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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2008
9. Jahrgang
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Arndt Sinn : Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten. Zurechnung und Freistellung durch Macht, 1. Aufl., Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-161-49206-8, XIX, 400 S., 84,00 EUR.
I. Unter den wissenschaftlichen Monographien gibt es (u.a. und mit Überschneidungen im Detail) zwei Arten von Werken: Die einen behandeln ein an sich altbekanntes Problem auf der Grundlage des bisherigen Meinungsstandes, der ausführlich zusammengefasst und mit mehr oder weniger großen Modifikationen fortgeschrieben wird, wobei es dann häufig nur um abweichende Lösungen für sehr spezielle Einzelfälle oder aber um tragfähigere Begründungen für allgemein konsentierte Ergebnisse geht. Die zweite Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass neue Systementwürfe gewagt werden, die gerade noch nicht für alle Einzelfälle ausgearbeitet und ausdifferen-
ziert sind, aber den Blick auf eine neue Perspektive lenken, aus der die interessierenden Sachprobleme betrachtet werden könnten.
Beide Arten von Werken stehen mitunter in Gefahr einer ungerechtfertigt kritischen Bewertung: Die erste, weil der flüchtige Leser möglicherweise die Fortschritte in den Details und die überlegene Überzeugungskraft der neuen Begründungen nicht wirklich würdigen kann, wenn sich in den Ergebnissen wenig ändert; die zweite, weil auch der Strafrechtler nur ein Jurist und als solcher zunächst einmal konservativ ist und geänderten Begrifflichkeiten und Betrachtungsweisen skeptisch gegenübersteht.
In diesem Sinn ist die im Jahre 2007 erschienene Habilitationsschrift von Arndt Sinn gleich in doppelter Weise gefährdet: Fälle eines "freistellenden Drittverhaltens" sind - wenngleich nicht immer in dieser (gleichwohl intuitiv einleuchtenden) Terminologie - schon seit langem Gegenstand der Diskussion, und es gibt für die verschiedenartigsten Verzweigungen Lösungsvorschläge und Begründungsansätze. Das von Sinn herangezogene Kriterium der Freistellung durch "Macht", das von ihm auch zu einem vollständigen Zurechnungs- und sogar Verbrechenssystem ausgebaut werden soll, ist demgegenüber neu und könnte rasch zu der skeptischen Frage führen, wozu denn auf einmal eine Anlehnung an einen neuen Begriff erfolgen soll, der zwar auch bisher der Strafrechtsdogmatik nicht generell fremd war (vgl. nur die Diskussion um "organisatorische Machtapparate" bei der mittelbaren Täterschaft), aber doch kaum den Fixstern der Dogmatik darstellte, um den sich alle Zurechnungsfragen planetengleich drehen.
Die Sorge, keine unberechtigte Kritik üben zu wollen, darf aber andererseits auch nicht davor zurückschrecken lassen, Sinns Gedanken kritisch zu prüfen und zu hinterfragen. Denn soweit seine Arbeit Elemente der oben erstgenannten Gruppe von Werken enthält, ist zumindest zu fragen, inwieweit der bisherige Diskussionstand aufgenommen und eingeordnet wird; soweit es Elemente der zweitgenannten Gruppe enthält, muss nach dem neuen Ertrag gefragt werden.
II. Sinns Untersuchung ist in fünf große Teile (und darunter in insgesamt 14 Kapitel bzw. 37 Paragraphen) gegliedert. Der erste Teil dient dabei einer Grundlegung mit der Bestandsaufnahme und Phänomenologie der bekannten Fälle der Freistellung kraft Drittverhaltens; der zweite Teil enthält eine kurze Darstellung bisher diskutierter Prinzipien; der dritte und umfangreichste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Macht als zurechnungs- und freistellungsbegründende Größe, wobei auch außerjuristische Machttheorien und -modelle diskutiert werden. Der vierte Teil enthält Grundlagen zu einem machtbasierenden Verbrechensbegriff, der schließlich im fünften Teil auf die Fälle freistellenden Drittverhaltens übertragen wird. Strafrechtlich am interessantesten - dies zeigt schon diese kurze Zusammenfassung - sind die insgesamt rund 150 Seiten starken Teile vier und fünf, die in durchaus teilweise etwas mäandernder und sich wiederholender Gedankenführung beim Verbrechen als Zurechnungsproblem ansetzen, dieses mit dem Machtbegriff zusammenführen und darauf aufbauend einen Entwurf eines allgemeinen Verbrechensbegriffs sowie der Lösung des Ausgangsproblems entfalten.
