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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2006
7. Jahrgang
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Zur Frage der Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde, wenn der Notardisziplinarsenat des Oberlandesgerichts den Antrag der Einleitungsbehörde zurückweist, ein bei ihm anhängiges förmliches Disziplinarverfahren fortzusetzen, das wegen eines gegen den Notar gleichzeitig laufenden, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ausgesetzt worden war. (BGHR)
1. Ob ein bloßer - weiter nicht begründeter oder wenigstens entsprechend kommentierter - Antrag gemäß § 238 Abs. 2 StPO nach einer Verfügung über die Einführung von Ergebnissen einer Überwachung der Telekommunikation in die Hauptverhandlung grundsätzlich als Widerspruch gegen die Verwertung dieser Ergebnisse wegen Fehlens der Anordnungsvoraussetzungen zu werten ist, bleibt offen. Regelmäßig wird eine entsprechende Klarstellung zu fordern sein. Der Antrag ist jedenfalls dann nicht als Widerspruch genügen zu lassen, wenn auszuschließen ist, dass der Antrag gemäß § 238 Abs. 2 StPO überhaupt von Zweifeln an der Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse getragen war.
2. Ob ein bloßer Antrag auf einen Gerichtsbeschluss gemäß § 238 Abs. 2 StPO einem Widerspruch gegen die Verwertung der abgehörten Telefonate - mangels Vorliegens der Voraussetzungen für die Anordnung der Überwachung der Telekommunikation - gleichzusetzen ist, muss das Revisionsgericht selbst bewerten können. In der Revisionsbegründung, die die Verwertung als unzulässig rügt darf dies nicht - verdeckt - als Tatsachenbehauptung vorweggenommen werden. Anderenfalls ist die erhobene Rüge unzulässig.
3. Darüber hinaus muss die Revisionsbegründung, die unzureichende Begründungen von richterlichen Anordnungen der Telephonüberwachung oder von Eilanordnungen rügt, zur Verdachtslage und zu den übrigen Eingriffsvoraussetzungen zum Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten Entscheidungen vortragen.
4. Die ungenügende Fassung der richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen Anordnungen der Überwachung der Telekommunikation begründet nicht per se die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen mit der Folge der Unverwertbarkeit der hieraus gewonnenen Erkenntnisse. Entscheidend sind vielmehr die tatsächlichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Überwachung der Telekommunikation, d.h. ob danach die Gestattung der Überwachung und, soweit es sich um staatsanwaltschaftliche Eilanordnungen handelte, auch die Annahme von Gefahr im Verzug, vertretbar war.
1. Die Grenzen des Zulässigen bei der Frage, ob das Verhalten eines Verteidigers den Tatbestand der Strafvereitelung erfüllt, ergeben sich nicht unmittelbar aus § 258 StGB selbst. Vielmehr verweist die Vorschrift auf die Regelungen des Prozessrechts. Danach darf der Verteidiger grundsätzlich alles tun, was in gesetzlich nicht zu beanstandender Weise seinem Mandanten nützt. Die Achtung der rechtsstaatlich notwendigen effektiven Strafverteidigung - auch im Blick auf Art. 12 GG - gebietet erhebliche Zurückhaltung bei gerichtlicher Inhaltskontrolle von Verteidigerverhalten. Dies muss gerade auch für die Abgrenzung von erlaubtem und unerlaubtem Verteidigerverhalten gelten.
2. Ein Fall effektiver Strafverteidigung liegt nicht vor, wenn die zu beurteilenden Handlungen eines Verteidigers sich als verteidigungsfremdes Verhalten erweisen, die sich nur den äußeren Anschein der Verteidigung geben, tatsächlich aber nach den Maßstäben des Strafverfahrensrechts und des materiellen Strafrechts nichts zu solcher beizutragen vermögen.
3. Liegt ein Leugnen des gesamten Holocaust vor, drängt sich die Annahme verteidigungsfremden Verhaltens auf, da dieses zur Sachaufklärung oder rechtlichen Beurteilung im konkreten Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt etwas beitragen kann.
476. BGH 4 StR 30/06 - Beschluss vom 4. April 2006 (LG Hagen) Abgrenzung von Beweisantrag und Beweisermittlungsantrag (Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens; Beweisantrag "auf’s Geratewohl"; vermutete Tatsachen). § 244 Abs. 2 und Abs. 3 StPO
1. Dem Antragsteller kann es grundsätzlich nicht verwehrt sein, auch solche Tatsachen unter Beweis zu stellen, die er lediglich für möglich hält (vgl. BGHSt 21, 118, 125; BGH NStZ 1993, 143, 144 jeweils m.w.N.) oder nur vermutet (BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 2).
