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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2008
9. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Martin Heger, HU Berlin
Der vorliegend zu besprechende Beschluss des BGH bezieht sich vordergründig auf eine Revision gegen eine erstinstanzliche Verurteilung wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei u. a., doch macht schon der Vermerk für das Register in der amtlichen Sammlung deutlich, dass nicht so sehr das materielle Steuerstrafrecht im Mittelpunkt dieser Entscheidung stehen wird, heißt es doch dort nur "SDÜ Art. 54 - Strafklageverbrauch nach Art. 54 SDÜ bei einheitlicher "Schmuggelfahrt" durch mehrere EU-Mitgliedstaaten".
Das Steuerstrafrecht ist in Deutschland - obwohl oder vielleicht auch weil es innerhalb des Strafrechts und auch bei der Strafverfolgung durch die Finanzbehörden eine Sonderstellung einnimmt - immer wieder Motor der - ansonsten eher stockenden - Europäisierung des deutschen Strafrechts gewesen. So äußerte sich etwa der 3. Strafsenat des BGH anlässlich des Vorwurfs einer Steuerhinterziehung und mit Blick auf nicht ordnungsgemäß in das deutsche Strafrecht umgesetzte EG-Umsatzsteuerrichtlinien grundlegend zum Verhältnis von nationalem zu EG-Recht.[1] Der hier geäußerte Grundsatz wurde ein halbes Jahr später vom 5. Strafsenat auf das Verhältnis von EG-Recht und deutschem Kernstrafrecht übertragen (zum Abfallbegriff des § 326 Abs. 1 StGB).[2] In beiden Urteilen sah der BGH allerdings noch davon ab, wegen denkbarer Zweifel über die Auslegung des EG-Rechts gemäß Art. 177 EWGV a. F: (= Art. 234 EG) den EuGH anzurufen. Auch das erste Vorlageverfahren des BGH zum EuGH zehn Jahre später betraf das Steuerstrafrecht.[3]
Auch in dem im vorliegenden Beschluss mündenden Steuerstrafverfahren hatte der 5. Strafsenat - diesmal aufgrund von Art. 35 EU[4] - drei Auslegungsfragen in Bezug auf Art. 54 SDÜ dem EuGH vorgelegt,[5] über die dieser am 18.7.2007 entschieden hat.[6]
Bekanntlich erweitert Art. 54 SDÜ[7] das innerstaatlich als allgemeine Regel des Völkerrechts allgemein akzeptierte und in Deutschland in Art. 103 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich abgesicherte Doppelbestrafungs- bzw. Doppelverfolgungsverbot[8] (ne bis in idem) auf den EU-Rechtsraum. Wer in einem EU-Staat wegen einer Tat bereits freigesprochen oder verurteilt wurde und die
Strafe bereits verbüßt hat, soll in keinem anderen der 27 EU-Staaten wegen derselben Tat noch einmal vor ein Strafgericht gestellt werden können. Dem nationalen ne bis in idem ist damit ein europäisches ne bis in idem zur Seite gestellt worden.[9] Dessen Voraussetzungen scheinen allerdings derzeit noch enger als die nach deutschem Strafverfahrensrecht, denn Art. 103 Abs. 3 GG lässt genügen, dass jemand wegen einer Tat im prozessualen Sinne, für die bereits ein rechtskräftiges Strafurteil ergangen ist, nicht noch einmal einem Strafverfahren unterworfen werden kann. Demgegenüber statuiert Art. 54 SDÜ eine weitere Voraussetzung: Zur rechtskräftigen Aburteilung wegen derselben Tat ("idem") muss - wenn eine Strafe verhängt wurde - ein Vollstreckungselement hinzutreten; die verhängte Sanktion muss bereits vollstreckt worden sein, gerade vollstreckt werden oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden können.
