HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 1
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: EuGH, C-105/03, Beschluss v. 16.06.2005, HRRS 2006 Nr. 1
Die Artikel 2, 3 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss, Kleinkindern, die - wie im Ausgangsverfahren - nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungen geworden sind, zu erlauben, unter Modalitäten auszusagen, die ihnen einen angemessenen Schutz bieten, z. B. außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung und vor deren Durchführung.
Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten.
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Kindergärtnerin Maria Pupino, die beschuldigt wird, Kindern, die zur Tatzeit unter fünf Jahre alt waren, Verletzungen zugefügt zu haben.
Rechtlicher Rahmen Recht der Europäischen Union Der Vertrag über die Europäische Union
3 In Artikel 34 Absatz 2 EU in der Fassung des Vertrages von Amsterdam, der zu dem mit "Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" überschriebenen Titel VI des Vertrages über die Europäische Union gehört, heißt es: "Der Rat ergreift Maßnahmen und fördert in der geeigneten Form und nach den geeigneten Verfahren, die in diesem Titel festgelegt sind, eine Zusammenarbeit, die den Zielen der Union dient. Hierzu kann er auf Initiative eines Mitgliedstaats oder der Kommission einstimmig ... b) Rahmenbeschlüsse zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten annehmen. Rahmenbeschlüsse sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Sie sind nicht unmittelbar wirksam; ..."
4 Artikel 35 EU bestimmt:
"(1) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften entscheidet unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Rahmenbeschlüsse und Beschlüsse, über die Auslegung der Übereinkommen nach diesem Titel und über die Gültigkeit und die Auslegung der dazugehörigen Durchführungsmaßnahmen.
(2) Jeder Mitgliedstaat kann durch eine bei der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam oder zu jedem späteren Zeitpunkt abgegebene Erklärung die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Vorabentscheidungen nach Absatz 1 anerkennen.
(3) Ein Mitgliedstaat, der eine Erklärung nach Absatz 2 abgibt, bestimmt, dass
a) entweder jedes seiner Gerichte, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, eine Frage, die sich in einem schwebenden Verfahren stellt und die sich auf die Gültigkeit oder die Auslegung eines Rechtsakts nach Absatz 1 bezieht, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen kann, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält,
b) oder jedes seiner Gerichte eine Frage, die sich in einem schwebenden Verfahren stellt und die sich auf die Gültigkeit oder die Auslegung eines Rechtsakts nach Absatz 1 bezieht, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen kann, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. ..."
5 Nach der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam (ABl. L 114, S. 56) hat die Italienische Republik eine Erklärung nach Artikel 35 Absatz 2 EU abgegeben, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Entscheidungen gemäß Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe b EU anerkannt hat.
Der Rahmenbeschluss
6 Der mit "Achtung und Anerkennung" überschriebene Artikel 2 des Rahmenbeschlusses lautet:
"(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren."
7 Der mit "Vernehmung und Beweiserbringung" überschriebene Artikel 3 des Rahmenbeschlusses sieht vor: "Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann. Die Mitgliedstaaten ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen."
8 Der mit "Recht auf Schutz" überschriebene Artikel 8 des Rahmenbeschlusses bestimmt in Absatz 4: "Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Opfern, insbesondere den am meisten gefährdeten, die vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt werden müssen, im Wege gerichtlicher Entscheidungen gestattet werden kann, unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann."
9 Nach Artikel 17 des Rahmenbeschlusses hatten die Mitgliedstaaten die Rechtsund Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um den oben genannten Artikeln des Beschlusses nachzukommen, "bis zum 22. März 2002" in Kraft zu setzen.