1. Nach einer kurzen Einleitung, in welcher Sinn bereits (freilich noch ohne nähere Begründung) die zentrale Bedeutung der "die menschliche Handlung (…) konstituierende (n) Machtgrundlagen" betont (S. 1 f.), liefert der Verfasser zunächst (S. 5 ff.) eine Bestandsaufnahme der in der Literatur diskutierten Fälle freistellenden Drittverhaltens, wobei er den Einfluss dieses Drittverhaltens auf den verschiedenen Stufen der tradierten Tatbestandsprüfung (Handeln im strafrechtlichen Sinn? Tatbestandsmäßigkeit? Rechtswidrigkeit? Schuld? Bedeutung für die Strafzumessung?) referiert. Dieser knappe Überblick ist nicht nur instruktiv, sondern macht auch ohne weiteres deutlich, welche Fälle der Verfasser im Folgenden vor Augen hat. Unter der (m.E. auf den ersten Blick missverständlichen, da sie besser zu der Bestandsaufnahme gepasst hätte) Überschrift "Phänomenologie freistellenden Drittverhaltens" (S. 25 ff.) nimmt Sinn dann bereits eine erste Einordnung nach der Typik des jeweiligen Geschehens vor, wobei er die Freistellungsfälle als Über- und Unterordnungskonstellationen beschreibt und sie nach dem Verhältnis der Beteiligten zueinander in "interindividuelle" und "transindividuelle Beziehungen" unterscheidet.
2. Im knappen zweiten Teil (S. 31-42) referiert Sinn knapp bisherige Begründungsansätze für die Straffreistellung infolge Drittverhaltens. Dabei beschäftigt er sich insbesondere mit dem maßgeblich bei Hassemer entfalteten Autonomieprinzip, lehnt dies jedoch aufgrund dessen "fehlender Basisfähigkeit und Universalisierbarkeit" (S. 42) ab, da die Autonomieverteilung "die Folge von bestimmten Machtverhältnissen, nicht deren Ursprung" sei.
3. Der bei weitem umfangreichste Teil der Untersuchung (S. 45-224) ist dann der Beschreibung von Macht als "zurechnungs- und freistellungsbegründender Größe" gewidmet. Nach einer knappen Darlegung, in welchen Kontexten "Macht" bzw. der Machtbegriff im Strafrecht an verschiedenen Stellen Verwendung findet (S. 47 ff.), widmet sich Sinn ausführlichst externen Machttheorien und -modellen, beginnend bei einer Begriffsbeschreibung und den verschiedenen Dimensionen des Machtbegriffs über die Behandlung des Machbegriffs in verschiedenen Nachbarwissenschaften und ausgewählte philosophische Machtdiskussionen. All dies hier im Detail nachzuzeichnen, würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern erscheint auch gar nicht erforderlich, da das daraus abgeleitete Zwischenergebnis, es könne aufgrund der Feststellung "dass Macht ein Grundprinzip der Verhaltenssteuerung ist, (…) möglich sein, auch das Strafrecht mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen" auch den doch überschaubaren Ertrag dieser Begriffsgeschichte illustriert.
Die zweite Hälfte des dritten Teils führt dann wieder mehr zum Strafrecht, indem zunächst (S. 134 ff.) einzelne "Machtquellen" dargestellt werden. Dabei verbergen sich freilich hinter manchen der zahlreichen "Macht-Gliederungspunkte" vergleichsweise banale strafrechtsdogmatische Institute bzw. Phänomene, wie hinter der
"Macht der Materie" (S. 134 f.) schlicht die Strafbarkeit der Ausübung körperlichen Zwanges, hinter der "Macht der Gefühle" (S. 138) die Berücksichtigung emotionaler Verhältnisse für die Begründung einer mittelbaren Täterschaft usw. Im Anschluss werden "Spuren der Macht in der Täterschaftsdogmatik" (S. 143 ff.) nachgezeichnet, die Sinn sowohl in der Tatherrschaftslehre als auch - durchaus nahe liegend - in der Bottke'schen Figur der Gestaltungsherrschaft ausmachen zu können glaubt.