Alle drei Voraussetzungen eines europäischen ne bis in idem - dieselbe Tat, rechtskräftige Aburteilung und ein Vollstreckungselement - waren in den vergangenen fünf Jahren wiederholt Gegenstand von Entscheidungen des EuGH. Allgemein gelten alle diese Entscheidungen als "großzügig", weil die jeweils in Rede stehenden Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ vom EuGH stets weit verstanden worden sind. Der EuGH hat diese Großzügigkeit[10] vor allem mit dem engen Bezug des Doppelbestrafungsverbots zur Ausübung der Grundfreiheiten des EG-Vertrags (Art. 28 ff. EG) begründet.[11] Und das ist auch überzeugend, denn jedenfalls wenn jemand - wie nach einer Einstellung gem. § 153a StPO - wegen des gleichen Tatvorwurfs innerstaatlich nicht noch einmal verfolgt werden dürfte, würde - ließe man in allen anderen EU-Staaten deswegen eine Verfolgung noch zu - der Beschuldigte wohl faktisch daran gehindert, den Erstverfolgungsstaat zu verlassen, müsste er doch nach seiner Ausreise in jeden anderen EU-Staat entweder mit dortiger Strafverfolgung oder mit Auslieferung an den Zweitverfolgungsstaat[12] rechnen.[13] Dies könnte er nur vermeiden, indem er auf die Ausübung seiner Grundfreiheiten aus dem EG-Vertrag verzichtet, die mit einem persönlichen Grenzübertritt verbunden sind.
Neben dem engen Bezug zu den EG-Grundfreiheiten kann man die extensive Interpretation aller Voraussetzungen von Art. 54 SDÜ durch den EuGH aber auch damit begründen, dass die Europäische Union seit Schengen und Maastricht nicht nur einen Binnenmarkt, sondern in dessen Grenzen auch einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts[14] bildet. Der bereits etablierte Binnenmarkt soll zugleich ein Binnenrechtsraum sein. Und ein Binnenstrafrechtsraum zeichnet sich dadurch aus, dass eine darin begangene Straftat eine strafverfahrensrechtliche Antwort findet.[15]
Natürlich wird - aus deutscher Sicht schon im Lichte des Maastricht-Urteils des BVerfG[16] - die Europäische Union nicht zu einem föderalen Bundesstaat, doch können in den unionsweit harmonisierten Bereichen die zugrunde liegenden Rechtsinstrumente letztlich ähnlich weitgehend wie innerhalb eines "echten" (Bundes-)Staates eingesetzt werden. Würde sich aber etwa in der Bundesrepublik Deutschland eine Straftat über das Territorium zweier Bundesländer erstrecken und zunächst in einem von beiden abgeurteilt werden, so tritt aus deutscher Sicht natürlich aufgrund des bundesweit wirkenden ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) auch für die Justiz des anderen betroffenen Bundeslandes Strafklageverbrauch ein.
Der Umstand, dass die Europäische Union kein einheitliches Staatsgebiet hat, sondern der Geltungsbereich des Gemeinschafts- und Unionsrechts sich eben wie ein Puzzle aus den europäischen Hoheitsgebieten ihrer Mitgliedstaaten zusammensetzt,[17] sollte daher bei der Interpretation des Art. 54 SDÜ grundsätzlich außer Betracht bleiben, solange sich nicht aus der jeweils anzuwendenden europarechtlichen Ermächtigungsgrundlage etwas anderes ergibt. Daher hat der EuGH im Kretzinger-Urteil anerkannt, dass eine isolierte Betrachtung der Ausfuhr und Einfuhr von Schmuggelware, die denklogisch an zwei nacheinander liegende Handlungen anknüpfen muss, im Rahmen von Art. 54 SDÜ grundsätzlich nicht vorgenommen werden darf. Vielmehr ist die Schmuggelfahrt als solche von ihrem Beginn in irgendeinem EU-Staat bis zu ihrem Ende in einem anderen EU-Staat unabhängig von der Zahl der zwischenzeitlichen Grenzübertritte und ihrer räumlichen wie zeitlichen Erstreckung - wenn sie nicht zwischenzeitlich unterbrochen wird - eine Tat i. S. eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen.