2. Einem Beweisbegehren, das in die Form eines Beweisantrags gekleidet ist, muss allerdings nicht oder allenfalls nach Maßgabe der Aufklärungspflicht nachgegangen werden, wenn die Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde, sodass es sich in Wahrheit nur um einen nicht ernstlich gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag handelt (vgl. BGH NStZ 2003, 497; StV 2002, 233 m.w.N.).
3. Dies ist jedoch nicht schon dann der Fall, wenn die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Beweisaufnahme ergeben hat (vgl. BGH NJW 1983, 126, 127; StV 2002, 233). Ob es sich nach den vorgenannten Grundsätzen bei einem Beweisbegehren um einen Beweisermittlungsantrag handelt, ist vielmehr aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht infrage gestellten Tatsachen zu beurteilen (vgl. BGH NStZ 1989, 334; 2003, 497).
Einer Kompensation wegen der Verletzung des Rechts auf Verfahrensbeschleunigung steht es entgegen, wenn die Verteidiger des Angeklagten sowohl im Revisionsverfahren als auch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde wahrheitswidrig vorgetragen haben und deshalb der zusätzliche Zeitbedarf bis zum Abschluss des Verfahrens der Sphäre des Angeklagten zuzurechnen ist.
1. Grundsätzlich begründet die Revision, wenn der nach § 251 Abs. 4 StPO geforderte Gerichtsbeschluss nicht ergangen ist (vgl. BGH NStZ 1988, 283; 1993, 144). Der Beschluss dient der Unterrichtung der Verfahrensbeteiligten über den Grund der Verlesung und der eindeutigen Bestimmung des Umfangs der Verlesung. Das Urteil kann auf dem nicht ergangenen Gerichtsbeschluss beruhen, wenn sich den Verfahrensbeteiligten der Grund der Verlesung nicht erschlossen hat und damit die der Anordnung der Verlesung zu Grunde liegenden Erwägungen rechtlich nicht überprüfbar sind (vgl. BGHR StPO § 251 Abs. 4 Gerichtsbeschluss 1, 3, 4; § 251 Abs. 4 S. 1 Anordnung 1) bzw. das Gericht die Verlesungsvoraussetzungen (im Gegensatz zum Vorsitzenden) möglicherweise verneint hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 1979 - 5 StR 531/79).
2. Zur Prüfung der Frage, ob ein Beruhen des Urteils auf dem fehlenden Gerichtsbeschluss nicht auszuschließen ist, weil das Gericht unter Beachtung von Aufklärungsgesichtspunkten anders entschieden hätte als der Vorsitzende allein, ist regelmäßig die Kenntnis des Inhalts der verlesenen Niederschrift sowie der vorangegangenen Aussage des betroffenen Zeugen erforderlich. Teilt die Revision weder den Wortlaut noch den wesentlichen Inhalt der verlesenen Niederschrift und den Inhalt der Zeugenaussage nicht mit, kann der Senat die Beruhensfrage nicht prüfen. Die Rüge ist dann unzulässig erhoben.
1. Nach § 200 Abs. 1 StPO ist die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Täters unterscheiden lassen. Dabei muss die Schilderung umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat.
2. Zwar führen nur schwere Mängel einer Anklageschrift zu ihrer Unwirksamkeit. Denn sachliche Lücken der Anklageschrift allein begründen nur dann ein Verfahrenshindernis, wenn die angeklagten Taten anhand der Anklageschrift nicht genügend konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft des Urteils haben würde. Auch wenn der Anklagesatz lückenhaft ist, erfüllt die Anklage die Umgrenzungsfunktion noch hinreichend, wenn der Angeklagte die einzelnen Tatvorwürfe dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen entnehmen konnte.
3. Jedoch kann sich aus einem in der Hauptverhandlung verlesenen Anklagesatz, der nur unter Rückgriff auf das - nicht verlesene - wesentliche Ergebnis der Ermittlungen die Umgrenzungsfunktion der Anklage erfüllt, ein Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO ergeben. Denn der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes geht dahin, diejenigen Richter, denen der Inhalt der Anklage noch nicht bekannt ist, sowie die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, auf welchen geschichtlichen Vorgang sich das Verfahren bezieht. Den Prozessbeteiligten soll Gewissheit darüber vermittelt werden, auf welche Tat sie ihr Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben.
