verächtlichmachung des Staates (Abgrenzung zur Systemkritik); Beleidigung (Bezeichnung des Oberstaatsanwalts als „Systemling“); Kunstfreiheit (Karikatur); Besorgnis der Befangenheit.

Art.  5 Abs. 1 S. 1 GG; Art.  5 Abs. 3 GG; § 111b Abs. 1 StPO; § 74d Abs. 1 StGB; § 90a Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 130 StGB; § 185 StGB; § 193 StGB; § 24 StPO

1. Es besteht kein Anlass, die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Deutung von Meinungsäußerungen und Kunstwerken sowie an die Auslegung und Anwendung von Normen, die die Grundrechte aus Art.  5 Abs. 1 Satz 1 und Art.  5 Abs. 3 GG einschränken können, deshalb zurückzunehmen, weil es sich bei der Beschlagnahme um eine nur vorläufige Maßnahme handelt, die auf einer gleichfalls nur vorläufigen Beurteilung der Rechtslage beruht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Gegenstand der verfassungsrechtlichen Überprüfung allein die strafrechtliche Würdigung eines feststehenden Sachverhalts ist, an die für die umstrittene Beschlagnahme keine geringeren Anforderungen zu stellen sind als an eine strafrechtliche Verurteilung.

2. Die Meinungsfreiheit erfordert auf den Stufen der Normauslegung und Normanwendung eine Abwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt werden soll (vgl. BVerfGE 93, 266, 292 ff.). Zudem ergeben sich aus Art.  5 Abs. 1 Satz 1 GG Anforderungen an die Deutung umstrittener Äußerungen. Der Äußernde darf in der Freiheit seiner Meinungsäußerung nicht aufgrund von Meinungen eingeengt werden, die er zwar hegen oder bei anderer Gelegenheit geäußert haben mag, aber im konkreten Fall nicht kundgegeben hat (vgl. BVerfGE 82, 43, 52 f.).

3. Bei der Auslegung und Anwendung des § 90a StGB als einer Staatsschutznorm ist besonders sorgfältig zwischen einer - wie verfehlt auch immer erscheinenden - Polemik und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung zu unterscheiden, weil Art.  5 Abs. 1 Satz 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet (vgl. BVerfGE 93, 266, 293). Die Verfassung verbietet eine Auslegung des § 90a StGB, derzufolge bereits eine scharfe Kritik am Staat und eine Propaganda für - sei es auch verfassungsfeindliche - politische Programme unter Strafe gestellt wird. Erst wenn diese Kritik über die Propagierung bestimmter politischer Ziele hinaus den Staat beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verunglimpft, kann die Grenze zur Strafbarkeit überschritten sein (vgl. BVerfGE 47, 198, 231 ff.). Dementsprechend kann in der bloßen Aufforderung zu einer - gewaltfreien - Beseitigung der bestehenden staatlichen Ordnung und zu deren Ersetzung durch ein anderes politisches System noch kein tatbestandsmäßiges Verhalten im Sinne des § 90a StGB gesehen werden

4. § 90a StGB schützt nicht die Persönlichkeitsrechte von Angehörigen staatlicher Organe, sondern verbietet eine Beschimpfung des Staates und seiner Ordnung selbst. Eine Äußerung, die sich ausdrücklich nur auf staatliche Funktionsträger bezieht, kann allenfalls in Ausnahmefällen als Angriff auf die bestehende staatliche Ordnung angesehen werden, da eine solche Deutung das verfassungsrechtlich besonders gewichtige Interesse an einer Meinungsäußerung einzuschränken droht, die die Ausübung politischer Macht kritisiert.

5. Kommt es zu einem Konflikt zwischen der Kunstfreiheit und dem durch § 185 StGB strafrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht, so erfordert die Kunstfreiheit eine Interpretation des betroffenen Kunstwerks, die den spezifischen Wirkungsbedingungen von Kunst Rechnung trägt. Insbesondere bei Kunstwerken mit satirischem und karikierendem Gehalt erfordert die rechtliche Beurteilung eine Ermittlung des Aussagekerns des Kunstwerks, damit sodann der Aussagekern und seine Einkleidung gesondert daraufhin überprüft werden können, ob sie eine Kundga-

be der Missachtung gegenüber der karikierten Person enthalten (vgl. BVerfGE 75, 369, 377 f.).

