HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 437
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 174/05, Urteil v. 28.04.2006, HRRS 2006 Nr. 437
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bad Kreuznach vom 29. April 2004 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des Landgerichts Mainz zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs in Tateinheit mit Inverkehrbringen von Lebensmitteln unter irreführender Bezeichnung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und die Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung materiellen und formellen Rechts und macht Verfahrenshindernisse geltend. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils fasste der Angeklagte den Plan, gemeinschaftlich mit seinem Schwager Yggfried S., der als Inhaber der Firma E. im Handel mit ökologisch erzeugten Agrarprodukten tätig war, seiner damaligen Ehefrau Solveig, seinem Sohn Gernot und seinem Neffen Gunnar N. konventionell erzeugtes Speise- und Futtergetreide, konventionell erzeugten Raps und konventionell erzeugte Hülsenfrüchte als Ware aus kontrolliert ökologischem Anbau gemäß VO (EWG) 2092/91, deren Preis etwa doppelt so hoch war wie für konventionelle Ware, zu verkaufen. Entsprechend diesem Plan schloss Yggfried S. ab Juni 1999 in 58 Fällen Verträge über die Lieferung von "Bio"- oder "Öko"-Erzeugnissen aus EU-konformem Anbau, wobei 27 Verträge die Lieferung von Speisegetreide, die übrigen Verträge Futtermittel betrafen. Die tatsächlich gelieferten Produkte stammten aus konventionellem Anbau, was die Abnehmer nicht erkannten. Der Netto-Verkaufspreis der Lieferungen betrug insgesamt 11.627.458,28 DM, der Preis für konventionelle Produkte hätte hingegen nur 7.055.088,37 DM betragen, so dass den Abnehmern ein Schaden von 4.572.369,91 DM entstanden ist.
2. Verfahrenshindernisse liegen nicht vor. Nur schwere Mängel einer Anklageschrift führen zu ihrer Unwirksamkeit. Sachliche Lücken der Anklageschrift begründen nur dann ein Verfahrenshindernis, wenn die angeklagten Taten anhand der Anklageschrift nicht genügend konkretisierbar sind, so dass unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde (BGH NStZ 1984, 133; 1992, 553). Auch wenn der Anklagesatz hier lückenhaft ist (dazu unter 3.), erfüllt die Anklage die Umgrenzungsfunktion noch hinreichend, da der Angeklagte die einzelnen Tatvorwürfe dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen entnehmen konnte (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 12).
3. Der Rüge der Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO, weil der in der Hauptverhandlung verlesene Anklagesatz keine ausreichende Konkretisierung der einzelnen Tatvorwürfe und Tatumstände enthalte, ist hingegen begründet.
a) Die Anklageschrift vom 16. November 2001 warf dem Angeklagten vor, in der Zeit vom 4. Juli 1999 bis zum 24. August 2000 in A., B. und an anderen Orten gemeinschaftlich handelnd in 104 Fällen als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Straftaten nach § 263 StGB verbunden hat, gewerbsmäßig in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen anderer dadurch beschädigt zu haben, dass er durch Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Irrtum erregte und in 38 Fällen tateinheitlich hierzu entgegen § 17 Nr. 5 LMBG Lebensmittel unter irreführender Angabe in den Verkehr gebracht zu haben. Der Anklagesatz beschrieb allgemein den Tatplan und die Tatausführung und teilte mit, dass mit Kunden der Firma E. des mitangeklagten Schwagers des Angeklagten 38 Verträge über Speisegetreide und 74 Verträge über Futterware aus kontrolliert biologischem Anbau geschlossen worden waren, tatsächlich aber in 1058 Einzelpartien 28.670.034 kg Ware aus konventionellem Anbau zu einem Gesamtpreis von 11.192.953,35 DM geliefert worden war. Die notwendigen Einzelheiten zu den Verträgen, den Vertragspartnern oder zu den Lieferungen, wie zum Beispiel wann mit wem welcher Vertrag über welches Erzeugnis zu welchem Preis geschlossen worden ist und durch welche Einzellieferungen (Produkt, Menge, Zeitpunkt) die Verträge erfüllt wurden, enthielt erst das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen. Dieses ist aber gerade nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen.