Nationale Regelung
10 Artikel 392 des italienischen Codice di procedure penale (Strafprozessordnung, im Folgenden: CPP), der zu dem mit "Ermittlungen und vorbereitende Anhörung" überschriebenen Fünften Buch des CPP gehört, bestimmt:
"(1) Während der Ermittlungen können die Staatsanwaltschaft und die Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, beantragen, dass der Richter im Beweissicherungsverfahren
a) eine Person als Zeuge vernehmen kann, wenn ein stichhaltiger Grund für die Annahme vorliegt, dass sie wegen Krankheit oder eines anderen schwerwiegenden Hindernisses in der Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann;
b) eine Person als Zeuge vernehmen kann, wenn aufgrund konkreter und spezifischer Anhaltspunkte ein stichhaltiger Grund für die Annahme vorliegt, dass sie Gewalt oder Drohungen ausgesetzt ist oder dass ihr Geld oder andere Vorteile angeboten oder versprochen werden, damit sie nicht oder falsch aussagt. ... (1bis) In Verfahren wegen Delikten im Sinne der Artikel 600bis, 600ter, 600quinquies, 609bis, 609ter, 609quater, 609quinquies und 609octies des Codice penale [Sexualdelikte und Delikte mit sexuellem Bezug] kann die Staatsanwaltschaft oder die Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, beantragen, dass Personen im Alter von unter sechzehn Jahren auch in anderen als den in Absatz 1 genannten Fällen im Beweissicherungsverfahren vernommen werden. ..."
11 Artikel 398 Absatz 5bis CPP lautet:
"Im Fall von Beweiserhebungen in Bezug auf Straftaten im Sinne der Artikel 600bis, 600ter, 600quinquies, 609bis, 609ter, 609quater, 609quinquies und 609octies des Codice penale legt der Richter, wenn auch Personen im Alter von unter sechzehn Jahren vernommen werden sollen, durch Beschluss ... Ort, Zeit und besondere Modalitäten der Beweiserhebung fest, sofern die Bedürfnisse des Minderjährigen dies erforderlich oder angezeigt erscheinen lassen. Zu diesem Zweck kann die Verhandlung an einem anderen Ort als dem Gericht stattfinden, wobei der Richter, soweit vorhanden, spezielle Hilfseinrichtungen nutzen oder, wenn dies nicht der Fall ist, den Minderjährigen in dessen Wohnung aufsuchen kann. Die Zeugenaussagen müssen in vollem Umfang mit Mitteln der akustischen oder audiovisuellen Wiedergabe dokumentiert werden. Sind Aufnahmegeräte oder technisches Personal nicht verfügbar, so ist auf Sachverständige oder Gutachter zurückzugreifen. Über die Befragung wird ein zusammenfassendes Protokoll erstellt. Eine Niederschrift der Aufnahme erfolgt nur auf Antrag der Parteien."
Sachverhalt und Vorlagefrage
12 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung wird Frau Pupino im Rahmen des gegen sie eingeleiteten Strafverfahrens zum einen vorgeworfen, im Januar und Februar 2001 zahlreiche Delikte des "Missbrauchs disziplinarischer Mittel" im Sinne von Artikel 571 des italienischen Codice penale (Strafgesetzbuch, im Folgenden: CP) an einigen der ihr anvertrauten Kinder begangen zu haben, die zur Tatzeit unter fünf Jahre alt waren; u. a. soll sie diese Kinder regelmäßig geschlagen, ihnen mit der Verabreichung von Beruhigungsmitteln und dem Zukleben ihres Mundes mit Pflastern gedroht und sie am Toilettenbesuch gehindert haben. Zum anderen wird ihr zur Last gelegt, im Februar 2001 eine "erschwerte Körperverletzung" im Sinne der Artikel 582, 585 und 576 CP in Verbindung mit Artikel 61 Nummern 2 und 11 CP begangen zu haben, indem sie einem Kind einen Schlag versetzt habe, der bei diesem eine leichte Schwellung im Stirnbereich hervorgerufen habe. Das vor dem Tribunale Florenz eingeleitete Verfahren befindet sich im Stadium der Ermittlungen.