Über die "Eckpunkte eines strafrechtlichen Machtverständnisses" (S. 170 ff.), die etwa im Verhältnis von Macht und Gewalt oder Macht und Kausalität bestehen, führt die Untersuchung dann zu einer "Grundlegung zu einem strafrechtlichen Machtbegriff" (S. 190 ff.). Dabei stellt Sinn die "Macht" in diverse Kontexte (Macht als Kommunikationsmittel, Macht als Konflikt- und Konsensbegriff, Macht in personeller Relation, handlungstheoretischer Bezugsrahmen, Macht als Konflikt- und Konsensbegriff u.a.), um die verschiedenen für die strafrechtliche Diskussion potentiell fruchtbaren Fassetten herauszustellen. Ziel ist dabei ein strafrechtlicher Machtbegriff, der "1. das wirkliche Beziehungsgeflecht mehrerer Personen aufzunehmen vermag, - also wirklichkeitsnah ist, 2. den strafrechtlichen Zurechnungsanforderungen genügt, - also leistungsfähig ist, 3. konkrete Schlussfolgerung für die Freistellung in Drittbeteiligungsfällen liefert, - also funktionsfähig ist" (S. 194).
4. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen ist Sinn dann im vierten Teil (S. 227 ff.) darum bemüht, einen eigenen, gleichsam "machtbasierten" Verbrechensbegriff zu entwickeln. Dabei geht er davon aus, dass die Feststellung des Verbrechens letztlich ein Zurechnungsproblem ist (S. 227 ff.), was als solches keine spektakuläre Erkenntnis ist, von Sinn jedoch gleichwohl mit beachtlichem dogmengeschichtlichen Aufwand (S. 229 ff.) dargetan wird. Der Ertrag dieser Dogmengeschichte wird freilich auch von Sinn selbst als überschaubar eingeschätzt, betont er doch, dass "viele Gemeinsamkeiten (sc.: mit den historischen Zurechnungsmodellen, insbesondere bei Hegel) mit der heutigen Zurechnungslehre (nicht) zu erkennen" sind (S. 243). Der zweite Schritt einer Vorarbeit zu einem eigenen machtbasierten Verbrechensbegriff befasst sich dann mit der Trennung von Unrecht und Schuld (S. 244 ff.), welche Sinn nicht durch die Zurechnungslehren zwingend vorgegeben sieht, sondern in der er eher eine Konsequenz der traditionellen Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Unrecht sieht, welche er dogmengeschichtlich von Merkel über von v. Jhering, Binding, Hälschner, Beling und Welzel nachvollzieht.
Aus der gegenwärtigen Strafrechtstheorie (S. 264 ff.) werden die Ansätze von Roxin (dem Sinn vorwirft, durch sein Modell einer gemeinsamen Prüfungsstufe der Schuld und der Verantwortlichkeit im Sinn einer generalpräventiven Bestrafungsnotwendigkeit die eigentlichen Elemente der Schuld zu nivellieren und den Begriff der Schuld letztlich mit der Schuldfähigkeit gleichzusetzen) sowie die strafrechtsfunktionale Konzeption Jakobs' dargestellt, welcher Sinn zugesteht, es handle sich um die "theoretisch idealistische Beschreibung einer (…) kommunikativen Gesellschaft", die jedoch "in weiten Teilen theoretisch bleiben" müsse, da die praktisch gelebte Gesellschaft" nicht einbezogen werde (S. 270).
