Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit der HRRS-Ausgabe November 2006 wird unter anderem der lang erwartete Vorlagebeschluss des 1. Strafsenats zum Verbot der "Rügeverkümmerung" publiziert. Die jüngere Entscheidung dieses Senats zum Ausschluss der Revisionserstreckung im Jugendstrafverfahren wird von Swoboda in ihrer Anmerkung grundlegend kritisch besprochen. Milde legt in seiner Anmerkung zu der in dieser Ausgabe veröffentlichten BVerfG-Entscheidung BVerfG HRRS 2006 Nr. 804 dar, dass das BVerfG (Kammer) in seinem Beschluss zur nachträglichen Sicherungsverwahrung nur teilweise zur Klärung bestehender Fragen beigetragen hat. Neben zwei Rezensionen sind weitere 84 Entscheidungen in die Ausgabe aufgenommen worden.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
1. Art. 10 Abs. 1 GG soll einen Ausgleich für die technisch bedingte Einbuße an Privatheit schaffen und will den Gefahren begegnen, die sich aus dem Übermittlungsvorgang einschließlich der Einschaltung eines Dritten ergeben (vgl. BVerfGE 85, 386, 396; 107, 299, 313).
2. Die Datenerhebung nach § 100 i StPO greift nicht in den Schutzbereich der Telekommunikationsfreiheit ein. Sie steht nicht im Zusammenhang mit einem Kommunikationsvorgang und betrifft auch keinen Kommunikationsinhalt im Sinne des Art. 10 Abs. 1 GG.
3. Die Feststellung einer Geräte- oder Kartennummer im Sinne des § 100 i Abs. 1 Nr. 1 StPO eines im Bereich einer simulierten Funkzelle befindlichen Mobiltelefons durch den Einsatz eines "IMSI-Catchers" ist unabhängig von einem tatsächlich stattfindenden oder zumindest versuchten Kommunikationsvorgang zwischen Menschen, da ausschließlich technische Geräte miteinander "kommunizieren". Es fehlt damit an einem menschlich veranlassten Informationsaustausch, der sich auf Kommunikationsinhalte bezieht.
4. Art. 10 Abs. 1 GG folgt nicht dem rein technischen Telekommunikationsbegriff des Telekommunikationsgesetzes (vgl. § 3 Nr. 22 TKG), sondern knüpft personal an den Grundrechtsträger und dessen Schutzbedürftigkeit aufgrund der Einschaltung Dritter in den Kommunikationsvorgang an. Die Erfassung der IMSI und der IMEI mag somit zwar die Bereitschaft zur Nutzung eines Mobil-
telefons beeinträchtigen, realisiert aber nicht die spezifischen Gefahren für die Privatheit der Kommunikation, die in der Nutzung des Telekommunikationsmediums begründet liegen.
5. Da beim Einsatz des "IMSI-Catchers" Daten nicht innerhalb des Herrschaftsbereichs eines Telekommunikationsunternehmens, sondern ohne dessen Mitwirkung durch die Strafverfolgungsbehörden selbst und unmittelbar erhoben werden, unterfallen die hierbei erhobenen Daten nicht dem Telekommunikationsgeheimnis.
6. Angesichts der geringen Eingriffsintensität in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, ist es nicht unverhältnismäßig, auf die Benachrichtigung mitbetroffener Dritter zu verzichten.
7. Soweit durch den Einsatz des "IMSI-Catchers" für einige Sekunden die Herstellung einer Telekommunikationsverbindung für ein einzelnes Mobiltelefon nicht möglich ist, handelt es sich um eine Verhinderung von Telekommunikation, die nicht unter Art. 10 Abs. 1 GG fällt. Das Unterbinden von Telekommunikation ist daher am Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen, dessen Beeinträchtigung aber gerechtfertigt ist.
8. Art. 20 Abs. 1 GG beinhaltet kein rügefähiges Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht.
1. Die gesetzliche Ermächtigung zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB verstößt nicht gegen Verfassungsrecht.
2. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt nach § 66 b Abs. 1 StGB, auf den § 66 b Abs. 2 StGB verweist, voraus, dass vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen. Nach dem Willen des Gesetzgebers muss es sich dabei um Tatsachen handeln, die jenseits einer gewissen Erheblichkeitsschwelle liegen, die also einerseits in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen und andererseits nach anerkannten und überprüfbaren Maßstäben auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten schließen lassen.
