HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 829
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2111/06, Beschluss v. 05.05.2008, HRRS 2008 Nr. 829
1. Der Beschluss des Landgerichts Meiningen vom 19. Juni 2006 - 4 StVK 255/06 und 274/06 - und der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 21. September 2006 - 1 Ws 262/06 -verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 6 Absatz 1 und Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes, soweit darin der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Versagung einer Besuchsüberstellung durch die Justizvollzugsanstalt U. als unbegründet zurückgewiesen beziehungsweise die diesbezügliche Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen wird. Die Beschlüsse werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung an das Landgericht Meiningen zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Land Thüringen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Hans Korte, Kassel.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung der Überstellung eines Gefangenen zu Besuchszwecken wegen Überbelegung der aufnehmenden Justizvollzugsanstalt.
1. Der Beschwerdeführer war vor seiner im Juli 2007 erfolgten Verlegung in die Justizvollzugsanstalt S. längere Zeit in der Justizvollzugsanstalt K. (Hessen) untergebracht. Unter dem 6. März 2006 beantragte er bei der Justizvollzugsanstalt U. (Thüringen), ihn für eine Besuchszusammenführung mit seiner Mutter am 13. April 2006 kurzzeitig aufzunehmen. Die Anstalt lehnte den Antrag unter Verweis auf die angespannte Belegungssituation im Freistaat Thüringen ab und teilte der Justizvollzugsanstalt K. mit, dass sich an dieser Situation in nächster Zeit nichts ändern und ein weiterer Antrag daher ohne Erfolgsaussicht sein werde.
2. a) Der Beschwerdeführer stellte daraufhin unter dem 16. März 2006 beim Landgericht Meiningen Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 StVollzG) mit dem Ziel, die Anstalt zur Aufnahme verpflichten zu lassen, sowie Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 123 VwGO). Die Überstellung nach U. solle ihm, gemäß seinem Rechtsanspruch aus § 24 StVollzG in Verbindung mit Art. 6 GG, einen Besuch seiner Mutter ermöglichen, die im vier Kilometer von dort entfernten Meiningen lebe. Die Mutter, die sein einziger Außenkontakt sei, sei aufgrund ihres Alters reiseunfähig und könne ihn daher nicht in K. besuchen. Seit einer einmaligen Aufnahme im Dezember 2005 habe die Justizvollzugsanstalt U. seine Anträge auf Besuchsüberstellung ausnahmslos unter Hinweis auf die bestehende Überbelegung als objektiv unmöglich abgelehnt. Er bezweifle indes, dass eine kurzzeitige Aufnahme der Anstalt tatsächlich unmöglich sei, zumal er auch im Falle einer sich abzeichnenden Gerichtsverhandlung in Meiningen Aufnahme finden müsse, ohne dass die Anstalt dies unter Berufung auf fehlende räumliche Kapazitäten ablehnen könnte. Der Umstand, dass die Anstalt nicht angeboten habe, ihn für den Fall eines frei werdenden Unterbringungsplatzes kurzfristig zu informieren, belege, dass tatsächlich gar kein Interesse daran bestehe, seine Überstellung zu ermöglichen. Stattdessen lasse die kontinuierliche Wiederholung der immer gleichen Ablehnungsgründe in diesem und in anderen Fällen den Eindruck entstehen, dass eine Einzelfallprüfung seiner Anträge überhaupt nicht stattfinde.
Unter dem 20. März 2006 beantragte der Beschwerdeführer erneut bei der Justizvollzugsanstalt U. seine Überstellung. Notfalls sei er auch mit einer Unterbringung in den Arresträumlichkeiten der Anstalt einverstanden.
Mit Antrag vom 27. März 2006 an das Landgericht Meiningen begehrte er die Feststellung, dass die Ablehnung der für den 13. April 2006 beantragten Überstellung rechtswidrig gewesen sei. Die Anstalt selbst teile mit, dass ständig Belegungsausgleiche mit anderen Haftanstalten einschließlich des dazugehörigen regen Zu- und Abgangs in der Anstalt durchgeführt würden. Offensichtlich seien also Aufnahmekapazitäten vorhanden oder könnten zumindest kurzfristig geschaffen werden. Dem Gericht sei ein gültiger Belegungsplan vorzulegen.