Um sich nun in Abgrenzung von der bisherigen Diskussion dem eigenen machttheoretisch basierten Verbrechensbegriff anzunähern, entwickelt Sinn noch einmal einige eigene Grundlegungen zum Verbrechensbegriff (S. 271 ff.), welche sich nur in der Bezeichnung der Überschriften auf den oberen Ebenen mit den vorhergehenden Abschnitten teilweise zu überschneiden scheinen, inhaltlich jedoch durchaus neue und eigene Aspekte behandeln. Aufbauend auf der Dogmengeschichte wird dabei zunächst festgestellt (S. 271 ff.), dass eine Trennung zwischen Unrecht und Schuld nicht erforderlich sei, sondern vielmehr das Verbrechen mit einem Strafrechtsunrecht eigener Art hinreichend beschrieben werden könnte. Als weitere methodischen Ausgangspunkt wählt Sinn sodann (S. 274 ff.) ein von ihm auf Dahm und Schaffstein zurückgeführtes "Ganzheitsdenken", das sich gegen eine zu kleinteilige Begriffsbildung und Zergliederung des Verbrechens wendet und dieses als soziales Phänomen in seiner Ganzheit erfassen will (ein Bezug nebenbei - und ohne Sinn dafür einen Vorwurf zu machen! - im Vergleich zu dem anderen Autoren schon für weniger enge Anknüpfungen politische Sensibilität abgesprochen wurde). Danach (S. 277 ff.) erfolgt ein nochmaliger Rekurs auf Hegels Verbrechensbegriff und dessen Aufnahme in Gestalt des Gedankens eines Strafrechts als Mittel zur Bestätigung der Geltung des Rechts etwa durch Jakobs und seinen Schüler Lesch. Dies führt Sinn letztlich dazu (S. 287 ff.), dass - wie früher bereits herausgearbeitet - eine Unterscheidung von Unrecht und Schuld im Strafrecht nicht übernommen werden müsse bzw. nicht einmal übernommen werden könne, da Unrecht im strafrechtlichen Sinne "stets mit dem Handlungssubjekt verbunden" sei und "erst dies (…) die Rechtsfolge Strafe" rechtfertigen könne (S. 287). Etwas unvermittelt schließt Sinn daraus die Möglichkeit einer Integration des Machtbegriffs in den Unrechtsbegriff, indem er das strafrechtliche Delikt als "Machtmissbrauch" definiert, in welchem sich "die Macht einer Person (verwirklicht), das Recht in Frage zu stellen". (S. 287) Als Zwischenergebnisse führt dies Sinn letztlich zu der Erkenntnis: "Das machtmissbräuchliche Verhalten einer Person ist Kommunikation der Person über die Nichtgeltung der Norm. Der Bewertung eines Verhaltens einer Person als ‚Machtmissbrauch' geht die Feststellung von Handlungsmacht und Normverletzungsmacht voraus." (S. 293)
Auf dieser Grundlage soll nun (S. 295 ff.) das Verbrechen mittels des Machtbegriffs beschrieben werden. Dabei stellt Sinn jeweils die Machtverwirklichung innerhalb verschiedener Verbrechensformen dar, was sich etwa für den Grundfall des vorsätzlichen vollendeten Begehungsdeliktes wie folgt liest: "Vergegenwärtigt man sich die Begehung einer Straftat, so wird diese durch bestimmte Mittel - und sei es auch nur die physische Möglichkeit - begangen. Das sind Machtmittel. Die Verfügbarkeit der Machtmittel resultiert aus der Machtbasis/Machtquelle. Die Straftat wird durch eine Handlung vollzogen (Machthandlung) und hat im mglw. beim Opfer eine bestimmte Machtwirkung. Die Straftat kann daher wie folgt skizziert werden:
Machtbasis/Machtmittel < Machthandlungen mit bestimmten Machtmitteln < Machtwirkung".
Während der Täter beim Vorsatzdelikt seine "Handlungsmacht zur Normverletzung wissentlich" gebraucht (S. 299), ist der Fahrlässigkeitstäter dann dadurch gekennzeichnet, dass er in seinen "Vermeidemöglichkeiten kraft Wissen-Könnens" über "Normverletzungsmacht" verfügt. Auch das Wissen als wichtige Machtquelle ("Wissen ist Macht") nicht zuletzt für das Vorsatzdelikt, aber auch für den Versuch wird herausgestellt (S. 301 f., 305); auch beim Unterlassungsdelikt wird die Macht in Gestalt des Prüfungspunktes der physisch-realen Handlungsmöglichkeit dargelegt (S. 304, wobei auffällig ist, dass die eigentlich für das Unterlassungsdelikt typischere Strafbarkeitsvoraussetzung der Garantenstellung in diesem Modell nicht thematisiert wird).
