HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2006
7. Jahrgang
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Schrifttum

Deutsches Institut für Menschenrechte (Hrsg.): Die "General Comments" zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Deutsche Übersetzung und Kurzeinführungen; Nomos Verlagsgesellschaft 2005, 627 S., ISBN 3-8329-0958-3, EUR 48,00.

Die Bundesrepublik Deutschland ist auf völkerrechtlicher Ebene eine Vielzahl von vertraglichen Verpflichtungen menschenrechtlicher Art eingegangen. Diese völkerrechtlichen Bindungen legen sich gleichsam wie ein Netz um den Staat und sollen einen möglichst lückenlosen Menschenrechtsschutz gewährleisten. Einige dieser Verträge enthalten umfassende Menschenrechtskataloge, die den Grundrechten des Grundgesetzes in nichts nachstehen, ja zum Teil sogar darüber hinausgehen. Zu nennen sind hier insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR), beide im Jahr 1966 zu Hochzeiten des Kalten Krieges geschlossen, was die Aufspaltung der doch an sich als unteilbar gedachten Menschenrechte in zwei getrennte Vertragsdokumente mit sich brachte. Andere Menschenrechtsverträge sind thematisch eingegrenzt, wie z.B. das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) oder das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtekonvention), das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) oder das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention).

In der täglichen innerstaatlichen Rechtsanwendung spielen diese Rechtsnormen eine ausgesprochen untergeordnete Rolle. Durchaus zu Unrecht, denn sie sind Teil des geltenden Rechts, stehen doch die genannten Verträge gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG innerstaatlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Nur selten treten sie einmal in das Bewusstsein einer breiteren juristischen Öffentlichkeit, so geschehen etwa in der Debatte um den Fall des Frankfurter Polizeivizepräsidenten Daschner, wo zur Beantwortung der Frage, ob die Androhung unmittelbaren Zwangs gegenüber dem mutmaßlichen Entführer des Jakob von Metzler bereits den Tatbestand der "Folter" erfüllte, gemeinhin - und zutreffend - auf die Folterdefinition abgestellt wurde, wie sie in Art. 1 der UN-Antifolterkonvention zu finden ist. Anlass, sich mit dem Inhalt der Menschenrechtsverträge näher vertraut zu machen, besteht somit allemal. Die Schwierigkeit für den Rechtsanwender besteht indes darin, dass die Menschenrechtsgarantien ähnlich wie die nationalen Grundrechte oftmals nur generalklauselartig formuliert sind und daher "heruntergebrochen" werden müssen, um in der täglichen Rechtsanwendung handlungsleitend wirken zu können.

Diese Aufgabe, die im innerstaatlichen Recht wesentlich das Bundesverfassungsgericht erfüllt, wird auf internationaler Ebene von den sog. monitoring bodies versehen. Dabei handelt es sich um mit unabhängigen Experten besetzte Gremien, welche die Einhaltung der Vertragspflichten durch die jeweiligen Vertragsstaaten überwachen. Die Kompetenzen dieser Gremien sind unterschiedlich ausgestaltet: So sind, um das Beispiel des IPBPR zu nennen, alle Vertragsstaaten verpflichtet, dem Menschenrechtsausschuss in gewissen Abständen einen Bericht über die innerstaatliche Situation der Menschenrechte abzugeben (sog. Staatenberichtsverfahren; die Bundesrepublik hat zuletzt im Jahr 2002 ihren 5. Staatenbericht gegenüber dem Menschenrechtsausschuss abgegeben, online abrufbar unter:

http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/ Menschenrechte/Download/Bericht5__Zivilpakt.pdf). Darüber hinaus können sich die Staaten durch gesonderte Erklärung dem sog. Staatenbeschwerdeverfahren unterwerfen. Diejenigen Staaten, die das (erste) Fakultativprotokoll zum IPBPR ratifiziert haben, haben damit zugleich das sog. Individualbeschwerdeverfahren akzeptiert. Hier kann der Ausschuss ähnlich wie ein innerstaatliches Gericht auch von Einzelpersonen angerufen werden, allerdings mit dem Unterschied, dass die "Entscheidungen" des Menschenrechtsausschusses formaljuristisch nicht bindend sind. Auch für die anderen Menschenrechtsverträge gilt, dass das Staatenberichtsverfahren den

Mindestbestand an Kontrolle darstellt, während die darüber hinausgehenden Kompetenzen der jeweiligen Überwachungsorgane unterschiedlich ausgestaltet sind.

