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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2006
7. Jahrgang
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1. Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht "neu" im Sinne des § 66 b StGB. (BGHSt)
2. Die Frage der Erheblichkeit der "neuen Tatsache" für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die Auffassung der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. (BGHSt)
3. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gehörende Maßnahme folgt, dass sich die Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen "neuen Tatsache" vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt. Sie setzt daher voraus, dass die "nova" in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der Anlassverurteilung stehen. (BGHSt)
4. Bei der Anordnung der zeitlich nicht befristeten Maßregel der nachträglichen Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine den Verurteilten außerordentlich beschwerende Maßnahme. Sie soll nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle beschränkt sein. Dem Erfordernis der "neuen Tatsache" kommt dabei eine maßgebliche Filterfunktion zu, so dass an sein Vorliegen strenge Anforderungen zu stellen sind. (Bearbeiter)
5. Die bloße neue (abweichende) Bewertung bereits bei der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt keine "neue" Tatsache dar. (Bearbeiter)
6. Die Therapieunwilligkeit des Verurteilten kann eine "neue Tatsache" im Sinne des § 66 b StGB darstellen (vgl. BGH NStZ 2005, 561, 563). (Bearbeiter)
1. Ein zulässiger Antrag der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung setzt dessen Begründung voraus; diese muss insbesondere mitteilen, auf welche Variante des § 66 b StGB sich der Antrag stützt und welche neuen Tatsachen während der Strafvollstreckung erkennbar geworden sind, die Anlass zur Antragstellung geben. (BGHSt)
2. "Neue Tatsachen" im Sinne des § 66 b Abs. 1 und 2 StGB müssen schon für sich Gewicht haben und ungeachtet der notwendigen Gesamtwürdigung aller Umstände auf eine erhebliche Gefahr der Beeinträchtigung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer durch den Verurteilten hindeuten. (BGHSt)
3. Für eine Übergangszeit bis zur Veröffentlichung dieser Entscheidung am 25. November 2005 ist die Begründung des Antrags keine zwingende Voraussetzung seiner Zulässigkeit. In dieser Zeit ist auch hinzunehmen, dass dem Verurteilten die konkreten neuen Tatsachen erst im Laufe der Hauptverhandlung mitgeteilt werden. (Bearbeiter)
4. Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte (Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Der Staatsbürger muss die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe grundsätzlich voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. Bei der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wird der allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit zurückgestellt. Dem von Verfassungs wegen mit einem hohen Rang ausgestatteten Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist dann aber durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung zu verschaffen. (Bearbeiter)
5. Die Durchführung einer erneuten Hauptverhandlung soll sicherstellen, dass dem Verurteilten bei der Entscheidung die gleichen verfahrensrechtlichen Rechte zukommen wie in der ersten Hauptverhandlung. Damit gelten die strafprozessualen Grundsätze, d. h. sowohl der Grundsatz des fairen Verfahrens als auch das Gebot des rechtlichen Gehörs. Sie gebieten es, dem Verurteilten frühzeitig mitzuteilen, welche Vorfälle die Staatsanwaltschaft zu der ungünstigen Gefährlichkeitsprognose und damit zur Antragstellung bewogen haben. Nur dann kann er sich auf das weitere Verfahren sachgemäß vorbereiten und seine Rechte in der Hauptverhandlung adäquat wahrnehmen, etwa selbst Zeugen oder andere Be-weismittel benennen. (Bearbeiter)
6. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB setzt nicht notwendig eine Vorverurteilung zu einer Einzelstrafe von mindestens drei Jahren voraus. Eine entsprechend hohe Gesamtfreiheitsstrafe genügt jedenfalls dann, wenn dieser ausschließlich Katalogtaten zugrunde liegen. Dagegen liegt eine Vorverurteilung im Sinne von § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB nicht vor, wenn in einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren lediglich eine Katalogtat mit einer niedrigeren Einzelstrafe neben einer Reihe von Nichtkatalogtaten enthalten ist. (Bearbeiter)
7. Die "neuen Tatsachen" müssen im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips schon für sich Gewicht haben im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung anderer. So kann nicht schon jeder während des Vollzugs aufgetretene Ungehorsam ungeachtet seiner Neuheit die Einleitung eines Verfahrens über die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung rechtfertigen. Ebenso wenig dient das Verfahren nach § 66b StGB der Korrektur rechtsfehlerhafter früherer Entscheidungen. Nur wenn wirklich erhebliche neue Tatsachen während des Vollzugs erkennbar werden, kann dies zur Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung führen. (Bearbeiter)
1. Die Materialien zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung ergeben eindeutig, dass der Gesetzgeber die Verfahrensregeln, die für die Entscheidung über die vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) gelten, für das Verfahren zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung übernehmen wollte. Eine analoge Anwendung des Zwischenverfahrens zur Vermeidung einer nach § 275a StPO durchgeführten Hauptverhandlung ist auch bei Anträgen, die aus zwingenden rechtlichen Gründen keinesfalls Erfolg haben können, nicht zu befürworten.
2. Hiervon unabhängig ist jedoch die Frage, ob eine Entscheidung, mit der eine nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung abgelehnt wurde, weil zwingend vorgeschriebene formale Voraussetzungen fehlen, je darauf beruhen könnte (§ 337 StPO), dass sie nicht in der vorgeschriebenen Form oder ohne Anhörung von Sachverständigen getroffen wurde.
1. Jedenfalls dann, wenn bei einer nicht in der Frist des § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB getroffenen Entscheidung die Verzögerung nur wenige Tage beträgt und zudem der Verzögerungsgrund nicht direkt im Verantwortungsbereich der Justiz liegt, greift eine darauf gestützte Revisionsrüge nicht durch.
2. Voraussetzung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66a Abs. 2 Satz 2 StGB ist die prognostizierte Gefahr schwerwiegender Delikte gegen die Person; nicht erfasst sind Vermögensdelikte.
3. Der Bundesgerichtshof hat bereits in früheren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht dazu führen soll, in Fällen, in denen die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB grundsätzlich angezeigt ist, die Verhängung dieser Maßregel (zunächst) zu vermeiden.
1. Die Anordnung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) setzt die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekts voraus, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet.
2. Es ist nicht Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, aus einem Störungsbild unmittelbar auf die An-
nahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit und von da wiederum unmittelbar auf die Bejahung erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit zu schließen. Die psychiatrische Diagnose eines Störungsbildes ist nicht mit einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB gleichzusetzen.
3. Ob der sachverständige Befund unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB zu subsumieren ist, entscheidet nach sachverständiger Beratung der Richter. Gleiches gilt für die sich daran anschließende Frage, ob dadurch die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt ist.
4. Bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB ist nicht das frühere Urteil, sondern nur die darin ausgesprochene Strafe in das neue Erkenntnis einzubeziehen
Die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe kann auch in Fällen leichtfertiger, also nicht vorsätzlicher Verursachung des Todeserfolgs tat- und schuldangemessen sein.
An die Begründung der Strafhöhe sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr sich die Strafe der unteren oder oberen Grenze des Zulässigen nähert. Dem wird ein Urteil nicht gerecht, das lediglich zwei Milderungsgründe und keinen einzigen Schärfungsgrund nennt, aber den Strafrahmen zu rund vier Fünfteln ausschöpft.