Letzteres gilt etwa in Bezug auf das in Art. 54 SDÜ geforderte Vollstreckungselement. Innerdeutsch steht das Doppelbestrafungsverbot bereits dann einem neuen Strafverfahren entgegen, wenn der Beschuldigte wegen einer Tat rechtskräftig verurteilt worden ist; eine noch nicht vollstreckte Strafe eröffnet dann nicht den Weg zu einem neuen Verfahren, sondern berechtigt nur zur Durchsetzung der Strafvollstreckung. Dies soll in Zukunft - wenn der Vertrag von Lissabon doch noch von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wird - auch innerhalb der Europäischen Union gelten. Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon sieht nämlich - wie schon zuvor der gescheiterte Verfassungsvertrag in seinem zweiten Teil - vor, dass die Grundrechte-Charta
rechtsverbindlich werden soll. Und Art. 50 GRCh[18] verzichtet - wie Art. 103 Abs. 3 GG - auf das Erfordernis eines Vollstreckungselements, so dass in Zukunft auch innerhalb der EU jede rechtskräftige Aburteilung in einem Mitgliedstaat einer Verurteilung in jedem anderen Mitgliedstaat entgegenstehen soll.
Deshalb hat der EuGH nicht nur - was schon sprachlich nahe liegt - auch einen rechtskräftigen Freispruch in einem EU-Staat - auch wegen nur dort eingetretener Verfolgungsverjährung - als rechtskräftige Aburteilung i. S. von Art. 54 SDÜ angesehen,[19] sondern bekanntlich bereits in einer nach innerstaatlichem Recht nur partiell rechtskraftfähigen Entscheidung von Gericht oder Staatsanwaltschaft, das Verfahren nach Erfüllung von Auflagen einzustellen (wie z. B. gem. § 153a StPO), eine "rechtskräftige Aburteilung" des Beschuldigten erblickt.[20] Maßgeblich für die Frage der Rechtskraft der Aburteilung i. S. von Art. 54 SDÜ ist damit nicht ein Totalverbot, im Erstverfolgerstaat erneut dieselbe Tat zum Gegenstand eines Strafverfahrens zu machen; es genügt vielmehr für ein europäisches ne bis in idem bereits, dass - wie nach § 153a Abs. 1 Satz 5 StPO - dieselbe Tat dort nicht mehr unter demselben rechtlichen Gesichtspunkt (demselben Straftatbestand, mithin einem Vergehen und keinem Verbrechen) verfolgt werden dürfte. Dadurch wird vermieden, dass nicht EU-weit harmonisierte Spezialregelungen des materiellen Strafrechts (hier die technische Abgrenzung von Vergehen und Verbrechen in § 12 Abs.1 StGB) oder des Strafverfahrensrechts von anderen Staaten auf ihre Regelungen übertragen werden müssen.
Dass damit das europäische über das innerstaatliche Doppelbestrafungsverbot hinausgehen kann, ist einerseits sicherlich nicht der praktische Normalfall (selten wird sich eine als Vergehen gem. § 153a StPO eingestellte Tat später als Verbrechen erweisen), andererseits aber auch kein wirkliches Rechtsproblem, denn wenn sich später doch erweisen sollte, dass der Erstverfolgerstaat innerstaatlich nicht an seine rechtskräftige Aburteilung gebunden ist, kann in diesem Staat nach dessen Strafrechtsordnung auch ein neues Strafverfahren eingeleitet werden. Mit der ersten rechtskräftigen Aburteilung i. S. von Art. 54 SDÜ ist damit nicht gesagt, dass es innerhalb der EU nicht doch noch einmal zu einem Strafverfahren wegen derselben Tat kommen kann; es steht nur fest, dass ab diesem Zeitpunkt in keinem anderen als dem Erstverfolgerstaat diese Tat noch strafrechtlich sanktioniert werden darf. Dieses Ergebnis ist auch nur konsequent, stellt es doch sicher, dass der Grenzübertritt nicht zu einer im Erstverfolgerstaat nicht mehr möglichen Strafverfolgung führt und stellt damit kein faktisches Hindernis für eine Inanspruchnahme der Grundfreiheiten in anderen EU-Staaten dar, ohne aber innerstaatlich den Betroffenen gegenüber anderen im gleichen Staat in gleicher Weise Abgeurteilten unterschiedlich zu behandeln.