Sinn selbst schätzt - m.E. durchaus zweifelhaft - seine Erkenntnisse und Darlegungen dahingehend ein, dass die "machttheoretische Auseinandersetzung (…) gezeigt" habe, "dass es sich bei der ‚Macht' um ein Grundphänomen der Einflussnahme auf Personen in der Gesellschaft handelt. Es liegt also nahe, Macht als Grundbegriff strafrechtlicher Zurechnung und Freistellung anzuerkennen. (…) Die Bezeichnung des Verbrechens als Machtmissbrauch hat sich als besonders plastisch und wirklichkeitsnah erwiesen." (S. 306 f.) Derart optimistisch fährt Sinn dann (S. 307 ff.) auch damit fort, die einzelnen Stufen des Verbrechensaufbaus "machttheoretisch" zu beschreiben, indem zunächst die Tatbestandsmerkmale der einzelnen Vorschriften als (missbrauchbare) Machtmittel beschrieben werden (S. 310 f.), das Tatwissen als machtbegründend verstanden wird (S. 311 ff.), im Fall der Rechtfertigungsgründe ein Machtmissbrauch abgelehnt wird (S. 313 f.) und die Schuld (die ja nicht neben oder außerhalb des Tatunrechts stehen, sondern die gesamte Straftat kennzeichnen soll, vgl. o.) machttheoretisch als Aussage gedeutet wird, "dass der Täter seine individuelle Macht missbraucht und deshalb das Recht gebrochen - also unrecht gehandelt hat" (S. 314). Ebenfalls als machtrelevantes Wissen wird schließlich die Unrechtskenntnis beschrieben, wobei die Einordnung in die gleiche Kategorie "Wissen als Machtquelle" die nach Sinn obsolete Trennung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld in gewisser Weise widerspiegelt (S. 316 f.).
5. Im fünften Teil (S. 321 ff.) soll dann der machttheoretische Verbrechensbegriff auf die Fälle freistellenden Drittverhaltens übertragen werden. Dazu müssen die verschiedenen Freistellungsverhältnisse als Machtverhältnisse definiert bzw. beschrieben werden. Sinn differenziert hier zwischen interindividuellen (S. 323 ff.) und transindividuellen (S. 337 ff.) Machtverhältnissen. Bei den ersten werden etwa vis absoluta (S. 324 als geradezu Prototyp des Machteinsatzes), die fehlende Tatbestandsverwirklichung sowie diverse Fälle diskutiert, die in der tradierten Dogmatik als defizitbegründend im Sinn der mittelbaren Täterschaft verstanden werden. Der Verbotsirrtum - und zwar sowohl der vermeidbare wie auch der unvermeidbare - wird ebenfalls in diese Kategorie mit einbezogen, da nach Ansicht von Sinn ja gerade die Berücksichtigung des Wissens in unterschiedlichen Systemebenen nicht haltbar sei (kein Unterschied zwischen Unrecht und Schuld, vgl. oben). Gleichwohl solle "die Unterscheidung zwischen Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum" nicht aufgegeben werden, denn zwischen beiden gäbe es durchaus Unterschiede. (Dass dann bei einer Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum der Rekurs auf den Katzenkönig-Fall als Beispiel für den letztgenannten - obwohl tatsächlich üblicherweise unter diesem Stichwort diskutiert - streng genommen verkehrt ist, sei nur am Rande erwähnt: Denn selbstverständlich begründet der Katzenkönig-Fall keinen klassischen Verbotsirrtum, sondern würde eher einen Fall des Tatsachenirrtums über das Vorliegen der Voraussetzungen eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes darstellen[wenn man nicht metaphysische Vorstellungen wie den Glauben an den Katzenkönig im Strafrecht für generell unbeachtlich erklären möchte], da im Fall einer tatsächlichen Bedrohung von Millionen von Menschen durch den Katzenkönig niemand bezweifeln würde, dass demjenigen, der den Dämon durch ein einziges Menschenopfer besänftigen kann, sich zumindest auf einen übergesetzlichen Notstand berufen könnte.)
