HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2006
7. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die erste Ausgabe des 7. Jahrgangs der HRRS publiziert erstmals eine übersetzte Entscheidung des EGMR (Lucà v. Italien). Ebenso wird als Entscheidung Nr. 1 des Jahres 2006 die grundlegende und streitige Entscheidung Pupino des EuGH veröffentlicht. Die weiteren Publikationen der Ausgabe entstammen dem Wirtschaftsstrafrecht. Der neue ständige Mitarbeiter der HRRS Prof. Dr. Frank Saliger prüft, inwiefern derzeit eine bedenkliche Untreue-Mode zu beobachten ist. RA Markus Rübenstahl erörtert die für die Bestechungsdelikte bedeutsame Frage, ob Mitglieder kommunaler Parlamente Amtsträger i.S. des StGB sein können.

Diverse BGHSt-Entscheidungen sind seitens des BGH zu vermelden. So setzt der BGH etwa seine Widerspruchslösung fort, und er klärt die Protokollierung bei der Nichtvereidigung nach neuem Recht. Vor allem aber sind richtungsweisende Entscheidungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung in die Ausgabe Januar aufgenommen.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

1. EuGH Rs. C-105/03 - Urteil der Großen Kammer des EuGH vom 16. Juni 2005 (Fall Maria Pupino)

Unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen (gemeinschaftsrechtskonforme bzw. unionsrechtskonforme Auslegung im Strafverfahren im Rahmen der dritten Säule; intergouvernementale Zusammenarbeit; teleologische Auslegung); polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; Stellung des Opfers im Strafverfahren; Schutz gefährdeter Personen (Vernehmung Minderjähriger als Zeugen); Vorabentscheidungsverfahren; Zuständigkeit des EuGH (Ermittlungsrichter als Gericht; Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit); Recht auf ein faires Verfahren (konventionskonforme Auslegung des Unionsrechts bzw. des Gemeinschaftsrechts); redaktioneller Hinweis.

Rahmenbeschluss 2001/220/JI; Art. 34 Abs. 2 EU; Art. 35 EU; Art. 6 EMRK; Art. 8 EMRK; Art. 234 EG

1. Die Artikel 2, 3 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss, Kleinkindern, die - wie im Ausgangsverfahren - nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungen geworden sind, zu erlauben, unter Modalitäten auszusagen, die ihnen einen angemessenen Schutz bieten, z. B. außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung und vor deren Durchführung. (EuGH)

2. Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten. (EuGH)

3. Der Rahmenbeschluss ist somit so auszulegen, dass die Grundrechte beachtet werden; zu nennen ist dabei insbesondere das in Artikel 6 der Konvention verankerte Recht auf ein faires Verfahren in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Das nationale Gericht hat sich zu vergewissern, dass die Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts nicht dazu führt, dass ein Strafverfahren insgesamt gesehen nicht mehr fair im Sinne von Artikel 6 der Konvention nach dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist. (Bearbeiter)

4. Der zwingende Charakter von Rahmenbeschlüssen hat für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge. (Bearbeiter)

5. Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, wird jedoch durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt.  Nach diesen Grundsätzen darf die genannte Verpflichtung insbesondere nicht dazu führen, dass auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieses Beschlusses verstoßen, festgelegt oder verschärft wird. (Bearbeiter)

6. Die bestehende Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Rechtsvorschriften der Union offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Abgesehen von solchen Fällen ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, über die ihm vorgelegten Fragen nach der Auslegung von Rechtsakten im Sinne von Artikel 35 Absatz 1 EU zu entscheiden. (Bearbeiter)


Entscheidung

24. BVerfG 2 BvR 1514/03 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. November 2005 (OLG Karlsruhe)

Rechtsweggarantie (Effektivität der gerichtlichen Kontrolle; fortbestehendes Rechtsschutzinteresse: Menschenwürde, kein Entfallen bei nicht verbesserndem Verlegungsangebot); Rechtsbeschwerde (Strafvollzug; Verwerfung; Zulässigkeit); Haftraumbedingungen (Unterbringung mit einer weiteren Person in einem Haftraum von etwa achteinhalb Quadratmetern; WC-Abtrennung nur durch Schamvorhang).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 5 EMRK; Art. 3 EMRK; Art. 3 EMRK; § 116 StVollzG

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen; er garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Der Bürger hat einen substanziellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 382, 401 f.; 104, 220, 231 ff. - stRspr). Art. 19 Abs. 4 GG gebietet daher den Gerichten, das Verfahrensrecht so anzuwenden, dass den erkennbaren Interessen des rechtsschutzsuchenden Bürgers bestmöglich Rechnung getragen wird.

2. In Verfahren, die die Haftraumunterbringung eines Gefangenen betreffen, entfällt, sofern eine Verletzung der Menschenwürde durch die Art und Weise der Unterbringung in Frage steht, das Rechtsschutzinteresse nicht mit der Beendigung der beanstandeten Unterbringung.

3. Das Rechtsschutzinteresse kann jedenfalls dann nicht mit der Begründung verneint werden, dass der Beschwerdeführer die ihm angebotene Verlegung in einen anderen Haftraum abgelehnt habe, wenn diese Verlegung nicht zu günstigeren Haftbedingungen geführt hätte.