6. Der bloße Umstand, dass ein Spruchkörper eine rechts- oder auch verfassungswidrige Entscheidung getroffen haben mag, begründet noch nicht zwingend oder auch nur regelmäßig Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Mitglieder dieses Spruchkörpers.


Entscheidung

220. BVerfG 2 BvR 1043/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. Dezember 2008 (LG Berlin)

Informationelle Selbstbestimmung; Gewährung von Akteneinsicht an mutmaßlich Verletzte im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Geschädigter als Verletzter; strafbare Marktmanipulation nach WpHG; Abwägung; Umfang der Einsicht).

Art.  2 Abs. 1 GG; Art.  1 Abs. 1 GG; § 406e StPO; § 403 StPO; § 38 Abs. 2 WpHG; § 39 Abs. 1 Nr. 2 WpHG; § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpHG; § 826 BGB

1. Die Gewährung von Akteneinsicht in strafrechtliche Ermittlungsakten stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die Auslegung und Anwendung des § 406e StPO hat sich daher an Art.  2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.  1 Abs. 1 GG zu orientieren.

2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn auch der Geschädigte als Verletzter im Sinne von § 406e StPO eingeordnet wird, der aufgrund eines strafrechtlich relevanten Verhaltens nur einen zivilrechtlichen Anspruch aus § 826 BGB geltend machen kann. Der Umstand, dass sich ein Tatverdacht nur auf Strafrechtsnormen bezieht, die nicht speziell dem Schutz der Individualinteressen des Antragstellers dienen (vorliegend die über eine strafbare Marktmanipulation nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 39 Abs. 1 Nr. 2, § 20a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 WpHG), zwingt nicht von Verfassungs wegen zu einer Ablehnung der Verletzteneigenschaft.

3. Das Gericht oder die Behörde, die über die Akteneinsicht entscheidet, hat die gegenläufigen Interessen von Verletztem und Beschuldigten gegeneinander abzuwägen, um hierdurch festzustellen, welchem Interesse im Einzelfall der Vorrang gebührt. Es ist nicht verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn dem qualifiziert dargelegten Interesse an der Akteneinsicht, um erhebliche Schadensersatzansprüche geltend zu machen, größeres Gewicht beigemessen wird, als den Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen, gegen den ein hoher Verdachtsgrad einer Straftat besteht.

4. Die Erwägung, dass auch im Rahmen der zivilprozessualen Beweiswürdigung von Belang sei, ob der mutmaßliche Täter mehrfach ähnlich gehandelt habe, kann die Gewährung einer umfassenden Akteneinsicht rechtfertigen. Dabei steht der beauftragte Rechtsanwalt, durch den Akteneinsicht genommen wird, im Übrigen als Organ der Rechtspflege in der Pflicht, seinen Mandanten nur die Auskünfte zukommen zu lassen, die zur Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche gegen den Beschwerdeführer dringend erforderlich sind.


Entscheidung

222. BVerfG 2 BvR 1101/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 7. Oktober 2008 (OLG Stuttgart/LG Stuttgart)

Bestimmtheitsgrundsatz (Blankettnorm; Anforderungen); Ausübung der verbotenen Prostitution (Einwohnerzahl; Begriff der Beharrlichkeit); Baden-Württembergische Verordnung über das Verbot der Prostitution.

Art.  103 Abs. 2 GG; § 184d StGB; § 27 StGB; Art.  297 EGStGB; § 1 ProstVO BW

1. Es ist dem Gesetzgeber nicht ausnahmslos verwehrt, die nähere Bestimmung der Voraussetzungen strafbaren Handelns durch Erteilung einer nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmte Verordnungsermächtigung der Exekutive zu überlassen. Über die Anforderungen des Art.  80 Abs. 1 Satz 2 GG hinaus ist in einem solchen Fall aber nach Art.  103 Abs. 2 GG zu beachten, dass in jedem Fall die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes, nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Verordnung voraussehbar sein müssen (BVerfGE 14, 174, 185 f.; 75, 329, 342).

