Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die auf Grund des - vergeblichen - Wartens auf die "Siemens-Entscheidung" leider verspätete Oktober-Ausgabe publiziert insbesondere zwei Beiträge von Heger und Soyka, die jüngste grundlegende Entscheidungen zum Wirtschafts- und Steuerstrafrecht dogmatisch aufarbeiten. Aus den BVerfG-Entscheidungen ist diejenige hervorzuheben, in welcher das Gericht die Auslegung der "Waffe" im Sinne des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte einschränkt. Im Rahmen der BGH-Entscheidungen stechen drei für BGHSt vorgesehene Entscheidungen hervor, die u.a. die nötigen Inhalte des freisprechenden Urteils präzisieren.
Hinzuweisen ist auch besonders auf die gemeinsam mit dieser Ausgabe auf HRR-Strafrecht veröffentlichte HRRS-Festgabe zum 70. Geburtstag von Gerhard Fezer. Diese Festgabe ehrt einen großen und zugleich bescheidenen Rechtslehrer, dem vor allem das deutsche Strafprozessrecht vieles zu verdanken hat. Die vornehmlich prozessualen Beiträge befassen sich u.a. mit aktuellen Verteidigungsansätzen aus der Rechtsprechung des EGMR und grundlegend mit der "Fortsetzungsfeststellungsklage im Strafprozessrecht".
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter
1. Es verstößt gegen das strafrechtliche Analogieverbot i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG, den Begriff der Waffe in § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB in einem „nichttechnischen“ Sinne zu verstehen und auch gefährliche Werkzeuge, insbesondere bei entsprechender Verwendung, auch Kraftfahrzeuge darunter zu fassen. Der allgemeine Sprachgebrauch bezeichnet als Waffen nur solche Gegenstände, deren primäre Zweckbestimmung darin liegt, im Wege des Angriffs oder der Verteidigung zur Bekämpfung anderer eingesetzt zu werden. Dass der Gesetzgeber dem Begriff der Waffe in § 113 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB ein anderes Verständnis zugrunde gelegt hat, ist nicht ersichtlich.
2. Art. 103 Abs. 2 GG enthält nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafvorschriften. Die Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber vielmehr auch, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Dabei markiert der mögliche Wortsinn des Gesetzes die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die
Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus dessen Sicht zu bestimmen.
3. Es ist gerade der Sinn des Analogieverbots, über die Verfassungsgrundsätze der Demokratie, der Gewaltenteilung und der richterlichen Gesetzesbindung hinaus einer teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken.
4. Diese Ausführungen gelten sinngemäß für die Auslegung von Vorschriften, die nicht die Strafbarkeit eines Verhaltens an sich regeln, sondern unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Verschärfung der Strafdrohung gegenüber dem Grundtatbestand führen. Art. 103 Abs. 2 GG umfasst nicht nur den Straftatbestand an sich, sondern auch die Strafandrohung (vgl. BVerfGE 45, 363, 371; 86, 288, 311) und somit auch strafschärfende Vorschriften. Strafzumessungsregeln, die einen erhöhten Strafrahmen - beispielsweise - an das Vorliegen eines „besonders schweren Falles“ knüpfen, sind daher am Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.
5. Die Anknüpfung an den „besonders schweren Fall“ als solche begegnet keinen grundsätzlichen Bedenken. Was unter einem „besonders schweren Fall“ zu verstehen ist, lässt sich anhand der von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Kriterien und der Bestimmung des § 46 StGB, die bei der Ausfüllung dieses Begriffes herangezogen werden kann, unschwer ermitteln.
1. Der Ausschluss des nächtlichen Rundfunkempfangs durch die Unterbrechung der Stromzufuhr berührt den Schutzbereich der Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), deren Beschränkung auch Untersuchungsgefangene nur nach Maßgabe der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG hinzunehmen haben (vgl. BVerfGE 15, 288, 293 ff.; 35, 307, 309).