13 Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, nach italienischem Recht bestehe das Strafverfahren aus zwei gesonderten Abschnitten. Im ersten Abschnitt, den Ermittlungen, nehme die Staatsanwaltschaft Untersuchungen vor und sammle unter Aufsicht des Ermittlungsrichters die Beweismittel, anhand deren sie prüfe, ob das Verfahren einzustellen oder das Hauptverfahren gegen den Betroffenen vor dem Strafgericht zu eröffnen sei. Im letztgenannten Fall werde die endgültige Entscheidung darüber, ob dem Eröffnungsantrag stattgegeben oder das Verfahren eingestellt werde, vom Ermittlungsrichter am Ende einer eigens anberaumten Sitzung getroffen.
14 Die Entscheidung, das Hauptverfahren gegen den Betroffenen zu eröffnen, leite den zweiten Verfahrensabschnitt, die so genannte Verhandlungsphase, ein, an der der Ermittlungsrichter nicht teilnehme. Mit diesem Abschnitt beginne der eigentliche Prozess. Erst dann müsse im Allgemeinen auf Initiative der Beteiligten und unter Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens Beweis erhoben werden. Während der Erörterungen im Rahmen des Verfahrens könnten die von den Beteiligten vorgetragenen Gesichtspunkte als Beweise im technischen Sinne zugelassen werden. Unter diesen Umständen müssten die Beweismittel, die die Staatsanwaltschaft während der Ermittlungen gesammelt habe, um ihr die Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob Anklage erhoben oder die Einstellung des Verfahrens beantragt werden solle, in die kontradiktorischen Erörterungen während des eigentlichen Prozesses eingeführt werden, um zum vollwertigen "Beweis" zu werden.
15 Es gebe jedoch Ausnahmen von dieser Regel, die in Artikel 392 CPP vorgesehen seien und es ermöglichten, auf Beschluss des Ermittlungsrichters die Beweiserhebung unter Beachtung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens schon während der Ermittlungen im Beweissicherungsverfahren vorzunehmen. Die dabei gesammelten Beweise hätten den gleichen Beweiswert wie diejenigen, die im zweiten Verfahrensabschnitt gesammelt würden. Durch Artikel 392 Absatz 1bis CCP sei die Möglichkeit geschaffen worden, auf dieses Verfahren bei der Vernehmung von Personen im Alter von unter sechzehn Jahren, die Opfer bestimmter abschließend aufgezählter Delikte (Sexualdelikte und Delikte mit sexuellem Bezug) seien, auch in anderen als den in Absatz 1 dieses Artikels genannten Fällen zurückzugreifen. Artikel 398 Absatz 5bis CCP erlaube es dem Ermittlungsrichter überdies, für die Beweiserhebung im Fall von Ermittlungen in Bezug auf die in Artikel 392 Absatz 1bis CPP genannten Delikte besondere Modalitäten zum Schutz der betreffenden Minderjährigen anzuordnen. Diese zusätzlichen Ausnahmen dienten dem Schutz der Würde, des Schamgefühls und der Persönlichkeit des Zeugen, wenn es sich um ein minderjähriges Opfer handele, sowie der Unverfälschtheit des Beweises.
16 Im Ausgangsverfahren habe die Staatsanwaltschaft im August 2001 beim Ermittlungsrichter beantragt, acht Kinder, die Opfer und Zeugen der Frau Pupino zur Last gelegten Delikte gewesen seien, im Beweissicherungsverfahren gemäß Artikel 392 Absatz 1bis CPP zu vernehmen, weil die Beweiserhebung wegen des geringen Alters der Zeugen und unvermeidlicher Veränderungen ihres psychischen Zustands sowie eines möglichen psychologischen Verdrängungsprozesses nicht bis zur streitigen Verhandlung aufgeschoben werden könne. Ferner habe die Staatsanwaltschaft beantragt, aufgrund des heiklen Charakters und der Schwere der Vorwürfe sowie der mit dem geringen Alter der Opfer verbundenen Schwierigkeiten die Beweiserhebung im Rahmen der besonderen Modalitäten im Sinne von Artikel 398 Absatz 5bis CPP vorzunehmen, d. h., die Vernehmung in einem speziellen Rahmen und in einer Form durchzuführen, bei der die Würde, das Privatleben und das seelische Gleichgewicht der betreffenden Minderjährigen geschützt würden, wobei gegebenenfalls ein psychologischer Sachverständiger heranzuziehen sei. Frau Pupino habe diesem Antrag widersprochen und geltend gemacht, dass keiner der in Artikel 392 Absätze 1 und 1bis CPP vorgesehenen Fälle vorliege.