Im Zusammenhang mit dem Staatenberichtsverfahren stehen die "Allgemeinen Bemerkungen" ("General Comments"), deren Funktion heute darin besteht, den Staaten die Erfüllung ihrer Berichtspflicht zu erleichtern, indem das jeweilige Vertragsorgan sein Verständnis einzelner Normen näher erläutert. In ihrer Gesamtschau bilden die General Comments somit eine Art "Kommentierung" des jeweiligen Vertrages. Dabei fließen durchaus auch Erfahrungen aus etwaigen Individualbeschwerdeverfahren mit ein, so dass es nicht weiter verwundert, wenn nach einer gewissen Zeit eine "Neukommentierung" erforderlich werden kann, also frühere Allgemeine Bemerkungen durch neue ersetzt werden müssen (so etwa geschehen im Fall des Art. 7 IPBPR betr. Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, wo der Menschenrechtsausschuss seine Allgemeine Bemerkung Nr. 7 später durch die Allgemeine Bemerkung Nr. 20 ersetzte).

Wie bereits angedeutet, fehlt den General Comments als solchen die rechtliche Verbindlichkeit. Sie sind daher dem Bereich des "soft law" zuzurechnen. In diesem Punkt unterscheidet sich der Menschenrechtsschutz auf internationaler Ebene zentral von regionalen Schutzsystemen, denn Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beispielsweise sind für die Vertragsstaaten bindend (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Gleichwohl wäre es verfehlt davon auszugehen, der internationale Menschenrechtsschutz sei dem regionalen "unterlegen". So gibt es Bereiche, in denen die internationalen Garantien über das auf regionaler Ebene Verbürgte hinausgehen, etwa hinsichtlich des allgemeinen Gleichheitssatzes, der auf regionaler Ebene nur akzessorisch zu den Freiheitsrechten geschützt ist (Art. 14 EMRK), auf internationaler Ebene hingegen eigenen Stand hat (Art. 26 IPBPR). Zwar sieht das Protokoll Nr. 12 zur EMRK (Text: EuGRZ 2005, 281) die Etablierung eines umfassenden Gleichheitsrechts vor, doch lehnt die Bundesregierung die Ratifizierung dieses Protokolls einstweilen ab (vgl. BT-Drucks. 16/523, Nr. 32). Der Umfang der international geschützten Rechte kann also weiter gehen als auf regionaler Ebene, dies gilt natürlich erst recht für die "spezialisierten" Verträge wie CEDAW oder UN-Kinderkonvention (z.B. Recht auf Bildung gem. Art. 28 UN-Kinderkonvention). Und auch dort, wo sich die Garantien decken, kann die Interpretation durch die internationalen Gremien über die der regionalen Überwachungsorgane hinausgehen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Umfang menschenrechtlicher Verpflichtungen bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte: Während der EGMR in dieser Frage eine restriktive Haltung eingenommen hat (Banković-Entscheidung, EuGRZ 2002, 133), ist die Position des Menschenrechtsausschusses hierzu eine umfassendere, was zur Folge hatte, dass die Bundesregierung ihren Staatenbericht von 2002 diesbezüglich nachträglich präzisieren musste (deutsche Fassung: http://institut-fuer-menschenrechte.de/dav/Dokumente/ AntwortBRegdeutschStand050105.pdf). Dass Entscheidungen der monitoring bodies als solche unverbindlich sind, darf zudem nicht vergessen lassen, dass der Inhalt der Menschenrechtsverträge selbstverständlich bindendes Recht ist. Die Frage ist lediglich die der "Interpretationshoheit".