Weit ist auch der Begriff derselben Tat in der inzwischen ständigen Rspr. des EuGH als "das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse". Damit hat der EuGH einen eigenständigen europarechtlichen Tat-Begriff geprägt, der insbesondere nicht von der (straf)rechtlichen Bewertung in den beteiligten EU-Staaten abhängt; dadurch gilt für alle Strafsachen mit mehr als einer gerichtlichen Zuständigkeit innerhalb der Europäischen Union ein im Grundsatz identischer Tat-Begriff, der vor allem auf das äußere Geschehen und ergänzend auf die Zielrichtung des Täters abstellt. Letztere ist zwar nicht irrelevant, schon weil erst die innere Willensrichtung letztlich etwa das Vorliegen einer einheitlichen Schmuggelfahrt begründet; fährt der Täter ziellos mit der Schmuggelware von Land zu Land und landet schließlich am anderen Ende der EU, ist diese Reihung von Zufällen wohl kein Komplex unlösbar verbundener Tatsachen. Umgekehrt hat der EuGH im Fall "Kraaijenbrink" aber auch betont, dass allein der einheitliche Vorsatz, bestimmte Straftaten zu begehen und die Gewinne danach "reinzuwaschen", nicht genügt, um zwischen Betäubungsmittelstraftaten und Geldwäsche Tatidentität i. S. von Art. 54 SDÜ anzunehmen.[21] Als Komplex i. S. der EuGH-Rechtsprechung könnte man in diesem Falle - soweit von einem einheitlichen Willen getragen -An- und Verkauf, Besitz sowie Ein- und Ausfuhr der Betäubungsmittel ansehen, aber eben weder den vorgelagerten Erwerb des für den Ankauf der BtM erforderlichen Geldes noch die dem Verkauf der BtM nachfolgende Geldwäsche.
Das derzeit noch EU-weit geforderte Vollstreckungselement ist letztlich ein Relikt einer noch nicht so weit entwickelten Union; bereits heute könnte mittels eines Europäischen Haftbefehls ein in einem anderen EU-Staat rechtskräftig Verurteilter dorthin zur Vollstreckung überstellt werden. Noch aber ist das Vollstreckungselement Teil des europäischen ne bis in idem, so dass bei dessen Nichtvorhandensein die Frage eines Strafklageverbrauchs aufgrund eines ausländischen Strafurteils in derselben Sache sich allein nach dem nationalen Strafverfahrensrecht des Zweitverfolgerstaates richtet. Von den drei in Art. 54 SDÜ alternativ genannten Vollstreckungselementen wirft wohl das mittlere - die Strafe wird gerade vollstreckt - die meisten Zweifelsfragen auf; unbestreitbar ist dieses Vollstreckungselement gegeben, wenn der Täter sich gerade im Strafvollzug befindet,[22] doch ist ein derart enges Verständnis vom Wortlaut des Art. 54 SDÜ jeden-
falls nicht geboten, weshalb auch eine laufende Bewährungsfrist genügen kann.[23]
Die bereits in den Entscheidungen vor "Kretzinger" angeklungene Großzügigkeit des EuGH beim Umgang mit Art. 54 SDÜ setzte sich - wenig verwunderlich - in der vom BGH angeregten Vorabentscheidung fort. Der BGH hatte letztlich zwei Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ im Blick, wenn er einerseits den Umfang derselben Tat bei einer Schmuggelfahrt durch die halbe EU und andererseits die Einschlägigkeit eines Vollstreckungselements für eine im EU-Ausland verhängte Bewährungsstrafe sowie für eine dort vollzogene kurzfristige Polizeihaft hinterfragte.