Die Anstalt verwies in ihrer Stellungnahme darauf, dass die nach § 8 Abs. 2 StVollzG mögliche Überstellung eines Gefangenen aus wichtigem Grund im Ermessen der beteiligten Behörden liege. Zwar stelle eine Besuchszusammenführung einen wichtigen Grund im Sinne dieser Vorschrift dar, wenn der Besuch in der für den Gefangenen zuständigen Anstalt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten möglich sei. Auch sei tatsächlich davon auszugehen, dass die Mutter des Beschwerdeführers reiseunfähig sei und ihn nicht in K. besuchen könne. Im Fall der Überstellung müsse aber gewährleistet sein, dass die Anstalt, in der der Besuch durchgeführt werden solle, aufnahmefähig bleibe. Die Justizvollzugsanstalt U. sei jedoch derzeit ständig überbelegt. Hinzu kämen die durchzuführenden Belegungsausgleiche mit anderen Anstalten des Landes, so dass kaum mehr die Gefangenen untergebracht werden könnten, für die man zuständig sei. Die - wenn auch nur kurzzeitige - Aufnahme eines Gefangenen eines anderen Landes für eine Besuchszusammenführung sei angesichts dieser Situation, wie im zurückliegenden Antragszeitraum, so auch gegenwärtig objektiv unmöglich. Auf Anforderung des Belegungsplans hin wurde im Juni 2006 seitens der Anstalt telefonisch mitgeteilt, einen Belegungsplan gebe es nicht. Gemessen an der "offiziell bekannt gegebenen Soll-Zahl" von 363 Gefangenen sei die Justizvollzugsanstalt U. jedoch ständig mit 120 bis 125 Gefangenen überbelegt. Etwaige Statistiken würden nicht in der Anstalt, sondern im Justizministerium geführt.
b) Mit Beschluss vom 19. Juni 2006 verwarf das Landgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und wies die in der Hauptsache gestellten Anträge vom 16. März 2006 und vom 27. März 2006 zurück.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz sei bereits wegen sachlicher Ungeeignetheit unzulässig, da abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall, dass die Behörde ihr Ermessen nur in einer bestimmten Richtung ausüben dürfe, die Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung im Eilverfahren nicht möglich sei.
Der nach § 109 StVollzG gestellte Verpflichtungsantrag sei unbegründet. Angesichts der der Kammer auch aus anderen Verfahren hinreichend bekannten Haftsituation in der Justizvollzugsanstalt U. sei eine fehlerhafte Ermessensausübung nicht erkennbar. Durch die ständige Überbelegung der Anstalt könne im Falle von Besuchsüberstellungen nicht mehr gewährleistet werden, dass die Anstalt aufnahmefähig bleibe. Ein Ausgleich sei auch nicht über andere Justizvollzugsanstalten im Freistaat Thüringen möglich, da auch in diesen eine überaus angespannte Belegungssituation vorherrsche. Besuchsverlegungen behinderten insoweit die Durchführung eines geordneten Vollzugs oder höben sie sogar auf. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot sei nicht erkennbar, zumal keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Anstalt mit anderen Gefangenen bei gleichem Sachverhalt anders verfahre. Die Ablehnung des Besuchsantrags sei damit zu Recht erfolgt. Eine Verpflichtung der Anstalt zur Aufnahme des Beschwerdeführers komme nicht in Betracht. Aus denselben Gründen sei auch der Feststellungsantrag vom 27. März 2006 abzulehnen.