In deutschen Gerichtsentscheidungen finden sich Verweise auf General Comments nur äußerst selten. Prominente Ausnahme ist die erste Mauerschützenentscheidung, in welcher der BGH auf General Comment Nr. 6 des Menschenrechtsausschusses verweist (BGHSt 39, 1 [21]). Das Bundesverfassungsgericht hat sich zudem in einem Fall zur Fernwirkung des Verwertungsverbots einer durch Folter eines Dritten erlangten Aussage u.a. auf die Berichte des Ausschusses zur UN-Antifolterkonvention bezogen, freilich nur in dem Sinne, dass diese der eigenen Interpretation nicht entgegenstünden (EuGRZ 1996, 324 [328]). In weit größerem Umfang allerdings nehmen deutsche Gerichtsentscheidungen die materiellen Gewährleistungen internationaler Menschenrechtsverträge in Bedacht (für Nachweise vgl. Robert Uerpmann, German Yearbook of International Law 46 [2003], S. 87 [90 ff.]). Dies legt die Vermutung nahe, dass die Einbeziehung des international-menschenrechtlichen case law nicht etwa wegen fehlender Relevanz bislang unterblieben ist, sondern vielmehr mangels Verfügbarkeit in deutscher Sprache (so auch Uerpmann, a.a.O., S. 121). Die in einem General Comment vertretene Rechtsansicht bildet ungeachtet ihrer formalrechtlichen Unverbindlichkeit jedenfalls ein starkes Argument in der Hand dessen, der sich auf sie beruft. Denn angesichts des Fachwissens der in den monitoring bodies vertretenen Experten liegt die Argumentationslast bei demjenigen, welcher der Interpretation der doch gerade zur Durchsetzung der Vertragswerke geschaffenen Ausschüsse nicht folgen will (zutreffend Eckart Klein in seinem Einführungsbeitrag zu dem vorliegenden Band, S. 29).

Zudem ist zu überlegen, ob nicht die vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Pflicht zur "Berücksichtigung" internationaler Gerichtsentscheidungen (für den EGMR: BVerfGE 111, 307 [315 ff.]; für den IGH: BVerfG, 2 BvR 2115/01 u.a. vom 19.9.2006, HRRS 2006 Nr. 726) konsequenterweise auf die Spruchpraxis der monitoring bodies auszuweiten sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar zu dieser Frage noch nicht konkret geäußert, doch bietet insbesondere die jüngste Entscheidung zur Bedeutung von IGH-Urteilen insoweit Anhaltspunkte. Dort heißt es, für Staaten, die an einem konkreten Verfahren nicht beteiligt seien, hätten die Urteile des IGH "Orientierungswirkung, da die darin vertretene Auslegung Autorität bei der Auslegung der Konvention [scil. der streitgegenständlichen Wiener Konsularrechtskonvention] entfaltet." Faktisch müssten sich die Vertragsstaaten, "schon um die künftige Feststellung von Konventionsverletzungen gegen sich zu vermeiden", daher nach Urteilen richten, die gegen andere Staaten ergangen seien (Rn. 61). Wenn das Bundesverfassungsgericht über die förmliche Bindungswirkung von IGH-Urteilen hinaus auch deren "Orientierungswirkung" in die verfassungsrechtliche "Berücksichtigungspflicht" mit

einbezieht, so besteht kein Grund, dies nicht auch für die Auffassungen der monitoring bodies zu tun. Auch diese verfügen über "Autorität bei der Auslegung" des jeweiligen Vertrags, auch hier trägt das Motiv, "die künftige Feststellung von Konventionsverletzungen [...] zu vermeiden". Die Annahme einer "Berücksichtigungspflicht" erscheint hier umso eher annehmbar, als "berücksichtigen" eben nicht "beachten" meint, die innerstaatlichen Gerichte also unter Angabe von Gründen in der Auslegung abweichen können. Dieser mit Blick auf EGMR-Urteile problematische (vgl. M. Breuer, NVwZ 2005, 412 [413 f.]) "Souveränitätsvorbehalt" erweist sich als mit dem Monitoring-System kompatibel, entspricht er doch dessen unverbindlichem Charakter. Ohne die internationale Spruchpraxis zumindest zu "berücksichtigen", d.h. sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen, laufen die deutschen Gerichte indes Gefahr, gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland zu verstoßen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der "dialogue des juges", welcher im Verhältnis von nationaler Gerichtsbarkeit und EuGH durch das Vorabentscheidungsverfahren einen institutionellen Rahmen erhalten hat, bedarf hinsichtlich der treaty monitoring bodies somit noch der Erweiterung und Vertiefung.