In beiden zu entscheidenden Sachverhalten ging es jeweils um eine "Schmuggelfahrt" mit unversteuerten und verzollten Zigaretten aus Drittländern von Griechenland über Italien, Österreich und Deutschland nach Großbritannien, die aber jeweils in Italien ihr vorzeitiges Ende finden sollten. Die von italienischen Strafgerichten jeweils in Abwesenheit des Angeklagten rechtskräftig abgeurteilten Taten müssten mit den in Deutschland angeklagten Taten identisch gewesen sein. Vorliegend wurde von der deutschen Strafjustiz bereits die Übernahme der Zigaretten in Griechenland als gewerbsmäßige Steuerhehlerei angeklagt (§§ 374 Abs. 2, 370 Abs. 6 S. 1, Abs. 7 AO), von den italienischen Strafgerichten dagegen jeweils erst die Einfuhr und der Besitz ausländischen Tabaks bei der Weiterfahrt nach Italien abgeurteilt. Es stellt sich mithin die Frage, ob die Übernahme von Zigaretten in Griechenland und deren nachfolgende Einfuhr in Italien dieselbe Tat darstellen. Aus deutscher Sicht liegt ein Strafklageverbrauch nur vor, wenn es sich um eine Tat im prozessualen Sinne (§ 264 StPO), mithin um einen einheitlichen Lebenssachverhalt handelt. Dabei sind als maßgebliche Kriterien zu berücksichtigen: Tatort, Tatzeit, Tatobjekt und Angriffsrichtung.[24] Bei dieser Schmuggelfahrt durch verschiedene Länder, die notwendig einen nicht unerheblichen Zeitraum erfassen wird (schon der Transfer von Griechenland nach Italien dauert seine Zeit) bestünden wohl Zweifel, ob es sich dabei noch um einen einheitlichen Lebenssachverhalt handelt, jedenfalls in Bezug auf die maßgeblichen Tatorte (irgendwo in Griechenland bzw. ab der italienischen Grenze) und Tatzeit. Allerdings verliert der BGH dazu mit Recht kein Wort, denn selbst bei Tatidentität i. S. von § 264 StPO folgt allein aus dem deutschen Strafverfahrensrecht kein Strafklageverbrauch, weil ja aus Sicht des deutschen Verfassungs- und Strafverfahrensrechts auch eine Aburteilung derselben Tat im Ausland im Inland kein Prozesshindernis darstellt. Maßgeblich hierfür ist allein Art. 54 SDÜ und mithin der von dieser Norm zugrunde gelegte Begriff derselben Tat - das europarechtliche "idem".
Und in Bezug auf Tatort und Tatzeit hatte sich der EuGH bereits in früheren Entscheidungen großzügig gezeigt. So hat er in der Entscheidung "Van Straaten" bereits den Transport von Heroin durch Italien und die Niederlande als einheitliche Tat i. S. v. Art. 54 SDÜ bewertet[25] und damit zu erkennen gegeben, dass es weder auf einen einheitlichen Tatort noch auf ungefähr den gleichen Tatzeitpunkt ankommen soll. Vielmehr prägte er hier erstmals die im Kretzinger-Urteil wiederholte Definition des Tat-Begriffs in Art. 54 SDÜ als "Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung der Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse". Im Kretzinger-Urteil hatte der EuGH diesen Tatbegriff konkretisiert und die in der Vorlagefrage des BGH angeführte Schmuggelfahrten durch mehrere EU-Staaten angesichts des von Anfang an auf eine solche Fahrt gerichteten Tatvorsatzes als Vorgänge angesehen, "die unter den Begriff "dieselbe Tat" im Sinne dieses Art. 54 SDÜ fallen können", wenngleich insoweit das letzte Wort bei den nationalen Strafgerichten liege. Theoretisch hatte der BGH damit zwar weiterhin freie Hand, auch eine Identität der Taten zu verneinen, doch war dieser Weg durch die Andeutungen des EuGH wohl nicht wirklich offen. Der BGH erkennt dies auch ganz richtig, wenn er annimmt, die Verneinung der Tatidentität i. S. v. Art. 54 SDÜ bei einer einheitlich geplanten und durchgeführten Schmuggelfahrt erfordere "besondere Umstände des Einzelfalls", die vorliegend nicht gegeben sind.
