HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 441
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 445/05, Urteil v. 26.04.2006, HRRS 2006 Nr. 441
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 18. April 2005 im Schuldspruch dahin geändert, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen sexueller Nötigung in den Fällen II.3 und II.4 der Urteilsgründe und wegen Vergewaltigung im Fall II.5 der Urteilsgründe entfällt.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
3. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in drei Fällen und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Seine auf eine Verfahrensrüge und die Sachrüge gestützte Revision hat nur in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.
1. Die - jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des § 244 Abs. 2 StPO - zulässige Verfahrensrüge, die sich gegen die Ablehnung eines Antrags auf Einholung eines psychologischen Gutachtens über die Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin wendet, ist unbegründet. Dem Landgericht musste sich eine solche Begutachtung der als Zeugin vernommenen, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 20 Jahre alten Nebenklägerin nicht aufdrängen; sie lag nicht einmal nahe.
Die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung ihrer Glaubhaftigkeit ist Aufgabe des Gerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist, und dass sie beteiligten Laienrichtern diese Sachkunde jeweils vermitteln können. Ausnahmen können sich ergeben, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Erinnerungsfähigkeit einer Beweisperson aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen eingeschränkt ist oder dass besondere psychische Dispositionen oder Belastungen - die auch im verfahrensgegenständlichen Geschehen selbst ihre Ursache haben können - die Zuverlässigkeit der Aussage in Frage stellen könnten, und dass für die Feststellung solcher Faktoren und ihrer möglichen Einflüsse auf den Aussageinhalt eine besondere, wissenschaftlich fundierte Sachkunde erforderlich ist, über welche der Tatrichter im konkreten Fall nicht verfügt (vgl. BGH NStZ 2001, 105). Ob ein solcher Fall vorliegt, unterliegt der richterlichen Beurteilung im Rahmen der Aufklärungspflicht. Besonderheiten im genannten Sinn sind nicht schon allein deshalb anzunehmen, weil Gegenstand der Aussage eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist oder weil eine Beweisperson zur Zeit des geschilderten Vorfalls in kindlichem oder jugendlichem Alter war oder dies zum Zeitpunkt ihrer Aussage ist. Die mit Jugendschutzsachen befassten Spruchkörper verfügen regelmäßig über besondere Sachkunde auch zur Beurteilung der Aussagen kindlicher Zeugen (vgl. BGH, Urt. vom 11. August 1998 - 1 StR 338/98, insoweit in NStZ 1999, 297 nicht abgedruckt; BGH, Urt. vom 27. Januar 2005 - 3 StR 431/04, NStZ 2005, 394 m.w.N.).
Vorliegend zeigt die Revision Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall nicht auf; solche sind auch sonst nicht ersichtlich. Soweit die Revision einzelne Unklarheiten oder Widersprüche in der vom Landgericht wiedergegebenen Aussage der Nebenklägerin hervorhebt, gehen die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Beweiswürdigung ersichtlich nicht über das Maß hinaus, welches vom Tatrichter regelmäßig verlangt wird. Auch aus den von der Revision angesprochenen konstellativen Faktoren ergibt sich nicht, warum die Sachkunde der Jugendschutzkammer hier nicht hätte ausreichen sollen. Das Landgericht hat den Antrag daher zu Recht mit dem Hinweis auf die eigene Sachkunde zurückgewiesen.
2. Die Sachrüge ist unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO, soweit sie sich gegen die Verurteilung in den Fällen II.1 und II.2 wendet. Dagegen hat der Schuldspruch in den Fällen II.3 bis II.5 der Urteilsgründe teilweise keinen Bestand.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Angeklagte im Jahr 1995 die Mutter der 1984 geborenen Nebenklägerin kennen und heiratete sie Ende 1995. Die Familie lebte in einem gemieteten Reihenhaus. Der Angeklagte bemühte sich, den drei Kindern seiner Ehefrau ein guter Vater zu sein; das Familienleben war im Wesentlichen harmonisch. Zu Tätlichkeiten des Angeklagten gegen Familienmitglieder kam es nicht.
