HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2006
7. Jahrgang
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II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht

881. BGH 5 StR 125/06 - Urteil vom 11. Juli 2006 (LG Potsdam)

Anordnung der Unterbringung in der nachträglichen Sicherungsverwahrung (neue Tatsache: Änderung der Rechtslage und Neubewertung; Taten während des Strafvollzuges; Gesamtwürdigung; hohe Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Begehung erheblicher Straftaten).

§ 66b StGB

1. Neue Tatsachen können nicht allein in der Änderung der Rechtslage gefunden werden (vgl. BGHSt 50, 284, 296). "Neue Tatsachen" der in § 66b StGB genannten Art sind nur solche, die nach der letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden sind (vgl. BGHSt 50, 180, 187; BGH NJW 2006, 1442, 1444). Ob diese Tatsachen bereits im Ausgangs- oder einem früheren Verfahren Grundlage einer sachverständigen Bewertung waren, ist ohne Belang (vgl. BGH NStZ 2006, 276, 278). Maßgeblich ist nicht die neue oder sogar erstmalige Bewertung von Tatsachen. Entscheidend ist vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen und bekannt oder erkennbar waren (vgl. BGHSt 50, 275, 278; BGH NJW 2006, 1442, 1444).

2. Die neuen Tatsachen, die die Einleitung eines Verfahrens zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen können, müssen im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips schon für sich und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände Gewicht haben im Hinblick auf mögliche erhebliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer (vgl. BGHSt 50, 284, 297; NJW 2006, 1446, 1448).

861. BGH 1 StR 475/06 - Beschluss vom 10. Oktober 2006 (LG München I)

Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (neue Tatsachen aus der Bewährungszeit; Erwägung milderer Mittel).

§ 66b StGB

§ 66b StGB erfordert zwar, dass die Tatsachen "vor Ende des Vollzugs" der Freiheitsstrafe erkennbar werden. Diese Voraussetzung ist jedoch bei Tatsachen aus der Bewährungszeit auch dann erfüllt, wenn gegen den im Wege der Strafrestaussetzung zur Bewährung zwischenzeitlich in Freiheit gelangten Verurteilten nach Widerruf der Strafaussetzung die Freiheitsstrafe wieder vollzogen wird.

856. BGH 1 StR 284/06 - Urteil vom 10. Oktober 2006 (LG Traunstein)

Sicherungsverwahrung (Verwirkung einer Strafe; Auswirkung auf die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: beschränkte Revision nicht bei möglichem inneren Zusammenhang).

§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB; § 64 StGB; § 333 StPO

1. Eine Strafe ist danach "verwirkt" (§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB), wenn wegen der Tat eine Verurteilung bereits ergangen ist oder im Zusammenhang mit dem Verfahren, in dem die Frage der Sicherungsverwahrung zu entscheiden ist, ausgesprochen wird (BGH NStZ 2006, 156, 158 Rdn. 5; NJW 1999, 3723, 3724).

2. Bei einer Revision, die sich gegen die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung richtet, kann im Grundsatz nicht nur der Strafausspruch, sondern auch eine angeordnete Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wirksam von der Anfechtung ausgenommen werden (vgl. BGH - Senat - NStZ 2000, 587, 588). Dies gilt jedoch nicht, falls ein möglicher innerer Zusammenhang zwischen beiden Maßnahmen nicht von vorneherein völlig auszuschließen ist.

875. BGH 4 StR 390/06 - Beschluss vom 26. September 2006 (LG Paderborn)

Fehlerhafte Gesamtstrafenbildung (Erörterungsmangel bezüglich einer gesonderten Verhängung einer Gesamtgeldstrafe).

§ 53 Abs. 2 Satz 2 StGB

871. BGH 4 StR 223/06 - Beschluss vom 25. Juli 2006 (LG Rostock)

Anordnung des (Wertersatz-)Verfalls (Ausschluss durch Existenz von Verletztenansprüchen: unmögliche Ermittlung der Geschädigten).

§ 73 Abs. 1 Satz 2 StGB; § 354 Abs. 1 b StPO

1. Ist dem Verletzten aus der Tat ein Anspruch gegen den Täter oder Teilnehmer erwachsen, dessen Erfüllung diesem den Wert des aus der Tat Erlangten entziehen würde, so ist die Anordnung des Verfalls und des Wertersatzverfalls gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB grundsätzlich allein schon durch die Existenz dieser Forderung ausgeschlossen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Verletzte bekannt ist, er den Täter oder Teilnehmer tatsächlich in Anspruch nimmt oder hiermit zumindest noch zu rechnen ist (vgl. etwa BGH NStZ 1984, 409 f.; NStZ-RR 2004, 242, 244; 2006, 138).

2. Der Anwendbarkeit des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB steht nach der derzeitigen Gesetzeslage und dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nicht entgegen, dass die durch die Taten des Angeklagten Geschädigten nicht ermittelt werden konnten und deren Feststellung auch künftig nicht zu erwarten, mithin mit der Geltendmachung und Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen den Angeklagten nicht zu rechnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 2006 - 3 StR 41/06).

853. BGH 1 StR 70/06 - Beschluss vom 31. Juli 2006 (LG Karlsruhe)

Verfallsanordnung (entgegenstehende Ansprüche der Geschädigten; möglicher Verzicht); Revisionserstreckung (materiellrechtliche Gesetzesverletzung).

§ 73 Abs. 1 Satz 2 StGB; § 357 StPO

Der grundsätzliche Vorrang der zivilrechtlichen Ansprüche der im Urteil namentlich festgestellten Geschädigten greift lediglich dann nicht, wenn diese keine Ansprüche geltend machen oder darauf verzichten, dem Angeklagten also keine doppelte Inanspruchnahme droht und den Geschädigten auch keine Ersatzmöglichkeit entzogen wird (vgl. BGH NStZ-RR 2004, 54, 55; BGH, Beschluss vom 31. März 2004 - 1 StR 482/03 - insoweit in NStZ 2005, 213 nicht abgedruckt).

879. BGH 5 StR 106/06 - Urteil vom 13. Juli 2006 (LG Bielefeld)

Verfallsanordnung gegen einen Nebenbeteiligten (ausschließende Ansprüche des Verletzten: Existenz der Ansprüche; unbillige Härte: Bedeutung der Gutgläubigkeit).

§ 73 Abs. 3, Abs. 1 Satz 2 StGB; § 73c Abs. 1 Satz 1 StGB

Die Anordnung des Verfalls gegen einen Nebenbeteiligten nach § 73 Abs. 3 StGB setzt voraus, dass keine vorrangigen Ersatzansprüche des Verletzten bestehen. Auch hier gilt gleichermaßen der Schutzgedanke des § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB, wonach eine Verfallsanordnung bei Ersatzansprüchen des Verletzten ausscheiden muss, um durch die Abschöpfung von Vermögenswerten die Erfüllung der Ansprüche des Verletzten nicht zu gefährden und andererseits eine doppelte Inanspruchnahme des Ersatzpflichtigen zu vermeiden (BGHR StGB § 73 Verletzter 3, 4).