3. Die gegen die Entscheidung in der Hauptsache eingelegte Rechtsbeschwerde verwarf das Thüringer Oberlandesgericht mit Beschluss vom 21. September 2006 als unzulässig. Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG seien nicht gegeben. Gegen das landgerichtliche Unterlassen weiterer Sachaufklärung hinsichtlich der behaupteten Überbelegung bestünden keine rechtlichen Bedenken. Auch beim Oberlandesgericht sei gerichtsbekannt, dass, soweit der geschlossene Vollzug in Rede stehe, sämtliche Thüringer Haftanstalten überbelegt seien. Infolgedessen sei die mit Rücksicht auf die Haftbedingungen der vollzugsplanmäßig Untergebrachten sehr restriktive Handhabung der Besuchsaufnahme von Gefangenen aus anderen Bundesländern nicht zu beanstanden. Das rechtfertige zwar nicht die generelle Ablehnung einer Überstellung für alle Zukunft; dies habe aber auch das Landgericht nicht verkannt.
4. In einem vom Beschwerdeführer - parallel zu fortgesetzten Bemühungen um Besuchsüberstellung - geführten gerichtlichen Verfahren mit dem Ziel, eine Verlegung in die Justizvollzugsanstalt U. gemäß § 8 Abs. 1 StVollzG zu erreichen, erklärte das Thüringer Justizministerium mit Schriftsatz vom 28. November 2006, dass sich die Belegungssituation in der Justizvollzugsanstalt U. durch die Eröffnung zweier neuer Hafthäuser in einer anderen Anstalt des Landes merklich entspannt habe. Eine Besuchsüberstellung des Beschwerdeführers sei daher erstmals für den 13. Dezember 2006 geplant und zukünftig grundsätzlich alle zwei Monate möglich. Die Verwerfung der in diesem Verfahren erhobenen Rechtsbeschwerde begründete das Oberlandesgericht (Beschluss vom 15. Januar 2007 - 1 VAs 5/06 -) unter anderem damit, dass dem berechtigten Interesse des Beschwerdeführers an Besuchskontakten mit seinen Verwandten durch regelmäßige Überstellungen von K. nach U. Rechnung getragen werden könne.
Einen neuerlichen Antrag des Beschwerdeführers auf Besuchsüberstellung beschied die Justizvollzugsanstalt U. im März 2007 dahingehend, dass angesichts der durch das Thüringer Justizministerium "neu festgelegten und nunmehr gültigen Belegungszahl der hiesigen JVA von 325 Gefangenen" wiederum eine aktuelle Überbelegung eingetreten sei; die Aufnahme des Beschwerdeführers zu Besuchszwecken könne daher zukünftig nicht mehr erfolgen, da seine menschenwürdige Unterbringung nicht gewährleistet werden könne. Weitere Ablehnungen mit ähnlicher Begründung folgten im Juni, Juli und August 2007.
Mit der am 6. Oktober 2006 eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, die angegriffenen Entscheidungen verletzten Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 23 Abs. 3 GG (gemeint wohl: Art. 20 Abs. 3 GG). Das Landgericht habe auch im Eilverfahren eine Ermessensüberprüfung vornehmen müssen. Nach dem Amtsermittlungsgrundsatz habe es dem Gericht zudem oblegen, sich gegebenenfalls persönlich durch Aufsuchen der Justizvollzugsanstalt U. ein Bild von der tatsächlichen Belegungssituation zu machen. Aus dem Umstand, dass die Anstalt ständig Gefangene aufnehme und wieder abgebe, folge, dass seine kurzzeitige Unterbringung im Rahmen einer Besuchsüberstellung ebenfalls möglich gewesen wäre.
Das Justizministerium des Freistaates Thüringen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
1. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Verwerfung des Antrags auf einstweilige Anordnung durch den Beschluss des Landgerichts vom 19. Juni 2006 richtet, ist sie schon wegen Versäumung der Verfassungsbeschwerdefrist (§ 93 Abs. 1 BVerfGG) nicht zur Entscheidung anzunehmen.