In den Fällen II.3 und II.4 half im Sommer 1997 die damals 12 Jahre alte Geschädigte dem Angeklagten bei Putzarbeiten, die er im Rahmen einer Nebentätigkeit in den Abendstunden in einer Arztpraxis ausführte. In beiden Fällen waren die Geschädigte und der Angeklagte allein in der Praxis. Im Fall II.3 öffnete der Angeklagte in einem Behandlungszimmer der Praxis seine Hose. Nachdem die Geschädigte sich auf seine Aufforderung gebückt hatte, führte er ihren Kopf an seinen erigierten Penis, um den Oralverkehr durchzuführen. Die Lippen der Geschädigten berührten dabei kurz den Penis des Angeklagten. Sie drehte sich sodann aber weg und erklärte, dass sie dies nicht wolle. Der Angeklagte ließ daraufhin von ihr ab.
Im Fall II.4 forderte der Angeklagte die Geschädigte, mit der er an einem anderen Abend wieder allein in der Arztpraxis war, in einem Behandlungszimmer auf, sich auf eine Liege zu legen. Er öffnete seine Hose sowie die Kleidung der Geschädigten, berührte diese an Brust und Scheide, führte ihre Hand an sein erigiertes Glied und bewegte sie bis zum Samenerguss. Bei dem Vorfall fühlte sich die Geschädigte "hilflos und den Forderungen des Angeklagten ausgeliefert" (UA S. 18).
Im Fall II.5 befanden sich der Angeklagte und die inzwischen 13 Jahre alte Nebenklägerin vor dem 24. Dezember 1997 im Schlafzimmer der Familienwohnung; die Mutter der Geschädigten war nicht zu Hause. Der Angeklagte entkleidete sich selbst und forderte auch die Nebenklägerin auf, sich zu entkleiden. Nachdem sie sich auf seine Aufforderung auf das Bett gekniet hatte, drang er von hinten mit seinem erigierten Penis in ihre Scheide ein. Als die Geschädigte ihm erklärte, dass ihr dies Schmerzen verursache, hörte er auf. Die Nebenklägerin fühlte sich "erneut verletzt, durch die Stellung bei der Tat besonders erniedrigt und dem Angeklagten hilflos ausgeliefert" (UA S. 19).
b) Diese rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen ohne weiteres die Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes gemäß § 176 Abs. 1 (Fälle II.3 und II.4), Abs. 3 Nr. 1 (Fall II.5) StGB i. d. F. vom 10. März 1987. Die vom Landgericht als tateinheitlich erfüllt angesehenen Voraussetzungen der sexuellen Nötigung in den Fällen II.3 und II.4 sowie der Vergewaltigung im Fall II.5 sind dagegen nicht gegeben.
Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte habe in diesen Fällen jeweils die Nötigungsvariante "unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist" (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB), verwirklicht. Hierbei hat es sich ersichtlich an der in der Senatsentscheidung vom 28. Januar 2004 (NStZ 2004, 440) dargelegten Auslegung orientiert, wonach es bei Vorliegen einer objektiv schutzlosen Lage auf die Erkenntnis dieser Lage durch das Tatopfer nicht ankomme. Diese Rechtsprechung, der andere Strafsenate des Bundesgerichtshofs entgegen getreten sind (vgl. BGH NStZ 2005, 267; 2006, 165; BGH StV 2005, 269; 2006, 14) hat der Senat nach Erlass des angefochtenen Urteils aufgegeben (Senatsurt. vom 25. Januar 2006 - 2 StR 345/05, NJW 2006, 1146, zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen; Urt. vom 8. März 2006 - 2 StR 600/05). Danach setzt der objektive Tatbestand der sexuellen Nötigung unter Ausnutzen einer schutzlosen Lage voraus, dass das Tatopfer erkennt, dass es möglichen Gewalteinwirkungen des Täters schutzlos ausgeliefert wäre, und dass es gerade im Hinblick hierauf, also aus Furcht vor gewaltsamen Nötigungshandlungen des Täters, auf einen ihm grundsätzlich möglichen Widerstand verzichtet und sich den Forderungen des Täters fügt. Diese Voraussetzungen muss der Täter seinerseits erkennen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Nicht ausreichend ist, dass die betroffene Person einem sexuellen Ansinnen aus Furcht vor Nachteilen nachkommt, die mit der konkreten Lage der Schutzlosigkeit in keinem Zusammenhang stehen; ebenso nicht sexuelle Handlungen, die nur "gelegentlich" einer objektiv schutzlosen, von der betroffenen Person aber gar nicht als solche erkannten Lage vorgenommen werden.