2. Für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen bildet zwar nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts § 119 Abs. 3 StPO eine verfassungsrechtlich zureichende gesetzliche Grundlage (vgl. BVerfGE 34, 369, 379; 57, 170, 177). Dies gilt jedoch nur im Hinblick darauf, dass es sich um eine strikt auf die Abwehr von Gefahren für die Haftzwecke oder die Ordnung der Anstalt beschränkte Ermächtigung handelt, deren Anwendung in besonderem Maße dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet ist. Für darüber hinausgehende Eingriffe nach Maßgabe vollzugspolitischer Zweckmäßigkeiten und nicht gefahrenabwehrrechtlich begründeter Abwägungen bietet § 119 Abs. 3 StPO keine ausreichende Grundlage.
3. Schwierigkeiten bei der Überwachung der Gefangenen sind Lästigkeiten, die grundsätzlich hingenommen werden müssen; denn Grundrechte bestehen nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungseinrichtungen üblicherweise vorhanden oder an Verwaltungsbrauch „vorgegeben“ ist (vgl. BVerfGE 15, 288, 296; 35, 307, 310). Es ist Sache des Staates, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, um Verkürzungen der Rechte von Untersuchungsgefangenen zu vermeiden; die dafür erforderlichen sächlichen und personellen Mittel hat er aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen (vgl. BVerfGE 36, 264, 275; 42, 95, 101 f.).
4. Zu den Prüfungs- und Begründungsanforderungen an das Beschwerdegericht, bezüglich der Rechtfertigung einer nächtliche Stromsperre gegenüber einem Untersuchungsgefangenen.
5. Ebenso wenig wie eine Gefahr für die Ordnung in der Anstalt ohne konkrete Anhaltspunkte einfach unterstellt werden darf (vgl. BVerfGE 35, 5, 10; 57, 170, 177), kann es zulässig sein, naheliegende schonendere Mittel der Gefahrenabwehr ohne konkrete Anhaltspunkte für ihre Untauglichkeit zugunsten schärferer Instrumente zu verwerfen.
1. Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG gilt auch für den Haftvollzug (vgl. BVerfGE 42, 95, 101; 89, 315, 322) und erstreckt sich auch auf das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (vgl. BVerfGE 57, 170, 178). Der Anspruch Gefangener darauf, dass Kontakt zu ihren Angehörigen in angemessenem Umfang ermöglicht wird, findet eine weitere Grundlage in der Verpflichtung des Staates auf einen am Ziel der sozialen Integration orientierten Strafvollzug (vgl. BVerfGE 116, 69, 85 - stRspr) und gilt hier auch unabhängig davon, ob sie zu dessen Resozialisierung beitragen können (vgl. BVerfGE 89, 315, 322).
2. Der Staat kann grundrechtliche und einfachgesetzlich begründete Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben dadurch verkürzen, dass er die Vollzugsanstalten nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich wäre. Vielmehr setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die notwendige Beschaffenheit staatlicher Einrichtungen. Der Staat ist verpflichtet, Vollzugsanstalten in
der zur Wahrung der Grundrechte erforderlichen Weise auszustatten (vgl. BVerfGE 40, 276, 284; 45, 187, 240).
3. Sind vorhandene Vollzugseinrichtungen und deren Ausstattung so beschaffen, dass Rechte der Gefangenen nicht gewahrt werden können, ohne dass dadurch Rechte anderer Gefangener oder sonstige Belange von vergleichbarem Gewicht beeinträchtigt werden, so folgt auch hieraus nicht, dass die insoweit auf der einen oder anderen Seite unvermeidlichen Beeinträchtigungen ohne weiteres und unabhängig von laufenden Bemühungen um kurzfristige Abhilfe als rechtmäßig hinzunehmen wären.