2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen insoweit vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde im bezeichneten Umfang offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen, soweit sie den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Versagung einer Besuchsüberstellung betreffen, den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG.
a) aa) Art. 6 Abs. 1 GG stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Dieser verfassungsrechtliche Schutzauftrag gilt auch für den Haftvollzug (vgl. BVerfGE 42, 95 <101>; 89, 315 <322>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 - 2 BvR 1479/93 -, juris, und vom 19. April 2006 - 2 BvR 818/05 -, juris) und erstreckt sich dabei auch auf das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (vgl. BVerfGE 57, 170 <178>). Der Anspruch Gefangener darauf, dass Kontakt zu ihren Angehörigen in angemessenem Umfang ermöglicht wird, findet eine weitere Grundlage in der Verpflichtung des Staates auf einen am Ziel der sozialen Integration orientierten Strafvollzug (vgl. BVerfGE 116, 69 <85> - stRspr); denn Bestand und Stärkung der Familienbeziehungen sind diesem Ziel regelmäßig förderlich (vgl. BVerfGE 89, 315 <322 f.>; BVerfGK 8, 36 <41>). Unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG stehen die Familienbeziehungen des Gefangenen jedoch auch unabhängig davon, ob sie zu dessen Resozialisierung beitragen können (vgl. BVerfGE 89, 315 <322>).
Haft von längerer Dauer stellt für die Beziehungen des Gefangenen zu seiner Familie regelmäßig eine erhebliche Belastung dar und kann zu dauerhafter Entfremdung beitragen. Aufgabe des Staates ist es, unter angemessener Beachtung der Belange der Allgemeinheit solche nachteiligen Auswirkungen des Freiheitsentzugs im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zu begrenzen (vgl. BVerfGE 42, 95 <101>; BVerfGK 8, 36 <41>).
Es liegt in der Natur des Freiheitsentzuges, dass Besuchskontakte zwischen Gefangenen und außerhalb der Anstalt lebenden Personen nur mit Einschränkungen möglich sind. Für die Bestimmung der zulässigen Beschränkungen sind auch die räumliche und personelle Ausstattung der jeweiligen Justizvollzugsanstalt und die sich daraus ergebenden Grenzen für die Möglichkeit der Durchführung von Besuchen in Betracht zu ziehen (vgl. BVerfGE 42, 95 <100 f.>). Selbst der Gefangene in Untersuchungshaft, erst recht demnach der Strafgefangene, kann nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden (vgl. BVerfGE 34, 369 <380 f.>; 34, 384 <402>; 35, 307 <310>; 42, 95 <100 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 - 2 BvR 1229/07 -, www.bverfg.de). Andererseits bestehen aber Grundrechte nicht nur nach Maßgabe dessen, was an Verwaltungs- oder Justizeinrichtungen tatsächlich oder üblicherweise vorhanden ist. Dies gilt auch für den Haftvollzug (vgl. BVerfGE 15, 288 <296>; 34, 369 <380 f.>; 40, 276 <284>; 116, 69 <89 f.>). Der Staat kann grundrechtliche und einfachgesetzlich begründete Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben dadurch verkürzen, dass er die Vollzugsanstalten nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich wäre. Vielmehr setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die notwendige Beschaffenheit staatlicher Einrichtungen. Der Staat ist verpflichtet, Vollzugsanstalten in der zur Wahrung der Grundrechte erforderlichen Weise auszustatten (vgl. BVerfGE 40, 276 <284>; 45, 187 <240>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 - 2 BvR 806/94 -, NJW 1995, S. 1478 <1479>, und vom 10. Januar 2008 - 2 BvR 1229/07 -, www.bverfg.de, Rn. 27, m.w.N.). Sind vorhandene Vollzugseinrichtungen und deren Ausstattung so beschaffen, dass Rechte der Gefangenen nicht gewahrt werden können, ohne dass dadurch Rechte anderer Gefangener oder sonstige Belange von vergleichbarem Gewicht beeinträchtigt werden, so folgt auch hieraus nicht, dass die insoweit auf der einen oder anderen Seite unvermeidlichen Beeinträchtigungen ohne weiteres und unabhängig von laufenden Bemühungen um kurzfristige Abhilfe als rechtmäßig hinzunehmen wären (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 - 2 BvR 1229/07 -, www.bverfg.de, Rn. 30).
