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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2006
7. Jahrgang
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1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist.
2. Dies gilt auch für Aussagen, die eine Person als Mitangeklagter nach nationalem Recht gemacht hat. Dem Begriff des Zeugen kommt im Konventionssystem eine "autonome" Bedeutung zu. Das Schweigerecht eines Mitangeklagtem kann einem Angeklagten nicht das Recht des Art. 6 III lit. d EMRK entziehen, jeden bedeutenden Zeugenbeweis gegen ihn in einem adversatorischen Verfahren prüfen zu dürfen oder prüfen zu lassen.
Zum Sachverhalt. Der Beschwerdeführer (Bf.) Lucà wurde von italienischen Gerichten wegen Drogenhandels verurteilt. Seine Verurteilung zu einer Geldstrafe und zu 8 Jahren und 4 Monaten Freiheitsstrafe wurde wesentlich auf die Angaben des zunächst verdächtigen und später ebenfalls angeklagten N. gestützt, der sich nach seinem Aufgreifen durch die Polizei entschlossen hatte, mit den Ermittlungsbehörden zusammen zu arbeiten. N. verweigerte in der Hauptverhandlung die Aussage mit Verweis auf sein Schweigerecht. Die italienischen Gerichte griffen sodann auf die im Ermittlungsverfahren von N. gemachten Angaben zurück. Insbesondere in Rechtsmittelverfahren erhobene Beschwerden auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 d EMRK wiesen sie als unbegründet zurück. - Zum vollständigen Sachverhalt siehe die aufgenommene Originalentscheidung.
AUS DEN GRÜNDEN
I. VERLETZUNG DER ART. 6 I und III lit. d EMRK
37. Da die Erfordernisse des Art. 6 Abs. 3 als besondere Ausprägungen des von Art. 6 Abs. 1 garantierten Rechts auf ein faires Verfahren anzusehen sind, wird der Gerichtshof die unter diesen beiden Vorschriften erhobenen Beschwerden gemeinsam prüfen (vgl. unter vielen anderen Nachweisen (vgl. neben vielen anderen Nachweisen das Urteil Van Mechelen u.a. v. Die Niederlande vom 23. April 1997, Reports 1997-III, S. 711, § 49).
38 . Der Gerichtshof wiederholt, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln in erster Linie eine durch nationales Recht zu regelnde Frage darstellt und dass es im Allgemeinen den nationalen Gerichten obliegt, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht nicht darin, zu entscheiden, ob Zeugenaussagen zutreffend als Beweismittel zugelassen worden sind, sondern darin, sich zu versichern, ob das Verfahren einschließlich der Art und Weise, wie Beweismittel erhoben worden sind, fair gewesen ist (vgl. unter anderem das Urteil Doorson v. Die Niederlande vom 26. März 1996, Reports 1996-II, S. 470, § 67 und das Urteil Van Mechelen u.a. aaO, S. 711, § 50).
39 . Alle Beweismittel müssen grundsätzlich in Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Hauptverhandlung mit der Möglichkeit zur Erörterung durch die Prozesskontrahenten erhoben werden. Es gibt von diesem Prinzip Ausnahmen, doch dürfen diese nicht die Rechte der Verteidigung verletzen. In der Regel erfordern diese Rechte, dass der Angeklagte eine adäquate und geeignete Gelegenheit erhält, einen Belastungszeugen in Frage zu stellen und ihn zu befragen, entweder wenn er seine Aussage macht oder zu einem späteren Zeitpunkt (siehe das Urteil Lüdi v. Schweiz vom 15. Juni 1992, Serie A Nr. 238, § 49 und das Urteil Van Mechelen u.a. aaO, S. 711, § 51).