2. Es ist nach Art.  103 Abs. 2 GG nicht zu beanstanden, dass gemäß § 184d StGB in Verbindung mit Art.  297 EGStGB und § 1 der baden-württembergischen Verordnung der Landesregierung über das Verbot der Prostitution bestraft wird, wer in einer baden-württembergischen Gemeinde mit nicht mehr als 35.000 Einwohnern beharrlich der Prostitution nachgeht

3. Der Bestimmtheitsgrundsatz fordert nicht, dass eine strafrechtliche Norm Informationen darüber vermittelt, auf welche Weise sich der Normadressat Kenntnis vom Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Norm (hier: Einwohnerzahl einer Gemeinde) verschaffen kann.


Entscheidung

223. BVerfG 2 BvR 1492/98 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 14. Januar 2009 (Saarländisches OLG/LG Saarbrücken)

Vollstreckungsübernahmeverfahren (keine Strafaussetzung zur Bewährung bei Umwandlung einer ausländischen vollstreckbaren Freiheitsstrafe); Freiheit der Person; Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983; Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Wirkungen auf die Auslegung von Normen).

Art.  2 Abs. 2 Satz 2 GG; § 54 Abs. 1 Satz 3 IRG; § 56 StGB

1. Die fachgerichtliche Auffassung, dass es im Vollstreckungsübernahmeverfahren nicht möglich sei, die Vollstreckung einer umgewandelten Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Es ist nicht objektiv willkürlich die primäre Strafaussetzung als Bestandteil der Strafzumessung anzusehen und daher nach § 54 Abs. 1 Satz 3 IRG eine Bindung an die Verhängung einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe anzunehmen.

3. Nicht alles, was völkerrechtlich erlaubt ist, ist auch verfassungsrechtlich geboten. Für die Auslegung einer auf einer völkerrechtlichen Vereinbarung beruhenden Norm (vorliegend die § 54 Abs. 1 IRG) ist Völkerrecht deshalb nur dann bedeutsam, wenn die völkerrechtliche Vereinbarung (vorliegend Art.  11 Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983) eine bestimmte Auslegung entweder klar ausschließen oder vorsehen würde.

4. Das Völkerrecht kann sich, auch soweit es keine Spielräume belässt, bei der Anwendung durch innerstaatliche Stellen grundsätzlich nicht gegenüber den deutschen Grundrechten durchsetzen.

5. Enthält das einfache Recht zu einer begehrten Rechtsfolge keine Regelung, kann in der Ablehnung dieser Rechtsfolge durch die Fachgerichte nur dann eine Grundrechtsverletzung liegen, wenn sich die begehrte Rechtsfolge unmittelbar aus den Grundrechten ergibt, wenn also eine Rechtsfortbildung von Verfassungs wegen zwingend geboten ist.


Entscheidung

224. BVerfG 2 BvR 1494/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) - vom 7. Oktober 2008 (BGH/LG Berlin)

Keine qualifizierte Belehrung des Angeklagten über die prozessualen Folgen der Zustimmung zu einer Verteidigererklärung; Anspruch auf rechtliches Gehör; Recht auf ein faires Verfahren; willkürfreie Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Gehilfenschaft (Bestimmtheitsgrundsatz).

Art.  103 Abs. 1 GG; Art.  20 Abs. 3 GG; Art.  2 Abs. 2 S. 2 GG; Art.  103 Abs. 2 GG; Art.  6 Abs. 1 EMRK; § 263 StGB; § 27 StGB

Wurde der Angeklagte ordnungsgemäß über sein Schweigerecht belehrt, hat dieser auf Befragen des Gerichts ausdrücklich bestätigt, dass es sich bei einer von seinem Verteidiger vorgetragenen schriftliche Erklärung mit einer Einlassung zur Sache um seine eigene Einlassung handelt und hat sich der Angeklagte selbst persönlich zur Sache eingelassen, ist von Verfassungs wegen weder geboten ihn qualifiziert über die Folgen der Bestätigung der Verteidigererklärung, noch über die Folgen eines eventuellen Teilschweigens aufzuklären.


Entscheidung

221. BVerfG 2 BvR 784/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 28. Juli 2008 (OLG Braunschweig/AG Hann. Münden)

Recht auf effektiven Rechtsschutz (fehlende Dokumentation der Anordnung einer Blutentnahme bei der Entscheidung über ein Verwertungsverbot); Recht auf körperliche Unversehrtheit (kein zwingendes Verwertungsverbot bei Verstoß gegen den Richtervorbehalt bei Anordnung der Blutentnahme); Anspruch auf ein faires Verfahren (Richtervorbehalt in § 81a StPO kein Element des fairen Verfahrens).