Vor diesem Hintergrund ist die Herausgabe des vorliegenden Bandes, in dem erstmalig sämtliche General Comments (Stand: Mai 2004) zu den eingangs erwähnten Menschenrechtsverträgen in deutscher Übersetzung versammelt sind, vorbehaltlos zu begrüßen. Wie nicht zuletzt das Beispiel des EGMR lehrt, dessen Urteile offiziell nur in englischer und französischer Sprache veröffentlicht werden, bildet die fehlende Verfügbarkeit in der eigenen Muttersprache ein wesentliches Rezeptionshindernis. Dieses ist für die General Comments nunmehr beseitigt. Ergänzt wird die Textsammlung durch Einführungen ausgewiesener Experten in dem betreffenden Bereich. Somit bleibt nur die Aufforderung an Rechtsanwender wie Rechtswissenschaftler, von diesem reichen Fundus aktiv Gebrauch zu machen, um so das Wort Klaus Vogels von der durch das Grundgesetz verfassten "offene Staatlichkeit" praktisch wirksam werden zu lassen.

Dr. Marten Breuer, Univ. Potsdam

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Marco Haase: Grundnorm - Gemeinwille - Geist. Der Grund des Rechts nach Kelsen, Kant und Hegel, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2004, 455 S., geb., 74,00 EUR.

Dem heutigen Lebensgefühl entspricht das Lob der Differenz, die Fokussierung auf das Unstimmige, Widersprüchliche und Zerrissene. Im postmodernen Dekonstruktivismus hat diese Einstellung ihre philosophische Nobilitierung erfahren. Wer sich wie Marco Haase demgegenüber zu der Überzeugung bekennt, daß wahre Wissenschaft nur dem möglich sei, "der die Welt als Ganzes, als Kosmos, als sinnvolle Einheit begreifen kann, als eine Ordnung, in der dem Menschen ein angemessener und notwendiger Platz zukommt", wer sich mithin als Metaphysiker zu erkennen gibt, der riskiert es, belächelt und als Esoteriker abgetan zu werden. Die Spötter mögen sich jedoch in Acht nehmen: Sie haben es bei Haase mit einem höchst geistvollen, umfassend gebildeten und zudem noch bemerkenswert sprachmächtigen Kontrahenten zu tun. Wer Haases Buch vorurteilsfrei studiert, wird sich schwerlich des Eindrucks erwehren können, daß ein Großteil der rechtsphilosophischen Produktion der letzten Jahrzehnte im Vergleich mit den Schätzen der metaphysischen Tradition kaum mehr darstellt als Katzengold.

Haase ist bekennender Hegelianer. In seiner passenderweise an der Humboldt-Universität entstandenen und von Hasso Hofmann betreuten Dissertation geht er am Leitfaden der Hegelschen Philosophie der Frage nach, "wie der freie Geist Recht begründen kann". Dies ist, so Haase, nur möglich, indem wir mit Hegel den sich selbst gestaltenden Geist zugleich als Einheitspunkt, Wirkursache und Sollensvorgabe der menschlichen Wirklichkeit begreifen. Zu Hegel aber sollen Haase zufolge "die Fragen führen, die Kelsens Reine Rechtslehre und Kants kritische Philosophie aufwerfen". Diese Reihung erscheint auf den ersten Blick überraschend. Zwar entspricht es einer wohletablierten interpretatorischen Tradition, in Hegel den Vollender Kants zu sehen. Wie aber soll der Wertrelativist und Rechtspositivist Kelsen in den Entwicklungsgang einer idealistischen Rechtskonzeption einbezogen werden können? Es ist der Einheits- und Ordnungsdenker Kelsen, an dem Haase in erster Linie interessiert ist. Kelsen, Kant und Hegel versuchten gleichermaßen, die Ordnung der geschichtlichen Welt von einem höchsten Sollen abzuleiten. "Ein einheitlicher Ursprungswille ist für sie der alleinige Geltungsgrund allen Rechts", das sich nur dank seines Bezugs auf diesen Fix- und Haltepunkt "zu einem mannigfaltigen Ganzen gliedert".