Entscheidung

62. EGMR Nr. 33354/96 - Urteil vom 27. Februar 2001 (Lucà v. Italien)

Recht auf Konfrontation und Befragung von Mitangeklagten als Zeugen im Sinne der EMRK; Recht auf ein faires Verfahren (gesetzlicher Schuldbeweis; Verbot der Verwertung als entscheidendes oder einziges Beweismittel; Selbstbelastungsfreiheit; Gesamtrecht und Gesamtbetrachtung); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 lit. d EMRK; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 240 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 250 StPO; § 251 StPO; § 261 StPO

1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist.

2. Dies gilt auch für Aussagen, die eine Person als Mitangeklagter nach nationalem Recht gemacht hat. Dem Begriff des Zeugen kommt im Konventionssystem eine "autonome" Bedeutung zu. Das Schweigerecht eines Mitangeklagtem kann einem Angeklagten nicht das Recht des Art. 6 III lit. d EMRK entziehen, jeden bedeutenden Zeugenbeweis gegen ihn in einem adversatorischen Verfahren prüfen zu dürfen oder prüfen zu lassen.


Entscheidung

26. BVerfG 2 BvR 792/05 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. November 2005 (OLG Hamm/LG Paderborn)

Recht auf ein faires Verfahren (Bestellung eines Pflichtverteidigers im Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB); Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage (19-jähriger Freiheitsentzug; Sachverständigenprognose; Pseudo-Intellektualisierung; juristische Kenntnisse; keine abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung); Freiheit der Person (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Gutachten; Beauftragung einer nichtärztlichen Psychologin).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 5 EMRK; § 140 StPO; § 463 Abs. 3 StPO; § 454 StPO; § 63 StGB; § 67d Abs. 2 StGB; § 67e StGB

1. Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers (§§ 140 ff. StPO) stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar. Die Verfassung selbst will sicherstellen, dass der Beschuldigte auf den Gang und das Ergebnis des gegen ihn geführten Strafverfahrens Einfluss nehmen kann (vgl. BVerfGE 63, 380, 391; 70, 297, 323).

2. Gleiches gilt für den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Auch hier darf der Untergebrachte nicht nur Objekt des Verfahrens sein. Ihm ist von Verfassungs wegen jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn es nach der konkreten Fallgestaltung, insbesondere bei Besonderheiten und Schwierigkeiten im Diagnose- und Prognosebereich, als evident erscheint, dass er sich angesichts seiner Erkrankung nicht selbst verteidigen kann (vgl. BVerfGE 70, 297, 323).

3. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers gehört dort, wo ihre Voraussetzungen vorliegen, zu den verfahrensrechtlichen Absicherungen des Freiheitsrechts, um die Grenzen der Zumutbarkeit eines Grundrechtseingriffs zu wahren.

4. Die Beauftragung eines nichtärztlichen Psychologen für die Erstattung eines Prognosegutachtens im Vorfeld der gemäß § 67 d Abs. 2 StGB zu treffenden Entscheidung scheidet nicht schon generell von Verfassungs wegen aus. Ob Sachverständige entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts über eine geeignete Ausbildung und hinreichende Erfahrung verfügen, ist eine Frage der Bewertung der Umstände des Einzelfalls. [Anm. d. B.: nicht tragend]


Entscheidung

25. BVerfG 2 BvR 673/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. Dezember 2005 (LG Essen/AG Essen)

Freiheit der Berufsausübung (Schranken; vorläufiges Berufsverbot); Anordnung (Gefahr von berufsbezogenen Taten von erheblichem Gewicht; Erforderlichkeit einer Anordnung vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens; Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter; Begründungserfordernisse); Prognose (Arzt; Steuervergehen; Anstiftung von Patienten zum Diebstahl; einmaliger sexueller Übergriff).

Art. 12 Abs. 1 GG; § 132a StPO; § 70 StGB

1. Das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG schützt neben der freien Wahl des Berufs auch Freiheit der Berufsausübung. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann in dieses Grundrecht der "Berufsfreiheit" nur durch oder auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden (vgl. BVerfGE 7, 377, 400 ff.). § 132 a StPO ist ein solches Gesetz.

2. Allein das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen des § 70 StGB rechtfertigt auf Grund der überragenden Bedeutung des Art. 12 Abs. 1 GG die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots noch nicht. Hinzukommen muss, dass die Anordnung erforderlich ist, um bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abzuwehren, die aus einer Berufsausübung durch den Beschuldigten resultieren können. Nur wenn dies der Fall ist, stellt sich die als Präventivmaßnahme mit Sofortwirkung ausgestaltete Anordnung nach § 132 a StPO als Ausdruck der Schrankenregelung des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 44, 105, 118).

3. Das ein vorläufiges Berufsverbot anordnende Gericht hat die Gefahrenlage und die Notwendigkeit, der Gefährdungssituation durch die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots entgegenzuwirken, in seiner Entscheidung darzulegen und zu erörtern. Dies gilt auch für die gesetzlichen Voraussetzungen des § 132 a StPO und die Angemessenheit der gerichtlichen Maßnahme im konkreten Einzelfall.