Solche Umstände lassen sich - das hatte der EuGH ja auch deutlich gesagt - nicht aus einer möglicherweise unterschiedlichen rechtlichen Ausgestaltung der nationalen Straf- und Steuerrechtsnormen ableiten. Der BGH will dabei explizit offen lassen, ob ein europäisches ne bis in idem auch dann gelten soll, wenn im Erstverurteilungsstaat aufgrund von dessen begrenzter Jurisdiktionsgewalt nicht alle Aspekte des Tat-Komplexes - wie ihn der EuGH ja für Art. 54 SDÜ als maßgeblich erachtet - abgeurteilt werden können; angesichts dessen, dass wirtschaftlich gesehen der durch die Schmuggelfahrt entstandene Gesamtschaden in Italien jedenfalls bei der dortigen Strafzumessung Berücksichtigung hätte finden können und - was der BGH mit Blick auf das Loyalitätsgebot aus Art. 10 EG betont - auch hätte finden müssen.
Aber selbst wenn gravierende nationale Rechtsunterschiede entweder auf dem Gebiet des Strafrechts oder aber auf dem des zugrunde liegenden Steuerrechts vorliegen, wird man im Lichte der Rspr. des EuGH kaum anders entscheiden können; die Grundfreiheiten des Angeklagten streiten stets dafür, dass er nach Vollstreckung der ersten Strafe die innereuropäischen Grenzen ohne Furcht vor neuer Strafverfolgung passieren kann und die Idee eines einheitlichen Rechtsraumes zur Durchsetzung von Freiheit und Sicherheit - frei nach Art. 29 Abs. 1 EU - fordert letztlich auf eine Straftat im Binnenraum der EU jedenfalls nicht mehr als eine Antwort. Nun kann es zwar sein, dass die Steuersätze in den einzelnen EU-Staaten erheblich divergieren, so dass der bei
der Strafzumessung wegen Steuerhinterziehung o. ä. zu berücksichtigende Schaden für den Fiskus ein anderer ist, wenn es um die Betrachtung der Einfuhr ins Inland oder in ein anderes EU-Land geht.
Allerdings erscheint mir dieser Umstand - der immerhin beim BGH anklingt - letztlich nicht maßgeblich, denn ebenso gut könnte bei gleicher straf- und steuerrechtlicher Bewertung die nationale Strafzumessung divergieren. Dass aber vielleicht in den Niederlanden ein grenzüberschreitender Drogendeal eine viel niedrige Strafe "verdient" als in Deutschland, kann nicht die Wirkung des Art. 54 SDÜ aushebeln, denn dieser stellt nur darauf ab, dass eine Tat bereits bestraft worden ist, nicht aber welche Strafe dafür verhängt wurde. Daher kommt es wohl weder darauf an, wie hoch der strafrechtlich relevante Schaden - der bei unterschiedlichen nationalen Steuerarten und -sätzen divergiert - oder die typischerweise dafür verhängte Strafe ist, noch an welchen Versteuerungstatbestand konkret angeknüpft wird (Erwerb, Einfuhr, Ausfuhr, Besitz etc.).