Wie Haase zeigt, bestimmen Kelsen, Kant und Hegel allerdings die Beschaffenheit jenes Ausgangspunktes auf unterschiedliche Weise. Bei Kelsen und Kant sei der Ursprungswille kein wirklicher Wille, sondern nur eine Voraussetzung, die der Betrachter machen müsse, wenn er das von ihm in den Blick genommene Geschehen als Ordnung begreifen wolle. Beide Denker unterschieden sich lediglich insofern, als Kelsen einen unvernünftigen, inhaltlich kontingenten, Kant hingegen einen vernünftigen, allgemeinen Willen voraussetze. Für Hegel hingegen sei der Ursprungswille der wirkliche Geist. Dieser stehe nicht jenseits der Menschen, sei nicht nur intelligible Grundnorm oder vorausgesetzter Gemeinwille, sondern sei "zugleich wirkende Kraft, indem er im tatsächlichen Wissen, Wollen und Wirken der Menschen erscheint". Kelsen, Kant und Hegel stellten insofern drei Denkmöglichkeiten vor, Recht zu begründen: "in der Willkür, in der Vernunft oder im Geist". Haases zentrale These lautet, daß eine "innere Notwendigkeit besteht, im Denken von Kelsen über Kant zu Hegel fortzuschreiten"; denn nur dessen Begründungsmodell vermöge intellektuell zu befriedigen, während die Ansätze Kelsens und

Kants den ihnen innewohnenden Widersprüchen letztlich hilflos ausgeliefert seien. Vermag Haase diese mutige Behauptung argumentativ einzulösen?

Die Reine Rechtslehre Kelsens beruht bekanntlich auf der Überzeugung von der Unableitbarkeit des Sollens aus dem Sein. Haase stimmt diesem Ausgangspunkt ausdrücklich zu: "Aus dem Sinnlosen erwächst kein Sinn; das Bedingte ist nicht Grund des Unbedingten; aus dem schlechthin ungeordneten Naturzustand geht kein geordneter Rechtszustand hervor." Ernst genommen, dementiere diese Einsicht jedoch eine weitere tragende Überzeugung Kelsens, den Wertrelativismus, dem zufolge lediglich die formale Struktur des Rechts der wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist, während Aussagen über gebotene Rechtsinhalte außerhalb des Kompetenzbereichs der Wissenschaft liegen. Haase wendet gegen Kelsen ein: "Wenn der freie Wille nur die verknüpfende Form von Tatbestand und Rechtsfolge, nicht aber den Inhalt vorgibt, muß der Inhalt einer anderen Quelle, dem unfreien Sein, entspringen. Damit kann der Setzungsakt des Willens aber nicht dem Anspruch des Rechts genügen, eine Sollensordnung zu begründen."

Dieser Einwand träfe zu - wenn Kelsen tatsächlich die ihm von Haase zugeschriebene Position vertreten würde, Geltungsgrund der rechtlichen Sollensordnung sei "das Unbedingte, der schlechthin freie, gedachte Wille, der Wille, der aller Setzung vorausgeht". Daran bestehen jedoch erhebliche Zweifel. Kelsens eigentliches Anliegen ist weitaus weniger ambitioniert. Es geht ihm nicht darum, seine Konzeption in den Rahmen einer Willensmetaphysik einzufügen; vielmehr begreift er die Reine Rechtslehre schlicht als eine Metatheorie der tatsächlich praktizierten Rechtsdogmatik. Deren Rechtsverständnis legt er seiner Konzeption zugrunde; sein Ziel besteht darin, es auf den Begriff zu bringen und die ihm immanenten formalen Strukturen zu erhellen. Wenn Kelsen in seiner Grundnormtheorie die Wirksamkeit zur Voraussetzung der Rechtsgeltung erklärt - eine zentrale theoriestrategische Weichenstellung, auf die Haase mit keinem Wort eingeht -, so tut er dies einfach deshalb, weil er diese Begriffsbestimmung unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten für zweckmäßig hält. Diesem Ansatz kann man mit guten Gründen vorwerfen, er sei insofern defizitär, als er vor den eigentlich schwierigen Fragen der Rechtsphilosophie Halt mache. Dies ist jedoch etwas anderes, als - wie Haase es tut - Kelsen einen Begründungsanspruch zu unterstellen, der diesem in Wahrheit ganz fern liegt.