3. Neue Tatsachen, die für Strafgefangene typische Verhaltensweisen indizieren, fallen nicht ohne Weiteres hierunter.
4. Anders als § 66 b Abs. 1 StGB, der nach seinem Wortlaut fordert, dass die übrigen Voraussetzungen des § 66 StGB erfüllt sind und somit die Feststellung eines Hanges des Verurteilten zu erheblichen Straftaten gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB voraussetzt, verzichtet § 66 b Abs. 2 StGB auf dieses Merkmal. Die Feststellung der psychologischen Tatsache eines Hanges zu erheblichen Straftaten ist nicht gleichbedeutend mit der von § 66 b Abs. 2 StGB und - zusätzlich - von § 66 b Abs. 1 StGB geforderten Prognose der künftigen Begehung erheblicher Straftaten, kann aber eine Basistatsache für eine solche Prognose darstellen.
5. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 2 StGB setzt voraus, dass der Verurteilte nach Überzeugung des Gerichts künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Dabei muss es sich um eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit handeln; eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung reicht nicht aus (vgl. BVerfGE 109, 190, 242). Hinzukommen muss, dass von dem Betroffenen eine gegenwärtige erhebliche Gefahr ausgeht (vgl. BVerfG a.a.O.).
6. Die Prognose neuer erheblicher Straftaten erfordert eine Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs. Dieser Wortlaut steht, wie das Wort "ergänzend" verdeutlicht, der Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierungs- und Therapiemaßnahmen entgegen (vgl. BVerfGE 109, 190, 241).
7. Eine neue Tatsache liegt nicht vor, wenn die Gefährlichkeit sich ausschließlich als Folge einer - zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits bekannten - unbewältigten Suchtproblematik darstellt.
1. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich da-
durch die Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Bezug auf die Möglichkeit des Kontakts zwischen Eltern und Kindern relativiert, soweit es dabei um quantitative Fragen wie die Dauer der zuzugestehenden Besuchsmöglichkeiten in der Untersuchungshaft geht. Ebenso wenig ist der grundrechtliche Schutz dieses Kontakts von geringerem Gewicht, soweit er Kinder betrifft, mit denen eine geistige Auseinandersetzung noch nicht möglich ist.
2. Der Staat kann sich gegenüber dem Untersuchungsgefangenen bzw. besuchswilligen Eheleuten und Familienangehörigen nicht darauf berufen, dass er seine Vollzugsanstalten nicht so ausstattet, wie es zur Wahrung des in Art. 6 Abs. 1 GG normierten Schutzauftrages erforderlich wäre (vgl. BVerfGE 42, 95, 102).
3. Bei den Regelungen der Untersuchungshaftvollzugsordnung handelt es sich lediglich um nicht bindende Vorschläge an den Richter (vgl. BVerfGE 15, 288, 293; 34, 369, 379).
1. Die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Berufsausübung eines Rechtsanwalts (vgl. BVerfGE 110, 226, 251 ff.) gebietet bei der Anordnung der Durchsuchung von Kanzleiräumen (vgl. BVerfGE 44, 353, 371) die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen wie des Tatverdachtes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
2. Anträge des Verteidigers in einem Strafverfahren und Eingaben an Behörden sind grundsätzlich erlaubt und kommen als verwerfliche Drohung nur in Betracht, wenn die dabei mitgeteilten Darstellungen grob wahrheitswidrig sind oder keinen Zusammenhang zu dem dem vermeintlichen Opfer angesonnenen Verhalten haben.
1. Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des instanziell und funktionell zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Die Annahme von Gefahr im Verzug kann nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei in einer Großstadt gewöhnlicherweise am späten Nachmittag oder frühen Abend nicht zu erlangen.
2. Eine Wohnungsdurchsuchung haben die Ermittlungsbehörden auf das erforderliche Maß zu begrenzen, um die Integrität der Wohnung nicht mehr als nötig zu beeinträchtigen. Damit scheidet der Einsatz eines Drogenspürhundes aus, wenn die Durchsuchung allein dem Zweck dient, die Tatwaffe einer Messerstecherei aufzufinden.