Die beiden der Vorlagefrage zugrunde liegenden Sachverhalte unterschieden sich nur in Hinsicht auf die Reaktionen der italienischen Polizei- und Justizorgane, welche die Schmuggelfahrten jeweils beendeten. Im ersten Fall kam es zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe unter Strafaussetzung zur Bewährung; im zweiten Fall erfolgte eine noch nicht verbüßte Freiheitsstrafe ohne Bewährung, doch befand sich hier der Angeklagte während des Ermittlungsverfahrens kurzfristig in Polizei- bzw. Untersuchungshaft, die auf die zu verbüßende Freiheitsstrafe angerechnet werden könnte. Während der EuGH während des Laufs der Bewährungsfrist eine "Gerade-Vollstreckung" bejaht, verneint er das Vorliegen eines Vollstreckungselements mit Blick auf die Polizei- und/oder Untersuchungshaft, weil diese eher präventiven und nicht repressiven Zwecken dient.[26] Diese Verneinung eines Vollstreckungselements unterstreicht er noch sprachlich dadurch, dass nach dem Wortlaut von Art. 54 SDÜ vor jedem Vollstreckungselement zeitlich die rechtskräftige Verurteilung liegen muss, was bei Freiheitsentziehungen im Ermittlungsverfahren notwendig ausscheidet; allerdings erscheint mir dieses Argument nicht so zwingend, denn wenn - wie wohl in der Rechtspraxis nicht selten - die schließlich verhängte Freiheitsstrafe die bereits erlittene Untersuchungshaft allenfalls marginal übersteigt ("U-Haft schafft Rechtskraft"), dann erfolgt zwar die Anrechnung auf die verhängte Strafe erst im dem in Rechtskraft erwachsenden Urteil, doch wurde diese Strafe faktisch bereits zuvor "vollstreckt". Dem Ergebnis des EuGH ist aber vorliegend schon deswegen beizupflichten, weil hier gar nicht erkennbar ist, welches der drei Vollstreckungselemente des Art. 54 SDÜ überhaupt einschlägig sein soll: Weder ist die Freiheitsstrafe bereits vollständig - auch bei Anrechnung der Polizei- bzw. Untersuchungshaft - verbüßt, noch könnte sie in Italien nicht mehr vollstreckt werden; und dass derzeit die in Italien verhängte unbedingte Freiheitsstrafe - schon mangels Inhaftierung hierzu - nicht "gerade vollstreckt" wird, versteht sich von selbst.
Dass der BGH angesichts der wenig überraschenden Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren den bereits in Venedig mit einer Bewährungsstrafe rechtskräftig abgeurteilten Tatkomplex gem. § 206a StPO einstellt, kann nicht verwundern; es ist nur die logische Konsequenz aus der bereits seit fünf Jahren sich entwickelnden Rechtsprechung des EuGH, die einen grenzüberschreitend weiten Tat-Begriff mit einer relativ großzügigen Handhabung der gerade andauernden Vollstreckung kombiniert.
Von Interesse erscheint demgegenüber die Einstellung wegen des zweiten noch verhandelten Komplexes. Nachdem der EuGH deutlich gemacht hat, dass der Vollzug kurzfristiger Polizei- oder Untersuchungshaft keine Vollstreckung eines Strafurteils darstellt, ist insoweit Art. 54 SDÜ nicht einschlägig, womit daraus innerstaatlich auch kein Prozesshindernis erwachsen kann, stellt der BGH das Verfahren hierfür gem. § 154 Abs. 2 StPO ein, weil neben der verhängten Gesamtstrafe von viereinhalb Jahren die für diesen Fall verhängte Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr nicht beträchtlich ins Gewicht falle (§ 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO). Das mag sein; bemerkenswerter ist aber noch die weitere Erwägung, dass bei der im Falle einer Einbeziehung dieser Einzelfreiheitsstrafe die Länge des Verfahrens und dabei gerade auch die über vierjährige Dauer des Revisionsverfahrens ("insbesondere wegen des beim EuGH durchgeführten Vorabentscheidungsverfahrens") berücksichtigt werden müsste. Damit legt der BGH den Finger auf eine Wunde, denn so begrüßenswert es ist, dass Fragen des Europarechts - und damit auch zum Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ - EU-weit soweit irgend möglich[27] einheitlich beantwortet werden, so problematisch ist es andererseits, wenn aufgrund dieses (Um-)Weges über Luxemburg ein ohnehin schon zähes Verfahren in Deutschland noch weiter in die Länge gezogen wird. Während der Klärung europarechtlicher Vorfragen schwebt bildlich gesprochen das Damoklesschwert einer gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßenden Überlänge des laufenden Verfahrens, das - schlägt es auf dieses hernieder - zugleich auch dem Vorabentscheidungsverfahren den Boden entzieht. Diese Gefahr hätte in dem Maße zugenommen, in dem auch in Strafverfahren europarechtliche Vorfragen vorab in Luxemburg einer Klärung hätten zugeführt werden müssen.