Art.  19 Abs. 4 GG; Art.  2 Abs. 2 S. 1 GG; Art.  20 Abs. 3 GG; Art.  2 Abs. 1 GG; Art.  6 EMRK; § 81a StPO

1. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzgarantie nach Art.  19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn nach der fachgerichtlichen Rechtsprechung allein die fehlende Dokumentation über die Anordnung einer Blutentnahme nach § 81a StPO wegen Gefahr im Verzug noch nicht zu einem Verwertungsverbot führt.

2. Art.  2 Abs. 2 Satz 1 GG gebietet es nicht ohne weiteres, im Falle eines Verstoßes gegen § 81a StPO im Zuge einer richterlich nicht angeordneten Blutentnahme ein Verwertungsverbot hinsichtlich der erlangten Beweismittel anzunehmen.

3. Der in § 81a StPO enthaltene Richtervorbehalt dürfte nicht zu dem durch das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu gewährenden rechtsstaatlichen Mindeststandard zu zählen sein.


Entscheidung

219. BVerfG 2 BvR 553/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 26. August 2008 (OLG München/LG Memmingen

Anspruch auf ein faires Verfahren; Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; Berücksichtigung psychologischer Sachverständigengutachten; „in dubio pro reo“; Vergewaltigung).

Art.  20 Abs. 3 GG; Art.  2 Abs. 1 GG; Art.  103 Abs. 1 GG; Art.  6 Abs. 1 EMRK; § 261 StPO

1. Zwar ist die Beweiswürdigung von Gesetzes wegen frei, das heißt, keinen Beweisregeln unterworfen. Erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung sind beispielsweise jedoch in den Konstellationen zu stellen, in denen Aussage gegen Aussage steht und in denen die Entscheidung davon abhängt, welcher der einander widersprechenden Aussagen das Gericht folgt.

2. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ ist nicht schon dann verletzt, wenn der Richter nicht zweifelte, obwohl er hätte zweifeln müssen, sondern erst dann, wenn er verurteilte, obwohl er zweifelte (vgl. BVerfGE 9, 167, 170).

3. Der Tatrichter, dem allein die Beweiswürdigung obliegt, ist nicht an strenge Beweisregeln gebunden und hat nur seinem Gewissen verantwortlich ohne Willkür zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht. Dabei bedarf es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit keiner detaillierten, nachgewiesenen mathematischen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.


Entscheidung

225. BVerfG 2 BvR 2486/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Juli 2008 (LG Berlin/AG Tiergarten)

Durchsuchung wegen mutmaßlichen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz (angebliches Erschleichen des Aufenthaltsstatus durch Eingehung einer Scheinehe); Unverletzlichkeit der Wohnung (Anforderung an den Durchsuchungsbeschluss; Verhältnismäßigkeit).

Art.  13 Abs. 1 GG; Art.  13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § 105 StPO; § 95 Abs. 2 Ziff. 2 AufenthG

1. Die Wohnungsdurchsuchung bedarf einer Rechtfertigung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten Zweck Erfolg versprechend sein. Ferner muss gerade

diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212, 220).

2. Ist auf Grund der Aktenlage offensichtlich, dass eine bestimmte Tatsache gegeben ist (vorliegend Getrenntleben vom Ehemann), ist eine Durchsuchung zum Auffinden von Beweisen zur Ermittlung des Vorliegens dieser Tatsache nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig.

3. Um die Durchsuchung rechtsstaatlich zu begrenzen, muss der Richter die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist (vgl. BVerfGE 20, 162, 224; 42, 212, 220 f.). Weiterhin muss der Richter grundsätzlich auch die Art und den vorgestellten Inhalt derjenigen Beweismittel, nach denen gesucht werden soll, so genau bezeichnen, wie es nach Lage der Dinge geschehen kann. (vgl. BVerfGE 20, 162, 224). Diese Grundsätze werden verletzt, wenn im Durchsuchungsbeschluss tatsächliche Angaben zur Umschreibung des Tatvorwurfs (vorliegend zum Zeitpunkt angeblich unrichtiger oder unvollständiger Angaben i.S.d. § 95 Abs. 2 Ziff. 2 AufenthG) fehlen und auch jeglicher inhaltliche Bezug der zu suchenden Beweismittel zum Tatvorwurf fehlt.