b) Dieser Anklagesatz genügt nicht den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO. Danach ist die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs dargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Täters unterscheiden lassen. Dabei muss die Schilderung umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (st. Rspr., vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 3, 7, 20; Meyer-Goßner StPO 48. Aufl. § 200 Rdn. 7; Tolksdorf in KK-StPO 5. Aufl. § 200 Rdn. 3; Rieß in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 200 Rdn. 13). Danach ist, um der Informationsfunktion der Anklage gerecht zu werden, bei einer Serie von Straftaten erforderlich, dass die dem Angeklagten im einzelnen vorgeworfenen Tathandlungen nach Tatzeit, Tatort, Tatausführung und anderen individualisierenden Merkmalen ausreichend beschrieben und dargelegt werden (Rieß aaO § 200 Rdn. 14 b). So genügt es grundsätzlich nicht, den Tatzeitraum nach Beginn und Ende einzugrenzen, die in allen Fällen gleichartige Begehungsweise allgemein zu schildern und dabei den betrügerisch herbeigeführten Gesamtschaden zu beziffern (vgl. BGH NStZ 1986, 275, 276; vgl. aber auch OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 275, 276). Eine Ausnahme wird, beispielsweise bei Serienfällen sexuellen Kindesmissbrauchs, nach der Rechtsprechung nur dann zugelassen, wenn eine Individualisierbarkeit nach genauer Tatzeit und genauem Geschehensablauf bei der Begehung einer Vielzahl gleichartiger Taten nicht möglich ist und dies zu gewichtigen Lücken in der Strafverfolgung führen würde und wenn es im Rahmen der Anklageerhebung wenigstens gelingt, das Tatopfer, die Grundzüge der Art und Weise der Tatbegehung, einen bestimmten Tatzeitraum und die (Höchst-)Zahl der vorgeworfenen Straftaten, die Gegenstand der Anklage sein sollen, mitzuteilen (vgl. BGHSt 40, 44, 46; Rieß aaO § 200 Rdn. 14 b, 14 c m.w.N.).
c) Die danach erforderliche hinreichende Konkretisierung der Tat muss sich grundsätzlich schon aus dem Anklagesatz ergeben, um der Informationsfunktion der Anklage gerecht zu werden. Der Zweck der Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) geht dahin, diejenigen Richter - insbesondere die Schöffen -, denen der Inhalt der Anklage noch nicht bekannt ist, sowie die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, auf welchen geschichtlichen Vorgang sich das Verfahren bezieht, und ihnen zu ermöglichen, während der ganzen Verhandlung ihr Augenmerk auf die Umstände zu richten, auf die es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ankommt. Den Prozessbeteiligten soll Gewissheit darüber vermittelt werden, auf welche Tat sie ihr Angriffs- und Verteidigungsvorbringen einzurichten haben (vgl. BGHR StPO § 243 Abs. 3 Anklagesatz 2; BGH NJW 1982, 1057; Tolksdorf aaO § 243 Rdn. 23; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 243 Rdn. 50 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügte der Anklagesatz hier nicht.
d) Ein Beruhen des Urteils auf dem Gesetzesverstoß vermag der Senat in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt nicht auszuschließen. Zwar kann in Ausnahmefällen der Verhandlungsverlauf es trotz mangelhaftem oder überhaupt nicht verlesenem Anklagesatz allen Verfahrensbeteiligten gestatten, den Tatvorwurf im erforderlichen Umfang zu erfassen und ihre Prozessführung entsprechend einzurichten, nämlich dann, wenn die Sach- und Rechtslage einfach und überschaubar ist oder wenn die Prozessbeteiligten auf andere Weise über den Gegenstand des Verfahrens unterrichtet worden sind (vgl. BGH NStZ 2000, 214; bei Miebach NStZ 1991, 28; BGHR StPO § 243 Abs. 3 Anklagesatz 2; Gollwitzer aaO § 243 Rdn. 107; Meyer-Goßner aaO § 243 Rdn. 38). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier angesichts des Umfangs des Prozessstoffs (1058 Einzellieferungen, 139 Hauptverhandlungstage) jedoch ersichtlich nicht vor.
4. Zu den übrigen Verfahrensrügen bemerkt der Senat Folgendes: Rechte des Angeklagten können bei rechtsmissbräuchlichem Verhalten eingeschränkt oder sogar ganz verwirkt werden. Für das Beweisantragsrecht gelten insoweit die Grundsätze der Entscheidung BGHSt 38, 111, gegebenenfalls können auch die vom 5. Strafsenat, Beschluss vom 14. Juni 2005 - 5 StR 129/05 (StV 2006, 113 m. Anm. Dahs und m. Anm. Gössel JR 2006, 125) aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten erwogen werden. Das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht des Angeklagten, sich selbst zu verteidigen (Art. 6 Abs. 3 Buchst. c und d EMRK) gebieten es allerdings, permanent zu überprüfen, ob eine Beschränkung der Verteidigungsrechte des Angeklagten weiterhin erforderlich ist. Eine vorweggenommene Einschränkung des letzten Wortes kommt nur unter ganz besonderen Umständen in Betracht, insbesondere wenn feststeht oder sicher zu erwarten ist, dass der Angeklagte das letzte Wort in rechtsmissbräuchlicher Weise ausübt oder ausüben wird.
5. Die Sachrüge zeigt keinen Rechtsfehler auf, insbesondere gehen die Einwendungen des Angeklagten gegen die Anwendung des § 263 StGB ins Leere.
6. Der Senat hat angesichts der Besonderheiten des Verfahrens von § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alternative Gebrauch gemacht und die Sache an ein anderes Landgericht zurückverwiesen.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 437
Externe Fundstellen: NStZ 2006, 649; StV 2006, 457; StV 2007, 171
Bearbeiter: Ulf Buermeyer