Der EuGH hat dieses Dilemma vor allem im Strafprozess, in dem - anders als in Zivil- und Verwaltungsgerichtsverfahren - kein einstweiliger Rechtsschutz zur Abmilderung der zeitlichen Nachteile einer verzögerten Beendigung zur Verfügung steht, erkannt[28] und deswegen eine
Änderung der Verfahrensordnung angeregt, die inzwischen in Kraft getreten ist und in Zukunft dazu führen soll, dass Vorabentscheidungsverfahren innerhalb der dritten Säule beschleunigt betrieben werden können, so dass der Gang nach Luxemburg nur noch in geringerem Maße zu einer Verlängerung eines Strafverfahrens beitragen kann.[29]
[1] BGHSt 37, 168, 175.
[2] BGHSt 37, 333, 336 f.
[3] Vgl. Dannecker, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), FG-BGH IV (2000), S. 339, 341.
[4] Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. (2007), § 13 Rn. 21 ff.
[5] BGH wistra 2005, 461.
[6] ABl.EU 2007, Nr. C 235/4.
[7] Art. 54 SDÜ lautet: "Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaat nicht mehr vollstreckt werden kann" .
[8] BVerfGE 75, 1, 18 ff.
[9] Vgl. dazu nur Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht (2004), S. 142 ff.
[10] So etwa auch in EuGH, Slg. 2006, I-2333 (= JZ 2006, 1018 m. Anm. Kühne) und I-9327 (= JZ 2007, 245 m. Anm. Kühne).
[11] EuGH, Slg. 2003, I-1345;Slg. 2005, I-2009; Slg. 2006, I-9327. - Zu den Begründungsansätzen für ein Doppelbestrafungsverbot Mansdörfer, Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht, 2004, S. 32 ff.; Asp/von Hirsch/Frände ZIS 2006, 512, 513.
[12] Vgl. nur die Konstellation bei BGHSt 45, 123.
[13] Vgl. nur Heger ZIS 2007, 547, 551.
[14] Vgl. dazu nur Kraus-Vonjahr, Der Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa (2002).
[15] Vgl. Heger ZIS 2007, 547, 551.
[16] BVerfGE 89, 155.
[17] Vgl. nur Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. (2005), § 4. Rn. 35 f.
[18] Art. 50 GRCh lautet: "Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden." Dazu vgl. Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta (2006), Art. 50 Rn. 1 ff.
[19] EuGH, Slg. 2006, I-9199 "Gasparini".
[20] EuGH, Slg. 2003, I-1345. - Vgl. dazu nur Vogel/Norouzi JuS 2003, 1059; Kühne JZ 2003, 305; Hecker (o. Fn. 4), § 13 Rn. 26 ff.
[21] EuGH, Slg. 2007, I-6619.
[22] So OLG Saarbrücken, StV 1997, 359, 360.
[23] Hecker (o. Fn. 4), § 13 Rn. 47.
[24] Vgl. nur Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. (2008), Rn. 513 m. w. N.
[25] EuGH, Slg. 2006, I-9327.
[26] EuGH, Slg. 2007, I-6441.
[27] Allerdings sieht Art. 35 II EU nur die Möglichkeit eines "opt-in" vor, vom der nicht alle EU-Staaten Gebrauch gemacht haben, so dass ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH innerhalb der dritten Säule nicht in allen EU-Staaten vorgesehen ist (vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 13 Rn. 23).
[28] Vgl. Dok 11759/07 vom 11.7.2007 und Dok 11824/07 vom 13.7.2007. - Vgl. bereits Schomburg NJW 2000, 1833, 1839.
[29] ABl. 2008 Nr. L 24, S. 39; dazu Gardette EuZW 2008, 98 f.