17 Nach den einschlägigen nationalen Bestimmungen müsse der Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt werden, da diese Bestimmungen für den Frau Pupino zur Last gelegten Sachverhalt weder den Rückgriff auf das Beweissicherungsverfahren noch besondere Modalitäten der Beweiserhebung vorsähen, obwohl nichts dagegen spreche, die fraglichen Bestimmungen auch auf andere als die in Artikel 392 Absatz 1 CPP genannten Fälle zu erstrecken, in denen das Opfer minderjährig sei. Zahlreiche vom Anwendungsbereich des Artikels 392 Absatz 1 CPP ausgeschlossene Delikte könnten sich ohne weiteres als schwerwiegender für das Opfer erweisen als die dort genannten Delikte. Dies treffe auf das Ausgangsverfahren zu, da Frau Pupino nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mehrere Kinder im Alter von unter fünf Jahren misshandelt und bei ihnen psychologische Traumata hervorgerufen habe.
18 Der Ermittlungsrichter am Tribunale Florenz vertritt die Ansicht, dass ein nationales Gericht "ungeachtet einer unmittelbaren Wirkung der Gemeinschaftsvorschriften ... sein nationales Recht im Licht des Wortlauts und des Zieles der Gemeinschaftsvorschriften auszulegen" habe, und hat Zweifel an der Vereinbarkeit der Artikel 392 Absatz 1bis und 398 Absatz 5bis CPP mit den Artikeln 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses, soweit diese Bestimmungen des CPP die Befugnis des Ermittlungsrichters, ein Beweissicherungsverfahren durchzuführen und besondere Modalitäten der Beweissammlung und -erhebung anzuwenden, auf Sexualdelikte und Delikte mit sexuellem Hintergrund beschränken; er hat daher das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, sich zur Tragweite der Artikel 2, 3 und 8 des Rahmenbeschlusses zu äußern.
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
19 Nach Artikel 46 Buchstabe b EU gelten die Bestimmungen des EG-Vertrags, des EGKS-Vertrags und des EAG-Vertrags betreffend die Zuständigkeit des Gerichtshofes und die Ausübung dieser Zuständigkeit, zu denen Artikel 234 EG gehört, nach Maßgabe des Artikels 35 EU für die Bestimmungen des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union. Folglich findet die Regelung des Artikels 234 EG auf die Zuständigkeit des Gerichtshofes zur Vorabentscheidung nach Artikel 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung.
20 Wie in Randnummer 5 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat die Italienische Republik mit Wirkung vom 1. Mai 1999, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrages von Amsterdam, eine Erklärung abgegeben, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Entscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung der in Artikel 35 EU genannten Rechtsakte gemäß Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe b EU anerkannt hat.
21 In Bezug auf die in Artikel 35 Absatz 1 EU genannten Rechtsakte sieht Absatz 3 Buchstabe b dieses Artikels mit den gleichen Worten wie Artikel 234 Absätze 1 und 2 EG vor, dass jedes Gericht eines Mitgliedstaats eine Frage, die sich in einem schwebenden Verfahren stellt und die sich auf "die Gültigkeit oder die Auslegung" solcher Rechtsakte bezieht, "dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen kann, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält".