4. Rechte des Angeklagten können bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten eingeschränkt oder sogar ganz verwirkt werden. Für das Beweisantragsrecht gelten insoweit die Grundsätze der Entscheidung BGHSt 38, 111, gegebenenfalls können auch die vom 5. Strafsenat, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 5 StR 129/05 (StV 2006, 113 m. Anm. Dahs) aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten erwogen werden. Das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c und d EMRK) gebieten es allerdings, permanent zu überprüfen, ob eine Beschränkung der Verteidigungsrechte des Angeklagten weiterhin erforderlich ist. Eine vorweggenommene Einschränkung des letzten Wortes kommt nur unter ganz besonderen Umständen in Betracht, insbesondere wenn feststeht oder
sicher zu erwarten ist, dass der Angeklagte das letzte Wort in rechtsmissbräuchlicher Weise ausübt oder ausüben wird.
1. Die Tat als Prozessgegenstand ist nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten dort zur Last gelegte Geschehensablauf. Vielmehr gehört zu ihr das gesamte Verhalten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet. Dabei kommt es im Einzelfall darauf an, ob die einzelnen Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann und ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde.
2. Eine Brandstiftung und die im unmittelbaren Anschluss erfolgte Inanspruchnahme der Gebäudeversicherung sind nach diesen Maßstäben eine prozessuale Tat im Sinne des § 264 StPO.
3. Macht die zugelassene Anklage wegen Brandstiftung keine Angaben zu einer versuchten Täuschung der Feuerversicherung, so hat dies nicht zur Folge, dass ein Betrug durch Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber der Versicherung nicht Gegenstand der Anklage wäre und die Untersuchung sich nicht auf sie erstrecken dürfte.
Die Erhebung eines Rechtsbehelfs mit dem Ziel nachträglicher Anhörung gegen eine im Rechtsmittelverfahren unanfechtbar ergangene Entscheidung führt nicht dazu, dass die Entscheidung hierüber als eine solche des ersten Rechtszugs im Sinne von § 304 Abs. 4 Satz 2, 1. Halbsatz StPO anzusehen ist.
Die Befugnis des Tatrichters zur Verwerfung der Revision ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen ein Beschwerdeführer die für die Einlegung und Begründung des Rechtsmittels vorgeschriebenen Form oder Fristen nicht gewahrt hat (§ 346 Abs. 1 StPO). Soweit die Revision dagegen aus einem anderen Grunde [hier: wirksamer Rechtsmittelverzicht] als unzulässig zu verwerfen ist, steht die Befugnis hierzu allein dem Revisionsgericht zu. Dies gilt auch dann, wenn ein solcher Grund mit Mängeln der Form- und Fristeinhaltung zusammentrifft, also wenn die Revision verspätet eingelegt worden ist (BGH NStZ 2000, 217; BGH NStZ-RR 2001, 265 m.w.N.).
1. Die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung ihrer Glaubhaftigkeit ist Aufgabe des Gerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist, und dass sie beteiligten Laienrichtern diese Sachkunde vermitteln können.
2. Ausnahmen können sich ergeben, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Erinnerungsfähigkeit einer Beweisperson aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen eingeschränkt ist oder dass besondere psychische Dispositionen oder Belastungen die Zuverlässigkeit der Aussage in Frage stellen könnten, und dass für die Feststellung solcher Faktoren und ihrer möglichen Einflüsse auf den Aussageinhalt eine besondere, wissenschaftlich fundierte Sachkunde erforderlich ist, über welche der Tatrichter im konkreten Fall nicht verfügt.
3. Besonderheiten im genannten Sinn sind nicht allein deshalb anzunehmen, weil Gegenstand der Aussage eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist oder weil eine Beweisperson zur Zeit des geschilderten Vorfalls oder ihrer Aussage in kindlichem oder jugendlichem Alter war bzw. ist.
1. Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut (BGHSt 8, 130; BGH NStZ 2001, 105). Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist allerdings dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel daran aufkommen können, ob die Sachkunde des Ge-
richts auch zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 Glaubwürdigkeitsgutachten 2; BGH StV 1994, 173).
2. Der Tatrichter ist nicht gehindert, die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders zu beurteilen als ein hierfür herangezogener Sachverständiger. Er muss dann aber die wesentlichen Ausführungen des Sachverständigen im Einzelnen darlegen, insbesondere die Stellungnahme des Sachverständigen zu den Gesichtspunkten, auf die er seine abweichende Auffassung stützt. Dem Revisionsgericht ist ansonsten keine Prüfung möglich, ob der Tatrichter das Gutachten zutreffend gewürdigt und aus ihm rechtlich zulässige Schlüsse gezogen hat (st. Rspr.; BGH NStZ 2000, 550f.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 1 und 5).