Daneben erkennt Sinn im Bereich der interindividuellen Machtverhältnisse aber auch Konstellationen an, bei denen eine Grenzziehung "nicht mit einer Theorie der Macht[…], sondern normativ" (S. 334) zu bewerkstelligen ist. Als einen solchen Fall kennzeichnet er den Nötigungsnotstand, bei dem letztlich nicht die Machtverhältnisse, sondern die Berücksichtigung der Opferinteressen mit ausschlaggebend seien müssen. Was Sinn zu diesen Interessen (und zu der aus seiner Sicht daraus folgenden Berücksichtigung ernsthafter Schuldebene) ausführt, ist durchaus überzeugend; dass jedoch seine Lösung gerade über das "Machtvolumen der Akteure" zu begründen sein soll und dass darin "die wesentliche Errungenschaft einer machtfundierten Zurechnungs- und Freistellungsdogmatik" liegen soll, ist einigermaßen überraschend.
Ein zweiter großer Abschnitt im fünften Teil ist dann den transindividuellen Machtverhältnissen gewidmet, welche im Unterschied zu den interindividuellen nicht dynamisch, situationsunabhängig und instabil, sondern auf eine gewisse Weise dauerhaft und fest strukturiert sein sollen (S. 337 ff.). Sinn geht hier den "historischen Spuren des Verhältnisses von Macht und Recht" bis zurück in die Antike und von dort über die Bibelübersetzung, Machiavelli, Hobbes und Spinoza bis hin zu modernen staats- und diskurstheoretischen Denkern nach. Konkrete Beispiele folgen erst in Gestalt der Verwaltungsakzessorietät, der Genehmigung bei der Vorteilsnahme (§ 331 III StGB), des verbindlichen Befehls, des Schwangerschaftsabbruch nach Beratung und der Tatprovokationsfälle auf S. 361 ff.
Zwei Passagen, die aus diesen Teilen exemplarisch herausgegriffen seien, machen deutlich, mit welchen Schwierigkeiten Sinns Analyse häufig zu kämpfen hat: So heißt es zu § 331 III StGB etwa (S. 366): "Der Amtsträger hat keine Gestaltungsmöglichkeiten des Machtverhältnisses, da die Norm des § 331 StGB ihn grundsätzlich zum Unterlassen der tatbestandlich geschilderten Verhaltensweisen verpflichtet. Sein an sich sozialmöglicher Handlungsspielraum wird normativ eingeschränkt. Trotzdem wird er in den Fällen, in denen er sich den Vorteil nicht versprechen lässt, durch die zuständige Behörde aufgrund § 331 III StGB freigestellt. Das bedeu-
tet wiederum eine Erweiterung seiner normativen begrenzten sozialen Handlungsmöglichkeiten kraft administrativer Entscheidung." - All dies erscheint sachlich richtig und nachvollziehbar; allein, ein großer Erkenntniswert scheint damit nicht verbunden zu sein, zumal auch die Beschreibung aus der Perspektive einer "machtorientierten Dogmatik" keine überzeugendere Lösung von Grenzfällen ermöglicht.
Im Zusammenhang mit der Lockspitzelproblematik bei der Tatprovokation nicht tatgeneigter Personen führt Sinn (nicht ganz unbezeichnenderweise, ohne die Entscheidung BGHSt 45, 321 mit ihren zahlreichen Anmerkungen[etwa Roxin, JZ 2000, 369 ff.; Endriß/Kinzig, NStZ 2000, 271 ff.; Sinner/Kreuzer, StV 2000, 114 ff. - alle auch nicht im Literaturverzeichnis enthalten]auch nur zu erwähnen) u.a. aus, dass aufgrund eines (freilich bei einer bloß verbalen Tatprovokation auch nicht so ohne weiteres nachvollziehbaren) Machtgefälles zwischen den Provokateuren und dem späteren Täter zwar eine Freistellung des Täters erforderlich sei, diese jedoch evidenterweise "nur auf Strafzumessungsebene gewährt werden" könne, da "trotz der Initiierung des Verhaltens des T(äters) sein Verhalten "nicht den Charakter des Normbruchs und damit des Machtmissbrauchs" (hier im Sinne der eigenen Handlungsmacht des Täters) verliere. "Auch darf dieses Verhalten nicht zum Vorbild für andere werden, weshalb es mit einem Schuldspruch negiert werden muss. Da aber der Machtmissbrauch des T(äters) durch ein dem Staat zurechnendes Verhalten des P (d.h. hier: des Provokateurs, H.K.) missbraucht wurde, fungiert das Machtprinzip hier als eine den Strafausspruch auf Null aufzährendes und damit machtbändigendes Prinzip." Einen über den herkömmlichen Begründungsansätzen überlegener Zugriff auf die Thematik vermag ich hierin nicht zu erkennen, und die teilweise Annäherung an die Lösung des BGH, die Lockspitzeleinsatz nur auf der Strafzumessungsebene zu berücksichtigen und dabei den Rechtsfolgenausspruch zu minimieren (wobei die von Sinn angesprochene Reduzierung des "Strafausspruchs auf Null" wohl nur weitergehen dürfte als die vom BGH vorgeschlagene Begrenzung auf die Mindeststrafe) wird kaum wirklich entwickelt, so dass der Eindruck entsteht, durch die Verwendung der "Machtmetapher" wird nur das Ergebnis umschrieben, das Sinn ohnehin für richtig hält bzw. das jedenfalls in ähnlicher Weise auch andernorts vertreten wird.
