hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 219

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 553/08, Beschluss v. 26.08.2008, HRRS 2009 Nr. 219


BVerfG 2 BvR 553/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 26. August 2008 (OLG München/LG Memmingen)

Anspruch auf ein faires Verfahren; Beweiswürdigung (Aussage gegen Aussage; Berücksichtigung psychologischer Sachverständigengutachten; "in dubio pro reo"; Vergewaltigung).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Zwar ist die Beweiswürdigung von Gesetzes wegen frei, das heißt, keinen Beweisregeln unterworfen. Erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung sind beispielsweise jedoch in den Konstellationen zu stellen, in denen Aussage gegen Aussage steht und in denen die Entscheidung davon abhängt, welcher der einander widersprechenden Aussagen das Gericht folgt.

2. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist nicht schon dann verletzt, wenn der Richter nicht zweifelte, obwohl er hätte zweifeln müssen, sondern erst dann, wenn er verurteilte, obwohl er zweifelte (vgl. BVerfGE 9, 167, 170).

3. Der Tatrichter, dem allein die Beweiswürdigung obliegt, ist nicht an strenge Beweisregeln gebunden und hat nur seinem Gewissen verantwortlich ohne Willkür zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht. Dabei bedarf es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit keiner detaillierten, nachgewiesenen mathematischen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

Entscheidungstenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen der Beweiswürdigung nach § 261 StPO.

I.

1. Wegen Beleidigung und sexueller Nötigung wurde der Beschwerdeführer - ein Arzt - durch Urteil des Amtsgerichts Memmingen vom 28. April 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten verurteilt. Das Amtsgericht sah als erwiesen an:

Die Nebenklägerin begab sich aufgrund ärztlicher Überweisung zu dem eine radiologische Praxis betreibenden Beschwerdeführer. Durch eine Kernspintomographie des Schädels sollten Ursachen eines länger andauernden Kopfschmerzes bei der Nebenklägerin festgestellt werden. Nachdem der Beschwerdeführer von der Arbeitsplatzsituation der Nebenklägerin erfuhr, stellte er ihr einen Ausbildungsplatz in seiner Arztpraxis in Aussicht. Im Rahmen von Bewerbungsgesprächen sei es in der Arztpraxis des Beschwerdeführers zu sexuellen Übergriffen gekommen.

Unter Verwerfung der Berufung des Beschwerdeführers änderte das Landgericht Memmingen auf die Berufung der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 25. Oktober 2006 das erstinstanzliche Urteil dahingehend ab, dass der Beschwerdeführer wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde. Die Aussagen der Nebenklägerin seien glaubhaft. Hinsichtlich des von ihr geschilderten Geschehens am 6. Dezember 2003 liege eine Vergewaltigung vor. Diesbezüglich gab die Nebenklägerin an, dass der Beschwerdeführer sie an diesem Samstag einbestellte, um den Ausbildungsvertrag zu unterzeichnen. Nachdem er ihr den Vertrag zwecks Unterzeichnung durch ihre Eltern aushändigte, habe er sie gefragt, ob sie noch etwas Zeit hätte. Er fertigte dann von der sich nackt auf der Liege des Kernspintomographen befindlichen Nebenklägerin Aufnahmen im Beckenbereich an. Nach einer ersten Untersuchungssequenz habe er sie aus der Röhre herausgefahren und begonnen, mit seinen Fingern an der Klitoris der Nebenklägerin zu reiben, da sich wieder alles "verkrampft" hätte. Während sie angeschnallt auf der Liege gelegen habe, habe er mit zwei Fingern Rein- und Rausbewegungen in der Vagina der Nebenklägerin vorgenommen. Er habe dann seine Manipulationen beendet und die Nebenklägerin erneut für einige Minuten in die Röhre geschoben. Mit Beschluss vom 14. Februar 2008 hob das Oberlandesgericht München die Verurteilung hinsichtlich von Vorfällen an einem anderen vermeintlichen Tattag auf, änderte den Schuldspruch dahingehend, dass der Beschwerdeführer der Beleidigung und der Vergewaltigung in Tateinheit mit Beleidigung schuldig sei und hob den Rechtsfolgenausspruch auf; insoweit erfolgte eine Zurückverweisung an das Landgericht. Die weitergehende Revision wurde als unbegründet verworfen. Eine hiernach eingelegte Gehörsrüge wurde durch Beschluss vom 5. März 2008 zurückgewiesen.