An dem systematischen Gewicht von Haases Überlegungen ändert dieses Bedenken freilich nichts. Wer das anspruchsvolle Willensverständnis Haases teilt, der kann mit einer positivistischen, wertrelativistischen Antwort auf die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts nicht zufrieden sein. "Damit die Sollensordnung dem Betrachter als Deutungsmuster des Geschehens dienen kann, muß statt dessen das Ordnungsmuster aus einem freien Willen abgeleitet werden, der sich seinen eigenen, notwendigen Inhalt gibt. Nicht die Willkür, der inhaltslose freie Wille kann daher voraussetzungslos die Grundnorm setzen, sondern allein Kants allgemeiner, vernünftiger Wille, der Gemeinwille." Freilich ist diese Einsicht bei Kant in den Kontext eines kritischen, d.h. zerschneidenden Denkens eingefügt. Die kantische Erkenntnistheorie spricht dem menschlichen Verstand bekanntlich die Fähigkeit zur Erkenntnis der Dinge an sich ab. Der Mechanismus des Verstandes verknüpft in den Worten Haases "das mannigfaltig Gegebene nach dem Maßstab seines eigenen Deutungsmusters". In der Kritik der Urteilskraft - derjenigen der drei Kritiken, die Hegel am meisten schätzte - konzediert Kant zwar, daß der Betrachter im Schönen und im Lebendigen mit Phänomenen konfrontiert sei, die sich von sich aus zu einem Ganzen zu ordnen scheinen. Wie Haase herausarbeitet, gibt Kant aber auch hier seinen generellen erkenntnistheoretischen Vorbehalt nicht auf: Die Vernunft betrachte das Schöne und das Lebendige, als ob ihnen die Fähigkeit zur Selbstorganisation innewohne. Auch hier stellt Erkenntnis also letztlich eine genuine Deutungsleistung des Betrachters dar; die Strukturen der betrachteten Wirklichkeit als solcher bleiben in Dunkel gehüllt.

Mit Hegel hält Haase diese Auffassung - strafrechtlich würde man von einer radikal normativistischen Position sprechen - für unhaltbar: "Die Wirklichkeit, deren Sinn der Betrachter ermitteln will, muß dem Betrachter einen Anhalt geben, an dem er seine Deutung festmachen kann. Wäre das Tatsächliche, das der Betrachter deuten will, gestalt- und sinnlos, wäre die Deutung selbst dann unmöglich, wenn der Betrachter über ein gegliedertes Deutungsmuster verfügte. Das Tatsächliche muß daher in sich gegliedert sein, damit das Deutungsschema des Betrachters das Tatsächliche deuten kann." Damit ist der Übergang von Kant zu Hegel vollzogen. Dessen "Begriff des Begriffs ist nicht nur wie die Deutungsmuster von Kelsen und Kant ein Muster im Denken des Betrachters, vielmehr ist es die wirkende Kraft im Betrachteten". Kurzum: "Die vernünftige Gestalt gestaltet sich selbst." Der Philosophie obliegt es lediglich, "zu zeigen, wie in den besonderen Gestalten der Welt der sich selbst begreifende Begriff zum System der Selbsterkenntnis drängt".