Die Frage, wie mit derartigen Notsituationen umzugehen ist, stellt sich im Übrigen erst, wenn feststeht, dass eine auch mit besonderem Einsatz nicht vermeidbare Notsituation tatsächlich vorliegt. Drohen aufgrund unzureichender Ausstattung von Haftanstalten Beeinträchtigungen, die normalerweise von Rechts wegen nicht hinnehmbar sind, so sind den Anstalten und ihren Trägern besondere Anstrengungen zum Ausgleich des Mangels und zur zügigen Abhilfe abzuverlangen; das Niveau der "zumutbaren Anstrengungen" (vgl. BVerfGE 42, 95 <102>) bemisst sich insoweit nach der staatlichen Verantwortung für die Ausstattung des Vollzuges mit den für die rechtmäßige Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Mitteln. Unter anderem kann es bei Knappheit der räumlichen Ausstattung geboten sein, unter Einsatz des dazu notwendigen Personals eine übermäßige Beengtheit der Haftraumunterbringung durch entsprechend großzügige Aufschlusszeiten zu kompensieren (zu dieser Möglichkeit BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 2354/04 -, EuGRZ 2008, S. 82), räumlich und personell bedingte Engpässe hinsichtlich der Ermöglichung von Besuchen durch den Einsatz von Überstunden auszugleichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 - 2 BvR 806/94 -, NJW 1995, S. 1478 <1479>) und alle Möglichkeiten der Problementschärfung durch Verlegung von Gefangenen - soweit sich diese als das grundrechtsschonendere Mittel darstellt - auszuschöpfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 2201/05 -, www.bverfg.de; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16. März 1993, NStZ 1993, S. 404 <406>; zum Maßregelvollzug Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 2354/04 -, EuGRZ 2008, S. 81; zur Untersuchungshaft Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2007 - 2 BvR 939/07 -, EuGRZ 2008, S. 83).
bb) Die hiernach entscheidungserheblichen Umstände haben die Gerichte aufzuklären. Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die rechtsstaatlich gebotene Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten materiellen Rechte nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht (vgl. BVerfGE 101, 275 <294 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. Oktober 2004 - 2 BvR 779/04 -, EuGRZ 2004, S. 656 <659>). Das Rechtsstaatsprinzip, die materiell berührten Grundrechte und das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG sind verletzt, wenn grundrechtseingreifende Maßnahmen im Haftvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Januar 2008 - 2 BvR 1661/06 -, www.bverfg.de, m.w.N.).
b) Nach diesen Maßstäben können die angegriffenen Entscheidungen keinen Bestand haben. Beide Gerichte haben das Gewicht der im vorliegenden Fall auf dem Spiel stehenden grundrechtlichen Belange des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 GG, die sich daraus ergebenden Anforderungen an die Justizvollzugsanstalt und deren Träger sowie die diesbezüglichen gerichtlichen Pflichten zur Sachverhaltsaufklärung verkannt.
Beide Entscheidungen würdigen nicht, dass das Interesse eines Gefangenen an der Pflege von Besuchskontakten mit seinen Angehörigen von Art. 6 Abs. 1 GG auch dann geschützt wird, wenn solche Kontakte nur durch Besuchsüberstellungen oder Verlegung ermöglicht werden können (vgl. BVerfGK 8, 36 <41 ff.>), dass dieses grundrechtlich geschützte Interesse in außerordentlich schwerwiegender Weise beeinträchtigt ist, wenn monatelang, und zudem noch ohne irgendeine konkrete Änderungsperspektive, jede Begegnung mit der wichtigsten, im vorliegenden Fall sogar der einzigen, familiären Bezugsperson versagt bleibt, und dass es nicht in der Hand des Staates liegen kann, eine solche in der Strafhaft an sich nicht hinzunehmende Beeinträchtigung der Familienbeziehungen des Gefangenen dadurch in den Bereich des Rechtmäßigen zu rücken, dass er seiner Pflicht, die Vollzugsanstalten in der erforderlichen Weise auszustatten, nicht nachkommt. In der Folge verkennen die Gerichte auch die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung, die sich aus der Notwendigkeit fundierter Feststellungen zur Unvermeidbarkeit einer derartigen Beeinträchtigung - auch unter der Berücksichtigung der besonderen Anstrengungen, die dem Staat im Hinblick auf seine Pflicht zu hinreichender Ausstattung der Vollzugsanstalten abzuverlangen sind - ergeben (s.o. unter IV. 2. a).