22 Es steht fest, dass der im Rahmen eines Strafverfahrens wie des Ausgangsverfahrens tätige Ermittlungsrichter eine gerichtliche Funktion ausübt, so dass er als "Gericht eines Mitgliedstaats" im Sinne von Artikel 35 EU anzusehen ist (in diesem Sinne - zu Artikel 234 EG - auch Urteile vom 23. Februar 1995 in den Rechtssachen C-54/94 und C-74/94, Cacchiarelli und Stanghellini, Slg. 1995, I-391, und vom 12. Dezember 1996 in den Rechtssachen C-74/95 und C-129/95, X, Slg. 1996, I-6609), und dass der auf den Artikeln 31 EU und 34 EU beruhende Rahmenbeschluss zu den in Artikel 35 Absatz 1 EU genannten Rechtsakten gehört, über die der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung entscheiden kann.
23 Der Gerichtshof ist somit grundsätzlich für die Beantwortung der Vorlagefrage zuständig; die französische und die italienische Regierung haben jedoch gegen das Vorabentscheidungsersuchen eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, die sie darauf stützen, dass die Antwort des Gerichtshofes für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht von Nutzen wäre.
24 Die französische Regierung trägt vor, das vorlegende Gericht wolle bestimmte Vorschriften des Rahmenbeschlusses anstelle der nationalen Rechtsvorschriften anwenden, obwohl Rahmenbeschlüsse schon nach dem Wortlaut von Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU nicht unmittelbar wirksam seien. Zudem sei nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine mit dem Rahmenbeschluss in Einklang stehende Auslegung des nationalen Rechts unmöglich. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes dürfe der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung aber nicht zu einer Auslegung contra legem oder allein aufgrund des Rahmenbeschlusses zu einer Verschlechterung der Situation eines Einzelnen im Rahmen eines Strafverfahrens führen, was im Ausgangsverfahren jedoch der Fall wäre.
25 Die italienische Regierung macht hauptsächlich geltend, ein Rahmenbeschluss und eine Richtlinie der Gemeinschaft stellten Rechtsquellen dar, die sich grundlegend voneinander unterschieden, so dass der Rahmenbeschluss keine Verpflichtung des nationalen Gerichts zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung schaffen könne, wie sie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Richtlinien der Gemeinschaft herausgearbeitet habe.
26 Die schwedische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs stellen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens nicht ausdrücklich in Frage, äußern sich aber im gleichen Sinne wie die italienische Regierung, wobei sie insbesondere den zwischenstaatlichen Charakter der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Rahmen von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union hervorheben.
27 Schließlich weist die niederländische Regierung auf die Grenzen der Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung hin und wirft die Frage auf, ob diese Verpflichtung, sofern sie für Rahmenbeschlüsse gelte, gerade wegen dieser Grenzen im Ausgangsverfahren Anwendung finden könne.
28 Insoweit ist festzustellen, dass die in Artikel 234 EG vorgesehene Regelung, wie in Randnummer 19 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auf Artikel 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung findet.
29 Ebenso wie Artikel 234 EG macht Artikel 35 EU die Befassung des Gerichtshofes mit einem Vorabentscheidungsersuchen von der Voraussetzung abhängig, dass das nationale Gericht "eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält", so dass die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Zulässigkeit der nach Artikel 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen grundsätzlich auf Ersuchen um Vorabentscheidung des Gerichtshofes nach Artikel 35 EU übertragbar ist.
30 Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Rechtsvorschriften der Union offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. Abgesehen von solchen Fällen ist der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet, über die ihm vorgelegten Fragen nach der Auslegung von Rechtsakten im Sinne von Artikel 35 Absatz 1 EU zu entscheiden (vgl. in Bezug auf Artikel 234 EG u. a. Urteile vom 7. September 1999 in der Rechtssache C-355/97, Beck und Bergedorf, Slg. 1999, I-4977, Randnr. 22, und vom 7. Juni 2005 in der Rechtssache C-17/03, VEMW u. a., Slg. 2005, I-0000, Randnr. 34).