2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Landgericht habe zwar ausgeführt, dass zwei Sachverständige zu der Feststellung gelangt seien, ein Erlebnisbezug der Aussagen der Nebenklägerin könne nicht festgestellt werden. Im Rahmen der Beweiswürdigung habe sich das Landgericht damit jedoch nicht auseinandergesetzt. Die Sachverständigen seien von der sogenannten Nullhypothese ausgegangen, das heißt davon, dass die Angaben der Nebenklägerin unwahr seien und es weiterer Feststellungen bedürfe, um deren Wahrheit anzunehmen. Angesichts des Umstandes, dass es sich hier um einen Fall handele, in welchem nur eine Zeugin vorhanden sei und Aussage gegen Aussage stehe, hätte das Landgericht darlegen müssen, warum es unter Zugrundelegung der gleichen aussagepsychologischen Glaubwürdigkeitskriterien wie die Sachverständigen zu einem anderen Ergebnis gelange. Dies auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes in dubio pro reo.

Das Landgericht argumentiere mit der Konstanz in der Aussage der Nebenklägerin, wohingegen die Sachverständigen feststellten, dass eine Konstanzanalyse nicht möglich sei. Es könne laut sachverständiger Begutachtung nicht ausgeschlossen werden, dass die Angaben der Nebenklägerin infolge der Lektüre der erstinstanzlichen Entscheidung sowie der Verhandlungsprotokolle nicht auf tatsächlich Erlebtem basierten. Hinsichtlich des Geschehens, welches zur Verurteilung wegen Vergewaltigung führe, habe die Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht nichts von sexuellen Übergriffen erwähnt. Erst auf Vorhalt ihrer polizeilichen Aussage in der Berufungshauptverhandlung erwähnte sie, dass es dann so gewesen sei, wie der Verurteilung zugrunde gelegt.

Hinsichtlich dieses Geschehens liege eine objektive Unvereinbarkeit zwischen den Feststellungen des Landgerichts und den Schilderungen der Nebenklägerin vor. Diese habe nur von zwei Kernspinuntersuchungen gesprochen. Hiervon gehe auch das Landgericht aus. Damit habe zwischen den beiden Untersuchungen jedoch nur eine Zeitspanne von maximal eineinhalb Minuten gelegen. Die Nebenklägerin schilderte jedoch die Dauer der sexuellen Übergriffe mit etwa zehn Minuten.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>; 96, 245 <248>). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

Soweit der Beschwerdeführer die Beweiswürdigung des Landgerichts rügt, liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz fairen Verfahrens vor.

Im Rahmen der Beweiswürdigung ist das Gericht verpflichtet, über alle auf der Grundlage des materiellen Rechts entscheidungserheblichen Beweisfragen eine vollständige Beweiswürdigung vorzunehmen und diese dem Urteil zugrunde zu legen. Dabei müssen nicht nur die unmittelbaren Beweise erhoben, sondern auch die zu ihrer Würdigung erforderlichen Umstände ihrerseits im Rahmen der Beweisaufnahme aufgeklärt und zum Gegenstand der nachfolgenden Würdigung gemacht werden. Zwar ist die Beweiswürdigung von Gesetzes wegen frei, das heißt, keinen Beweisregeln unterworfen. Erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung sind beispielsweise jedoch in den Konstellationen zu stellen, in denen Aussage gegen Aussage steht und in denen die Entscheidung davon abhängt, welcher der einander widersprechenden Aussagen das Gericht folgt (vgl. BVerfGK 1, 145 <150 f.>).

Jedoch rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen § 261 StPO ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts. Die hieraus folgende Pflicht zu umfassender und vollständiger Beweiswürdigung ist vielmehr Sache des Tatgerichts, das aufgrund der Sachnähe dazu berufen ist, die einzelnen Beweisergebnisse einander gegenüber zu stellen und so zu einer eigenen Überzeugung vom tatsächlichen Geschehensablauf zu gelangen. Unter Beachtung der freiheitssichernden Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG im Strafverfahren, worin eine der Wurzeln des Prozessgrundrechts auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren liegt (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>), kann das Bundesverfassungsgericht vielmehr erst dann einschreiten, wenn sich das Tat- und gegebenenfalls das Revisionsgericht so weit von der Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann (vgl. BVerfGK 1, 145 <152>).

a) Ausgehend von diesen Maßstäben sind die Feststellungen zu der Glaubwürdigkeit der Angaben der Nebenklägerin mit Blick auf die Konstanz und den Erlebnisbezug ihrer Aussage nicht zu beanstanden. Zwar gab es in den Angaben der Hauptbelastungszeugin im Rahmen ihrer zahlreichen Vernehmungen Widersprüche. Der Umstand, dass das Landgericht hierdurch nicht an der Glaubwürdigkeit ihrer Angaben zweifelte, ändert nichts an der Tragfähigkeit der Urteilsgründe für den Schuldspruch. Es hat sich vielmehr eingehend mit dem Aussageverhalten der Nebenklägerin, auch den darin enthaltenen Widersprüchlichkeiten, auseinandergesetzt und dieses unter Einbeziehung sachverständiger Feststellungen sowie weiteren, umfangreichen Zeugenangaben einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung unterzogen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98 -, NJW 1998, S. 3788 <3790>). So gab die gerichtlich bestellte Sachverständige an, dass es auch bei einer erlebnisbasierten Aussage erhebliche Inkonstanzen geben könne und es bei der Nebenklägerin mehrere Hinweise dafür gebe, die dieses erklären könnten. Da die Manipulationen an der Nebenklägerin mit einem Übergang in sexuell getönte Handlungen für diese zunächst nicht in besonderem Maße persönlich bedeutsam gewesen seien, könne daraus abgeleitet werden, dass nicht unbedingt eine vertiefte Speicherung dieser Ereignisse nach Jahren zwingend vorhanden sein müsse. Die Erklärung der Nebenklägerin für ihre schlechte Erinnerung sei mit motivationalen und gedächtnispsychologischen Prozessen vereinbar. Damit sind die Widersprüchlichkeiten in den Angaben der Nebenklägerin jedoch zumindest erklärbar und geben zu Beanstandungen der landgerichtlichen Feststellungen keinen Anlass.