Vorliegend sind in den genannten Fällen die Voraussetzungen einer Nötigung gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht gegeben. Nach den Urteilsfeststellungen verzichtete die Geschädigte nicht aus Furcht vor möglichen Gewalttätigkeiten des Angeklagten auf Widerstand. Im Gegenteil widersetzte sie sich in den Fällen II.3 und II.5 gerade erfolgreich den weitergehenden Wünschen des Angeklagten, der daraufhin auf deren Durchsetzung verzichtete. Anhaltspunkte dafür, die Geschädigte habe sich jeweils unter dem Eindruck eines allgemein bedrohlichen Verhaltens oder infolge früherer Gewalttätigkeiten des Angeklagten dessen Forderungen gefügt, sind nicht ersichtlich. Vielmehr hat das Landgericht ausdrücklich festgestellt, der Angeklagte habe sich bemüht, ein guter Vater zu sein; er sei, anders als frühere Partner seiner Ehefrau, nie gegen diese oder gegen die Kinder tätlich geworden (UA S. 6, 39). Auch die Nötigungshandlung im Fall II.2 der Urteilsgründe, in dem der Angeklagte die Geschädigte gegen deren Willen an den Armen festhielt und sich auf sie legte, konnte eine solche Befürchtung nicht begründen.
Auch die Geschädigte selbst hat keine von ihr subjektiv empfundene Bedrohung geschildert (UA S. 46, 48). Soweit festgestellt ist, sie habe sich dem Angeklagten "ausgeliefert gefühlt", bezieht sich das nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe ersichtlich auf Gefühle emotionaler kindlicher Abhängigkeit und Ausweglosigkeit. Die Geschädigte befürchtete, auch auf Grund entsprechender Hinweise des Angeklagten, ihre Mutter werde ihr nicht glauben (UA S. 16). Sie hatte Angst vor der möglichen Reaktion ihrer Mutter (UA S. 15), wollte "die Ehe ihrer Mutter nicht zerstören und sie nicht unglücklich machen" (UA S. 14, 16) und "ihr Glück nicht gefährden" (UA S. 39). Damit lag hier eine kriminologisch und psychologisch typische Tatsituation des sexuellen Missbrauchs, nicht aber eine Nötigungshandlung im Sinne von § 177 Abs. 1 StGB vor.
Der Senat kann ausschließen, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitergehende, eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung tragende Feststellungen getroffen werden könnten. Er hat daher den Schuldspruch entsprechend geändert.
3. Die Berichtigung des Schuldspruchs führt nicht zur Aufhebung des Strafausspruchs. Das Landgericht hat im Fall II.3 eine Einzelstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, im Fall II.4 eine Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und im Fall II.5 eine Einzelstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verhängt; dabei hat es jeweils den Strafrahmen des § 177 Abs. 1 bzw. Abs. 2 StGB zu Grunde gelegt. Dieser entfällt infolge der Schuldspruchänderung. Bei der Strafzumessung konnten aber die konkreten Umstände der Tatbegehung auch im Rahmen der Zumessung für die Taten nach § 176 Abs. 1 und 3 aF StGB berücksichtigt werden. Daher hält der Senat die verhängten Strafen, die das Landgericht jeweils im unteren Bereich des Strafrahmens festgesetzt hat, für in jeder Hinsicht angemessen (§ 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO).
4. Der im Ergebnis nur geringfügige Erfolg der Revision rechtfertigt eine Kostenteilung gemäß § 473 Abs. 4 StPO nicht.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 441
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2006, 241
Bearbeiter: Ulf Buermeyer