31 Im Hinblick auf das Vorbringen der italienischen, der französischen, der niederländischen und der schwedischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs ist zu prüfen, ob - wie das vorlegende Gericht annimmt und die griechische, die französische und die portugiesische Regierung sowie die Kommission geltend machen - die Verpflichtung der nationalen Behörden, ihr innerstaatliches Recht so weit wie möglich im Licht von Wortlaut und Zweck der Richtlinien der Gemeinschaft auszulegen, mit den gleichen Wirkungen und Grenzen gilt, wenn es sich bei dem betreffenden Rechtsakt um einen aufgrund von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union ergangenen Rahmenbeschluss handelt.
32 Bejahendenfalls ist zu prüfen, ob - wie die italienische, die französische und die schwedische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs vorgetragen haben - eine Beantwortung der Vorlagefrage angesichts der Grenzen der Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung offensichtlich keine konkrete Auswirkung auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits haben kann.
33 Zunächst ist festzustellen, dass sich der Wortlaut des Artikels 34 Absatz 2 Buchstabe b EU sehr eng an den Wortlaut des Artikels 249 Absatz 3 EG anlehnt. Nach Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU haben Rahmenbeschlüsse insofern zwingenden Charakter, als sie für die Mitgliedstaaten "hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich [sind], ... jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel [überlassen]".
34 Der zwingende Charakter von Rahmenbeschlüssen, der mit den gleichen Worten wie in Artikel 249 Absatz 3 EG zum Ausdruck gebracht wird, hat für die nationalen Behörden und insbesondere auch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts zur Folge.
35 Der Umstand, dass die Zuständigkeiten des Gerichtshofes nach Artikel 35 EU im Rahmen von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union weniger weit reichen als im Rahmen des EG-Vertrags, und die Tatsache, dass es kein vollständiges Rechtsschutzsystem gibt, das die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe im Rahmen von Titel VI gewährleisten soll, stehen dieser Schlussfolgerung nicht entgegen.
36 Unabhängig von dem durch den Vertrag von Amsterdam angestrebten Integrationsgrad bei der Verwirklichung einer immer engeren Union zwischen den Völkern Europas im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 EU ist es nämlich völlig verständlich, dass die Verfasser des Vertrages über die Europäische Union es für angebracht hielten, im Rahmen von Titel VI dieses Vertrages den Rückgriff auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag vorzusehen, um einen wirksamen Beitrag zur Verfolgung der Ziele der Union zu leisten.
37 Die Bedeutung der Zuständigkeit des Gerichtshofes für Vorabentscheidungen nach Artikel 35 EU wird dadurch bestätigt, dass nach Absatz 4 dieses Artikels jeder Mitgliedstaat unabhängig davon, ob er eine Erklärung nach Absatz 2 abgegeben hat oder nicht, beim Gerichtshof in Verfahren nach Absatz 1 Schriftsätze einreichen oder schriftliche Erklärungen abgeben kann.
38 Diese Zuständigkeit würde ihrer praktischen Wirksamkeit im Wesentlichen beraubt, wenn die Einzelnen nicht berechtigt wären, sich auf Rahmenbeschlüsse zu berufen, um vor den Gerichten der Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu erreichen.
39 Zur Untermauerung ihrer These machen die italienische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, der Vertrag über die Europäische Union enthalte im Gegensatz zum EG-Vertrag keine Verpflichtung wie die des Artikels 10 EG, auf die sich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung teilweise gestützt habe, um die Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts zu rechtfertigen.
40 Dieses Argument ist zurückzuweisen.
41 Nach Artikel 1 Absätze 2 und 3 des Vertrages über die Europäische Union stellt dieser Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, wobei die Aufgabe der Union - deren Grundlage die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit diesem Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, sind - darin besteht, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten.
42 Die Union könnte ihre Aufgabe kaum erfüllen, wenn der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der insbesondere bedeutet, dass die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Recht der Europäischen Union treffen, nicht auch im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gelten würde, die im Übrigen vollständig auf der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen beruht, wie die Generalanwältin in Nummer 26 ihrer Schlussanträge zutreffend ausgeführt hat.