Wie Haase in engem Anschluß an Hegels Grundlinien herausarbeitet, hat dieser Ansatz weitreichende rechtsphilosophische Konsequenzen. Er verhilft Hegel zu der Einsicht, daß das Proprium einer Rechtsordnung verfehlt wird, wenn man sie (mit Kant) primär als Zwangsordnung deutet. In Haases Worten ist die Rechtsordnung für Hegel vielmehr "die richtige Lebensordnung, in der die einzelnen Menschen ihr eigenes, vernünftiges Wesen verwirklichen". Hegel sehe, daß das Zwangsmoment allein eine Lebensordnung nicht zu stabilisieren vermag. "Damit eine Rechtsordnung sich erhalten kann, müssen die Menschen vielmehr aus eigenem Antrieb der Rechtsordnung gemäß leben." Der Staat sei für Hegel deshalb "nur wirklich durch die Tätigkeit der einzelnen Menschen, die in seinem Geist wirken". Ungekehrt aber bildeten Gesellschaft und Staat ihrerseits "den Sinnhorizont, in dem der Mensch sein Leben sinnvoll erleben und gestalten kann". Entgegen dem heutigen Selbstverwirklichungsjargon wird ein Selbst eben "nicht frei, indem es zu einem grenzenlosen Strömen, einem schrankenlosen

Treiben, einem bedingungslosen Geschehen wird; es wird frei, indem es sich selbst begrenzt, sich selbst beherrscht, sich selbst bestimmt und in den besonderen Gestalten, zu denen es sich verendlicht hat, sich selbst erkennt". Kurzum: Die Schule der Freiheit ist das Dienen. "Diese Verschränkung zwischen der Freiheit des einzelnen und der Freiheit des Ganzen begründet für Hegel die Sittlichkeit des Staates. Wie aber diese Sittlichkeit möglich ist, ist das Grundproblem der Hegelschen Rechtsphilosophie."

Gegen die Lehre Hegels wird seit eh und je eingewendet, sie vereinnahme das einzelne Subjekt zugunsten eines fiktiven Allgemeinen. Haase gelingt es, diesen Vorwurf nicht nur abzuwehren, sondern die Fronten geradezu umzukehren. Nicht Hegel, sondern Kant habe Schwierigkeiten damit, dem Besonderen ein eigenes Recht zuzugestehen. "Sofern Kant Sein und Sollen, Besonderes und Allgemeines trennt, kann er nur der reinen Vernunft des Menschen, seinem An-sich, einen Wert zuerkennen. Der Erscheinung des Menschen muß er dann jedes Recht absprechen." Erscheine hingegen wie bei Hegel das Sollen im Seienden, dann komme dem Seienden ein Wert zu, der sich danach bemesse, inwiefern sich das begrifflich-vernünftige Gefüge von Allgemeinem und Besonderem im Seienden zeige; es gebe dann nicht mehr einen unbedingten Vorrang der intelligiblen Welt vor der sinnlichen, sondern auch eine Abstufung innerhalb der letzteren. "Wie sehr Hegel im Gegensatz zu Kant gerade das Besondere und Eigentümliche schätzt, zeigt sich daran, daß er den Repräsentanten des Geistes, den besonderen Menschen, nicht nur achtet, weil er an sich freier Wille ist, sondern weil er gerade in seiner Besonderheit und Endlichkeit ein Moment des Ganzen verkörpert."

Läßt man, am Ende von Haases Werk angelangt, das Buch Revue passieren, dann kann man nicht anders, als dem Verfasser hohe Anerkennung zu zollen. Der Grund dafür ist letztlich ein sehr einfacher: Während die normale juristische Qualifikationsschrift sich im wesentlichen darin erschöpft, einen bereits sattsam bekannten Meinungsbrei ein weiteres Mal umzurühren, hat Haase - eine Idee entfaltet. Es wäre leicht, ihm die Überinterpretation einiger Kelsen-Zitate, die Einseitigkeit seiner Lesart der kantischen Erkenntnistheorie oder die weitgehende Nichtberücksichtigung der neueren Sekundärliteratur zu Hegel vorzuhalten. Die exzeptionelle Qualität seines Werks bleibt von derartigen Einwänden gänzlich unberührt. Glücklich die Fakultät, an der noch solche Arbeiten entstehen!

Prof. Dr. Michael Pawlik (LLM Cantab.), Univ. Regensburg

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