Zudem berücksichtigte das Landgericht weitere sachverständige Feststellungen, wonach die vom Beschwerdeführer durchgeführte bimanuelle Tastuntersuchung nicht medizinisch korrekt abgelaufen, eine solche bei der Einstellungsuntersuchung einer Jugendlichen arbeitsmedizinisch überhaupt nicht begründbar und die Kernspintomografie des Beckens zum Ausschluss einer Venentrombose - wie vom Beschwerdeführer angegeben - medizinisch nicht nachvollziehbar sei. Ferner erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit der Einlassung des Beschwerdeführers und deren Unzulänglichkeiten.

Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Landgericht hätte unter Berücksichtigung des Grundsatzes "in dubio pro reo" von der Unwahrheit der Angaben der Nebenklägerin ausgehen müssen, verkennt er die Reichweite und Bedeutung des Zweifelssatzes. Dieser ist keine Beweisregel, sondern eine Entscheidungsregel. Über Maßstäbe, nach denen der Richter eine Tatsache für gewiss halten darf oder muss, sagt er nichts. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist daher nicht schon dann verletzt, wenn der Richter nicht zweifelte, obwohl er hätte zweifeln müssen, sondern erst dann, wenn er verurteilte, obwohl er zweifelte (vgl. BVerfGE 9, 167 <170>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juli 2007 - 2 BvR 496/07 -, NStZ-RR 2007, S. 381 <382>).

b) Die Sachverhaltsfeststellung zum Tatgeschehen am 6. Dezember 2003, welche zu einer Verurteilung wegen Vergewaltigung führte, ist nach den genannten Maßstäben ebenfalls nicht zu beanstanden. Zwar rügt der Beschwerdeführer insoweit zutreffend, dass der objektive Verlauf mit der seitens der Nebenklägerin geschilderten Tatversion nur schwerlich in Einklang zu bringen ist, da der Zeitraum zwischen den beiden Untersuchungssequenzen im Kernspingerät nur etwa eineinhalb Minuten betrug. Aus dieser Unrichtigkeit der zeitlichen Angaben musste das Landgericht jedoch nicht zwingend die Schlussfolgerung ziehen, dass sämtliche diesbezügliche Angaben nicht der Wahrheit entsprechen und daher die gesamte Aussage der Nebenklägerin unglaubhaft wäre. Sie schilderte die zeitliche Dauer sämtlicher Handlungen kürzer, aber gleich lang. Dies lässt jedoch auch den Rückschluss zu, dass auch die zwischen den beiden Untersuchungssequenzen behaupteten sexuellen Manipulationen in ihrer Dauer kürzer waren. Nimmt das Landgericht und ihm folgend das Oberlandesgericht trotz objektiv kürzerer Zeiträume die Richtigkeit der diesbezüglichen Schilderungen der Nebenklägerin an, so entzieht dies angesichts der offensichtlichen Schwierigkeit der Nebenklägerin, die Zeitdauer zu schätzen, dem Urteil nicht seine rationale Grundlage. Das Gericht hat zum einen festgestellt, dass die Unstimmigkeiten in den Angaben der Hauptbelastungszeugin erklärbar seien. Zum anderen schloss es aus anderen Bekundungen der Zeugin sowie aus gewichtigen, außerhalb der Zeugenaussage liegenden Indizien auf die Glaubwürdigkeit der Angaben. So hat es die sachverständigen Feststellungen berücksichtigt, wonach die vorgenommenen Untersuchungen medizinisch nicht indiziert waren. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Tatrichter, dem allein die Beweiswürdigung obliegt, ist nicht an strenge Beweisregeln gebunden und hat nur seinem Gewissen verantwortlich ohne Willkür zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht (vgl. BGHSt 29, 18 <20>). Dabei bedarf es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit keiner detaillierten, nachgewiesenen mathematischen Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

2. Von einer weiteren Begründung der Nichtannahmeentscheidung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 219

Bearbeiter: Stephan Schlegel