Der sich aus dem Gesetzeswortlaut nicht ergebende, keineswegs eindeutige Begriff der "Unmittelbarkeit" bei der Bestimmung dessen, was aus einer Tat im Sinne von § 73 Abs. 1 StGB erlangt wurde, setzt eine wertende Betrachtung voraus, die verfassungsrechtlich beanstandungsfrei dazu führen kann, in treuhänderischer Verpflichtung vorgenommene Rechtsgeschäfte direkt dem Treugeber zuzurechnen.
1. Ein Angeklagter kann seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht unterlässt (vgl. BVerfGE 31, 145, 165). Die Entscheidung des Revisionsgerichts verstößt aber nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung des Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung der Norm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 3, 359, 364; 29, 45, 48 f. m.w.N.).
2. Die Auffassung, dass § 354 Abs. 1 StPO bei einer Änderung des Konkurrenzverhältnisses von Tatmehrheit
zu Tateinheit durch das Revisionsgericht eine Aufrechterhaltung der ursprünglichen Gesamtstrafe als Einzelstrafe erlaubt, wenn anzunehmen ist, dass der Tatrichter auf diese Strafe erkannt hätte, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
3. Dem Grundgesetz lässt sich nicht entnehmen, dass jede gerichtliche Entscheidung mit einer Begründung zu versehen ist. Bei mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbaren letztinstanzlichen Entscheidungen kann dies verfassungsrechtlich geboten sein, wenn ein Gericht von Normen einfachen Rechts in der Auslegung, die sie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gewonnen haben, abweicht (vgl. BVerfGE 50, 287, 289 f.; 81, 97, 106).
1. Beruht die Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde nicht auf einem Verschulden des Beschwerdeführers, sondern darauf, dass die Rechtsbeschwerde vom zuständigen Geschäftsstellenbeamten nicht in einer den Anforderungen der fachgerichtlichen Rechtsprechung entsprechenden Weise aufgenommen worden ist - ist ursächlich für die Unzulässigkeit somit ein Fehler der Justiz - besteht die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
2. Liegt ein Wiedereinsetzungsgrund in einem den Gerichten zuzurechnenden Fehler, fordert der Grundsatz fairer Verhandlungsführung eine Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung; erst diese Belehrung setzt die Wiedereinsetzungsfrist in Lauf.
3. Es bleibt offen, ob in Ausnahmefällen eine ohne ausreichende Mitwirkung des Rechtspflegers zustande gekommene Rechtsbeschwerde den Schluss rechtfertigen kann, dass auch eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Mitwirkung des Rechtspflegers der Rechtsbeschwerde unter keinen Umständen zur Zulässigkeit verhelfen könnte und ob in einem solchen Fall trotz Verwerfung des Rechtsmittels wegen eines justizbedingten Zulässigkeitsmangels die Belehrung über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit aus Gründen der Prozessökonomie ausnahmsweise entfallen könnte oder ob rechtsstaatliche Grundsätze es in einem solchen Fall gebieten, die Rechtsbeschwerde statt wegen unzureichender Mitwirkung des Rechtspflegers sogleich wegen der als unabänderlich erkannten Unzulässigkeitsgründe zu verwerfen.
1. Zwar gelten, wenn dringende Gründe für die Annahme der Voraussetzungen für den später anzuordnenden Verfall vorliegen, die gesetzlichen Fristen des § 111 b Abs. 3 StPO nicht. Der lediglich vorläufig wirkende und nicht endgültig sichernde dingliche Arrest darf die Eigentumspositionen des hiervon Betroffenen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aber nicht unbefristet beeinträchtigen.
2. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist einerseits die Stärke des Tatverdachts und damit die Dringlichkeit des später anzunehmenden Verfalls zu berücksichtigen sowie andererseits die von der Maßnahme ausgehende Belastung für den Betroffenen und die Verfahrensdauer. Dient die Anordnung des dinglichen Arrestes der Sicherung des späteren Verfalls gemäß §§ 73 ff. StGB kommt den staatlichen Belangen größeres Gewicht zu als im Fall der Rückgewinnungshilfe, weil die Maßnahme auf die endgültige Abschöpfung der Vermögensvorteile gerichtet ist und nicht lediglich der vorübergehenden Sicherung zivilrechtlicher Ansprüche Dritter dient.