III. Ein Fazit zu geben fällt nicht ganz leicht: In einer kulinarischen Metapher müsste man Sinns Werk einerseits als Genuss, andererseits als nicht ganz leicht verdaulich bezeichnen: Denn das Werk befindet sich sprachlich durchgehend auf hohem Niveau und zeigt großen Fleiß des Verfassers bei seiner Bearbeitung dogmengeschichtlicher und auch außerstrafrechtlicher Grundlegungen (wenngleich eine gewisse Nonchalance - andere würden vielleicht sagen: "großzügige Souveränität" - im Umgang mit dem Nachweis des strafrechtlichen Meinungsstandes zu den von ihm angerissenen Problemfeldern). Fast jeder einzelne kleine Abschnitt des Buches überzeugt jedenfalls dahingehend, dass die Gedanken nachvollziehbar geordnet und der Einsatz der Machtmetapher zur Beschreibung der Zusammenhänge verständlich sind. Andererseits erscheint mir - wie oben mehrfach ausschnittsweise gezeigt - der Problemlösungsertrag der Metapher doch beschränkt, und die Orientierung am Machtbegriff von den Grundlegungen eines eigenen Verbrechensbegriffs bis zur konkreten Lösung sehr spezieller Einzelfälle (vgl. oben nochmals die Lockspitzelproblematik) wirkt nicht selten konstruiert. Auch die Gedankenführung auf der großen, über die genannten kleinen Abschnitte hinausgehenden Linie verläuft mitunter etwas sprunghaft (was schon in der Gliederung deutlich wird, die sich doch vielfach stärker parataktisch als syntaktisch darstellt). Einen echten Gewinn an Erklärungswert kann ich weder für die Grundlegungen des Verbrechensbegriffs noch für die Lösung der Freistellungsfälle aufgrund von Drittverhalten sehen (was nicht zuletzt für den zweit genannten Bereich besonders schade ist, da der Titel der Arbeit jedenfalls den Rezensenten mehr versprochen hat, als tatsächlich eingehalten wurde - und dies ist umso bedauerlicher, als Sinn an vielen Stellen seiner Arbeit zeigt, dass er ein sehr gründlicher und scharfsinniger Denker ist, der konkrete Konfliktfälle ohne weiteres überzeugend in den Griff bekommt).
All das ändert freilich nichts daran, dass es sich um eine lehrreiche und anregende Lektüre handelt, und wer stärker an der Entwicklung neuer, begrifflich vielleicht weniger unvollkommener bzw. in sich selbst widersprüchlicher allgemeiner Konzepte und dafür weniger an konkreten Problemlösungen interessiert ist als der Rezensent, mag das Buch mit noch mehr Vergnügen lesen, wenngleich ich mich des Eindrucks nicht verwähren kann, dass die vermeintlich klarere und in sich widerspruchsfreiere Struktur des Sinn'schen machtbasierten Verbrechensbegriffs und seiner machtbasierten Zurechnungsdogmatik durch eine größere Unschärfe des die gesamte Konzeption beherrschenden Machbegriffs erkauft ist.
Prof. Dr. Hans Kudlich , Universität Erlangen/Nürnberg
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