4. Das Interesse eines Gefangenen an der Pflege von Besuchskontakten mit seinen Angehörigen ist von Art. 6 Abs. 1 GG auch dann geschützt, wenn solche Kontakte nur durch Besuchsüberstellungen oder Verlegung ermöglicht werden können. Dieses grundrechtlich geschützte Interesse ist dann in außerordentlich schwerwiegender Weise beeinträchtigt, wenn monatelang, und zudem noch ohne irgendeine konkrete Änderungsperspektive, jede Begegnung mit der wichtigsten, im vorliegenden Fall sogar der einzigen, familiären Bezugsperson versagt bleibt.
5. Es obliegt den Gerichten aufzuklären, ob die von der Justizvollzugsanstalt im Einzelfall aus Art. 6 Abs. 1 GG zu fordernden Anstrengungen erbracht wurden, den grundrechtlichen Belangen des Gefangenen gerecht zu werden. Allein der Verweis auf bestimmte „Soll“- und „Ist“-Belegungszahlen genügt insoweit nicht.
1. Der Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung aus wichtigem Grund ist dann verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden.
2. Bei der Prüfung, ob ein wichtiger, den Widerruf rechtfertigender Grund vorliegt, ist namentlich der Grundsatz des fairen Verfahrens zu berücksichtigen. Dieser fordert, die Wünsche eines Angeklagten auf Beiordnung eines bestimmten Verteidigers – soweit wie möglich – zu berücksichtigen.
3. Bei der Abwägungsentscheidung über den Widerruf ist neben den Interessen des betroffenen Angeklagten, auch das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot insbesondere auch im Hinblick auf vorhandene Mitangeklagte zu berücksichtigen
1. Individuelle Zweifel an der Unparteilichkeit eines (Laien-)Richters im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK sind nur begründet, wenn sie objektiv berechtigt sind. Allerdings ist der Standpunkt desjenigen gebührend zu berücksichtigen, der die Unparteilichkeit bezweifelt. Für die Berechtigung der Zweifel ist insbesondere entscheidend, ob ein gerügtes Verhalten zum Nachteil des Angeklagten rechtswidrig war oder eine grundlegende Abkehr von der ständigen Praxis im nationalen Strafverfahren zulasten des Angeklagten darstellt.
2. Nicht jeder Verstoß gegen Nr. 126 Abs. 3 RiStBV begründet berechtigte Zweifel im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Dies gilt jedenfalls dann, wenn den Laienrichtern die Kenntnis des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen in einem Verfahren gegen einen anderen Angeklagten eingeräumt worden ist, um ein Geständnis dieses Angeklagten zu erläutern.
3. Der Umstand, dass ein Richter den Inhalt der Verfahrensakten im Einzelnen kennt, begründet allein noch nicht die Annahme, er sei bei der Entscheidung über das Verfahren voreingenommen.
1. Im Rahmen der Prüfung eines Hanges i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB kann auch eine begangene Spontantat Aussagekraft besitzen, obwohl die übrigen begangenen Taten vom Beschuldigten von langer Hand geplant worden sind.
2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Gefährlichkeitsprognose des Fachgerichts von der des Sachverständigen abweicht. Die abweichende Beurteilung ist Ergebnis einer eigenständigen Prognoseentscheidung, bei der das Gericht dem Gutachten seine richterliche Kontrolle entgegengesetzt hat. Zu einer solchen eigenständigen und selbst verantworteten Würdigung des Sachverständigengutachtens ist das Fachgericht von Verfassungs wegen verpflichtet (vgl. BVerfGE 109, 133, 164).
1. Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und ebenso ihr Vollzug sind von Verfassungs wegen an die Voraussetzung geknüpft, dass eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Süchtigen zu heilen oder doch über eine gewisse Zeitspanne vor dem Rückfall in die akute Sucht zu bewahren. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt darf nicht weiter vollzogen werden, wenn entgegen einer anfänglichen positiven Prognose keine hinreichend konkrete Aussicht mehr auf einen solchen Behandlungserfolg besteht (BVerfGE 91, 1, 30 f.).
2. Die Entscheidung über die Erledigterklärung einer Unterbringung muss auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Dazu ist aber auch von Verfassungs wegen nicht notwendigerweise die Einholung eines Sachverständigengutachtens geboten.