43 Aus den vorstehenden Erwägungen ist zu schließen, dass der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung in Bezug auf Rahmenbeschlüsse, die im Rahmen von Titel VI des Vertrages über die Europäische Union ergangen sind, anzuwenden ist. Soweit das vorlegende Gericht das nationale Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, muss es seine Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses ausrichten, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 34 Absatz 2 Buchstabe b EU nachzukommen.
44 Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, wird jedoch durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt.
45 Nach diesen Grundsätzen darf die genannte Verpflichtung insbesondere nicht dazu führen, dass auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses unabhängig von einem zu seiner Durchführung erlassenen Gesetz die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen, die gegen die Vorschriften dieses Beschlusses verstoßen, festgelegt oder verschärft wird (vgl. zu Richtlinien der Gemeinschaft u. a. Urteil X, Randnr. 24, und Urteil vom 3. Mai 2005 in den Rechtssachen C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Berlusconi u. a., Slg. 2005, I-0000, Randnr. 74).
46 Die Bestimmungen, die Gegenstand des vorliegenden Ersuchens um Vorabentscheidung sind, betreffen jedoch nicht den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Betroffenen, sondern den Verfahrensablauf und die Modalitäten der Beweiserhebung.
47 Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, den Inhalt eines Rahmenbeschlusses bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts heranzuziehen, endet, wenn dieses nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluss angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen. Er verlangt jedoch, dass das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass kein dem Rahmenbeschluss widersprechendes Ergebnis erzielt wird.
48 Wie die Generalanwältin in Nummer 40 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist es aber nicht offensichtlich, dass im Ausgangsverfahren eine mit dem Rahmenbeschluss konforme Auslegung des nationalen Rechts unmöglich ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sein nationales Recht in diesem Verfahren in einer mit dem Rahmenbeschluss konformen Weise ausgelegt werden kann.
49 Unter diesem Vorbehalt ist die Vorlagefrage zu beantworten.
Zur Vorlagefrage
50 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Artikel 2, 3 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht die Möglichkeit haben muss, Kleinkindern, die - wie im Ausgangsverfahren - nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungen geworden sind, zu erlauben, außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung und vor deren Durchführung unter Modalitäten auszusagen, die ihnen einen angemessenen Schutz bieten.
51 Nach Artikel 3 des Rahmenbeschlusses gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann, und ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen.
52 Die Artikel 2 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses verpflichten die Mitgliedstaaten, sich nach Kräften zu bemühen, um u. a. zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, sicherzustellen, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren, und dafür zu sorgen, dass Opfern, insbesondere den am meisten gefährdeten, die vor den Folgen ihrer Zeugenaussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung geschützt werden müssen, im Wege gerichtlicher Entscheidungen gestattet werden kann, unter Einsatz geeigneter Mittel, die mit den Grundprinzipien ihrer jeweiligen Rechtsordnung vereinbar sind, unter Bedingungen auszusagen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann.
53 Im Rahmenbeschluss wird der Begriff der Gefährdung des Opfers im Sinne der Artikel 2 Absatz 2 und 8 Absatz 4 nicht definiert. Unabhängig von der Frage, ob der Umstand, dass das Opfer einer Straftat minderjährig ist, im Allgemeinen ausreicht, um ein solches Opfer als besonders gefährdet im Sinne des Rahmenbeschlusses einzustufen, kann nicht bestritten werden, dass Kleinkinder, die wie im Ausgangsverfahren behaupten, dass sie - zumal von einer Kindergärtnerin - misshandelt worden seien, insbesondere im Hinblick auf ihr Alter sowie auf das Wesen und die Folgen der Straftaten, deren Opfer sie geworden zu sein glauben, in dieser Weise einzustufen sind, damit sie den durch die genannten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses geforderten speziellen Schutz genießen.