40 . Wie der Gerichtshof bei einer Reihe von Gelegenheiten festgestellt hat (vgl. neben anderen Nachweisen, das Urteil Isgró v. Italien vom 19. Februar 1991, Serie A Nr. 194-A, § 34, und das Urteil Lüdi v. Schweiz aaO, § 47), kann es sich unter Umständen als erforderlich erweisen, auf Angaben zurückzugreifen, die während der Ermittlungsstadien gemacht worden sind (insbesondere dann, wenn ein Zeuge sich weigert, seine Angaben öffentlich zu wiederholen, weil er um seine Sicherheit fürchtet, eine nicht selten in Verfahren auftretendes Phänomen, die mafiaähnliche Organisationen betreffen). Wenn dem Angeklagten eine adäquate und angemessene Gelegenheit gegeben worden ist, die Angaben auf die Probe zu stellen, entweder wenn die Angaben gemacht worden sind oder zu einem späteren Zeitpunkt, verletzt ihre Zulassung als Beweismittel für sich genommen nicht Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK. Im Gegensatz hierzu sind die Verteidigungsrechte jedoch dann, wenn eine Verurteilung allein oder zu einem entscheidendem Grad auf Aussagen beruht, die von einer Person gemacht worden sind, hinsichtlich derer der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, in einem Ausmaß beschränkt, das mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist (vgl. die Urteile Unterpertinger v. Österreich vom 24. November 1986, Serie A Nr. 110, §§ 31-33; Saïdi v. Frankreich vom 20. September 1993, Serie A Nr. 261-C, §§ 43-44 und Van Mechelen u.a. aaO, S. 712, § 55; vgl. auch Dorigo v. Italien, Beschwerde Nr. 33286/96, Commission Report of 9. September 1998, § 43, unpubliziert, § 43 und, zum gleichen Fall, Committee of Ministers Resolution HR (99) 258 vom 15. April 1999).
41 . Hierbei ist der Umstand, dass die Angaben - wie hier - von einem Mitangeklagten und nicht von einem Zeugen[nach nationalem Recht]gemacht worden sind, bedeutungslos. Diesbezüglich wiederholt der Gerichtshof, dass der Begriff "Zeuge" im Konventionssystem eine "autonome" Bedeutung zukommt (vgl. das Urteil Vidal v. Belgien vom 22. April 1992, Serie A Nr. 235-B, § 33). Folglich stellt eine Aussage dann, wenn sie zu einem erheblichen Grad als Grundlage für eine Verurteilung dienen kann, ein Beweismittel dar, auf das die von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d EMRK eröffneten Garantien Anwendung finden, unbeschadet dessen, ob von einem Zeugen im engeren Sinne oder von einen Mitangeklagten gemacht worden ist (vgl., mutatis mutandis, das Urteil Ferrantelli und Santangelo v. Italien vom 7. August 1996, Reports 1996-III, §§ 51 und 52).
42 . Im Licht des Vorhergehenden erscheinen die vom Kassationshof in seiner Entscheidung vom 19. Oktober 1995 gegebenen Gründe für die Zurückweisung des gemäß Art. 6 III lit. d EMRK erhobenen Rechtsmittels - und auf die sich auch die betroffene Regierung teilweise gestützt hat, - nicht einschlägig. Besonders der Umstand, dass das Gericht nach dem damals in Kraft befindlichen nationalen Recht (vgl. § 26 oben) vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens gemachte Aussagen für zulässig erklären konnte, wenn ein Mitangeklagter Aussagen verweigert hat, kann einem Angeklagten nicht das Recht des Art. 6 III lit. d EMRK entziehen, welches ihm zugesteht, in einem adversatorischen Verfahren jeden bedeutenden Zeugenbeweis gegen ihn zu prüfen oder prüfen zu lassen.
43 . Im vorliegenden Fall bemerkt der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Gerichte den Bf. allein auf der Basis von Aussagen verurteilt haben, die von N. vor Beginn des gerichtlichen Verfahrens gemacht worden sind und dass weder dem Bf. noch seinem Verteidiger zu irgendeinem Zeitpunkt des Verfahrens Gelegenheit gegeben wurde, ihn zu befragen.
44 . Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht zufrieden gestellt, dass dem Bf eine adäquate und angemessene Gelegenheit gegeben wurde, die Aussagen zu bestreiten, auf denen seine Verurteilung beruhte.
45 . Dem Bf wurde deshalb ein faires Verfahren versagt. Folglich ist eine Verletzung der Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK aufgetreten.
AUS DIESEN GRÜNDEN
1. hält der Gerichtshof einstimmig eine Verletzung des Art. 6 §§ 1 und 3(d) EMRK für gegeben"
[Redaktioneller Hinweis: Übersetzung des Bearbeiters Karsten Gaede. Hinsichtlich der mit sechs zu eins Stimmen gefassten Entscheidung gemäß Art. 41 EMRK
ist der Entscheidung ein Sondervotum von Zupančič beigefügt. Zum Konfrontationsrecht gerade auch bei Mitangeklagten vgl. Demko ZStR 122 (2004), 416 ff.; Sommer NJW 2005, 1240 ff.; BGH JR 2005, 247, 248 m. Anm. Esser; im Kontext der Haas-Entscheidung zur EGMR-Rechtsprechung demnächst auch Gaede JR 2006, Heft 2 oder 3.]