Das Landgericht hat schon die Erforderlichkeit der Versagung einer Besuchsüberstellung nicht in der gebotenen Weise festgestellt. Ob es der Vollzugsanstalt und ihrem Träger auch bei Aufbietung der nach Art. 6 Abs. 1 GG zu fordernden besonderen Anstrengungen nicht möglich war, eine kurzzeitige Unterbringungsmöglichkeit für den Beschwerdeführer zu schaffen, wurde nicht aufgeklärt. Allein der Verweis der Anstalt auf bestimmte "Soll"- und "Ist"-Belegungszahlen genügte insoweit nicht. Auf welcher Grundlage die angegebene "Soll"-Zahl ermittelt wurde, hat das Gericht nicht festgestellt. Bereits damit fehlte jede Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob und von welchem Punkt an die Überschreitung dieser Soll-Zahl zu derart unzumutbaren Haftbedingungen führte, dass ein weiterer Zugang auch unter Berücksichtigung des Gewichts der Belange, die für eine Besuchsüberstellung des Beschwerdeführers sprachen, nicht vertretbar war.
Dies illustriert eine im Januar 2007 vom Justizministerium gegebene Antwort auf eine Große Anfrage im Landtag. Für die Justizvollzugsanstalt U. gab das Ministerium folgende Zahlen an: festgesetzte Belegungsfähigkeit gemäß § 145 StVollzG: 378 Gefangene; festgesetzte Belegungsfähigkeit gemäß § 146 Abs. 2 StVollzG: 453 Gefangene; Notbelegung unter Ausschöpfung aller Kapazitäten: 491 Gefangene; tatsächliche Belegung: 455 Gefangene (Stichtag: 30. Juni 2006; Antwort des Thüringer Justizministeriums auf die Große Anfrage der Fraktion der Linkspartei.PDS, Drucksache 4/2330 vom 9. Januar 2007, S. 3). Danach lag die Belegung der Justizvollzugsanstalt U. am gewählten Stichtag und damit nahe am gewünschten Termin für die Überstellung des Beschwerdeführers um 36 Gefangene unter der bei Ausschöpfung aller Kapazitäten möglichen Notbelegung der Anstalt.
Das Landgericht hat sich auch mit der vom Beschwerdeführer der Sache nach aufgeworfenen Frage, ob im Rahmen der nach Angaben der Anstalt ohnehin stattfindenden ständigen Fluktuation allen jeweiligen Neuzugängen eine im Verhältnis zu den Belangen des Beschwerdeführers gleiche oder höhere Priorität zukam, nicht befasst. Ebensowenig ist es der Frage nachgegangen, ob Möglichkeiten der Abhilfe durch Verlegungen - die nicht nur innerhalb eines Landes in Betracht kommen - bestanden und welche Anstrengungen darüber hinaus staatlicherseits unternommen wurden, um dem Missstand zügig abzuhelfen.
Das Oberlandesgericht hätte dementsprechend die Unterlassung weiterer Sachverhaltsaufklärung durch das Landgericht nicht als rechtmäßig bestätigen dürfen.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Sie sind daher im angegebenen Umfang aufzuheben; die Sache ist insoweit an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 829
Externe Fundstellen: StV 2008, 424
Bearbeiter: Stephan Schlegel