54 Keine der drei vom vorlegenden Gericht erwähnten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses sieht konkrete Modalitäten zur Umsetzung der in ihnen gesetzten Ziele vor, die insbesondere darin bestehen, besonders gefährdeten Opfern eine "ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung" zukommen zu lassen und ihnen die Möglichkeit zu geben, unter besonderen Bedingungen auszusagen, damit alle Opfer mit der "gebührenden Achtung [ihrer] persönlichen Würde" behandelt werden, gehört werden und "Beweismaterial liefern" können, sowie dafür zu sorgen, dass sie "nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang" befragt werden.
55 Nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung muss die während der Ermittlungen gemachte Aussage im Allgemeinen in der öffentlichen Gerichtsverhandlung wiederholt werden, um vollen Beweiswert zu erlangen. In bestimmten Fällen ist es jedoch zulässig, dass mit gleichem Beweiswert nur einmal während der Ermittlungen, aber unter anderen Modalitäten als in der öffentlichen Gerichtsverhandlung ausgesagt wird.
56 Unter diesen Umständen verlangt die Verwirklichung der mit den genannten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziele, dass ein nationales Gericht die Möglichkeit hat, bei besonders gefährdeten Opfern ein spezielles Verfahren wie das in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats vorgesehene Beweissicherungsverfahren sowie die ebenfalls vorgesehenen besonderen Aussagemodalitäten anzuwenden, wenn dieses Verfahren der Situation dieser Opfer am besten entspricht und geboten ist, um den Verlust von Beweismitteln zu verhindern, wiederholte Befragungen auf ein Minimum zu reduzieren und nachteilige Folgen der Aussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung für diese Opfer zu verhindern.
57 Hierzu ist zu betonen, dass nach Artikel 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses die gewählten Aussagebedingungen jedenfalls mit den Grundprinzipien der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats vereinbar sein müssen.
58 Nach Artikel 6 Absatz 2 EU achtet die Union im Übrigen die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention) gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben.
59 Der Rahmenbeschluss ist somit so auszulegen, dass die Grundrechte beachtet werden; zu nennen ist dabei insbesondere das in Artikel 6 der Konvention verankerte Recht auf ein faires Verfahren in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
60 Das vorlegende Gericht hat sich zu vergewissern, dass - sofern das Beweissicherungsverfahren und die Anhörung unter den im italienischen Recht vorgesehenen besonderen Modalitäten im vorliegenden Fall möglich sind - die Anwendung dieser Maßnahmen unter Berücksichtigung der Verpflichtung zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalen Rechts nicht dazu führt, dass das Strafverfahren gegen Frau Pupino insgesamt gesehen nicht mehr fair im Sinne von Artikel 6 der Konvention nach dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist (vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 20. Dezember 2001, P. S./Deutschland, vom 2. Juli 2002, S. N./Schweden, Receuil des arrêts et décisions 2002-V, und vom 13. Februar 2004, Rachdad/Frankreich, sowie Entscheidung vom 20. Januar 2005, Accardi u. a./Italien, Req. 30598/02).
61 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Artikel 2, 3 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss, Kleinkindern, die - wie im Ausgangsverfahren - nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungen geworden sind, zu erlauben, unter Modalitäten auszusagen, die ihnen einen angemessenen Schutz bieten, z. B. außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung und vor deren Durchführung. Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten.
Kosten
62 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Die Artikel 2, 3 und 8 Absatz 4 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss, Kleinkindern, die - wie im Ausgangsverfahren - nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungen geworden sind, zu erlauben, unter Modalitäten auszusagen, die ihnen einen angemessenen Schutz bieten, z. B. außerhalb der öffentlichen Gerichtsverhandlung und vor deren Durchführung.
Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten.
[Redaktioneller Hinweis: Vgl. aus der Besprechungsliteratur Hillgruber JZ 2005, 841 ff. und die Anmerkung von Gaede in HRRS Heft 2/2006.]
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 1
Externe Fundstellen: NJW 2005, 2839; StV 2006, 1; StV 2007, 1
Bearbeiter: Karsten Gaede