HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 180
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 564/24, Beschluss v. 06.11.2024, HRRS 2025 Nr. 180
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 17. Juli 2024 aufgehoben; ausgenommen sind die Feststellungen zum äußeren Geschehen der Anlasstaten, die bestehen bleiben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts zum ersten Tatkomplex hielt der Angeklagte im Mai 2021 sein Fahrzeug im fließenden Verkehr vor der gemeinsam mit ihrem Sohn am Straßenrand wartenden Geschädigten L. an und fuhr erst weiter, als mehrere Verkehrsteilnehmer hupten (Fall III.A.1 der Urteilsgründe). Wenig später nahm er unter fremdem Namen Kontakt mit der Geschädigten auf, um ein Gespräch mit ihr zu führen (Fall III.A.2 der Urteilsgründe). Im Juni 2021 (im Urteil ebenfalls als Fall III.A.2 bezeichnet) und September 2021 sowie im Februar 2022 parkte der Angeklagte an insgesamt drei Tagen vor ihrem Wohnhaus (Fälle III.A.7 und 10 der Urteilsgründe). Mitte Juli 2021 verfolgte er die Geschädigte auf einer Veranstaltung und starrte sie über einen Zeitraum von eineinhalb Stunden an (Fall III.A.4 der Urteilsgründe). Im selben Monat lief der Angeklagte viermal an einem Restaurant vorbei, in dessen Außenbereich die Geschädigte saß, und setzte sich schließlich in Sichtweite in ein anderes Restaurant und beobachtete sie (Fall III.A.5 der Urteilsgründe). Im August 2021 versuchte der Angeklagte, sein Fahrzeug zu parken, nachdem er die Geschädigte im Vorbeifahren erkannt hatte (Fall III.A.6 der Urteilsgründe). Nachdem sie am 8. Oktober 2021 eine neue Gewaltschutzanordnung gegen den Angeklagten erwirkt hatte, nahm er zwei Tage später und im Dezember 2021 Kontakt zu ihrem Lebensgefährten auf und behauptete, der Geschädigten drohe wegen der gegen ihn erstatteten Strafanzeigen die Verhaftung (Fälle III.A.8 und 9 der Urteilsgründe). Schließlich beobachtete der Angeklagte die Geschädigte im März 2022 länger als eine Stunde (Fall III.A.11 der Urteilsgründe).
Zum zweiten Tatkomplex hat die Strafkammer festgestellt, dass der Angeklagte am 12. November 2022 einer Gruppe folgte, zu der die zwölfjährige A. B. gehörte, und vor einem Ladengeschäft wartete, bis sie wieder herauskam (Fall III.B.1 der Urteilsgründe). Eine Woche später kreuzte er in einem Einkaufszentrum mehrfach ihren Weg und wartete auf sie (Fall III.B.2 der Urteilsgründe). Nachdem A. s Mutter für sich und ihre Tochter am 21. November 2022 eine Gewaltschutzanordnung erwirkt hatte, beobachtete der Angeklagte A. zwei Tage später aus vier Metern Entfernung in einem Einkaufszentrum, hielt sich am selben Tag auf dem Weihnachtsmarkt in ihrer Nähe auf und wartete schließlich am Abend 30 Minuten an der Haltestelle vor ihrem Wohnhaus, obwohl währenddessen mehrere Bahnen fuhren (Fall III.B.3 der Urteilsgründe). Am 26. November 2022 blieb der Angeklagte 20 Minuten lang in einem Einkaufszentrum in der 3 Nähe von A. und hielt sich am Abend eine Viertelstunde in der Nähe ihrer Mutter auf (Fall III.B.4 der Urteilsgründe).
Das Landgericht hat die Anlasstaten zum Nachteil der Geschädigten L. als Nachstellung (§ 238 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB) und die Taten zum Nachteil der Geschädigten B. als Nachstellung nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Tateinheit mit Verstößen gegen §§ 1, 4 GewSchG gewertet. Sachverständig beraten ist es davon ausgegangen, dass der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie leide und seine Einsichtsfähigkeit ab Oktober 2021 krankheitsbedingt sicher aufgehoben, ab Mai 2021 sicher erheblich eingeschränkt und nicht ausschließbar aufgehoben gewesen sei.
2. Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Die Ausführungen zur Schuldfähigkeit begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
aa) Soweit das Landgericht der Wertung des Sachverständigen gefolgt ist, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten „bereits seit Mai 2021 erheblich beeinträchtigt gewesen sei und eine völlige Aufhebung nicht ausgeschlossen werden könne“, sind damit die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht belegt. Ist die Einsichtsfähigkeit des Täters eingeschränkt, liegen die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht vor, wenn er das Unrecht seines Tuns im Tatzeitpunkt dennoch einsah. In einem solchen Fall ist auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zulässig (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. November 2012 - 1 StR 504/12; vom 10. Dezember 2009 - 4 StR 437/09). Eine Einschränkung der Einsichtsfähigkeit ist strafrechtlich vielmehr erst dann von Bedeutung, wenn sie tatsächlich das Fehlen der Unrechtseinsicht zur Folge hat und dem Täter dies vorzuwerfen ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 19. September 2023 ? 3 StR 229/23, Rn. 15; vom 25. Juli 2012 - 1 StR 332/12; vom 3. April 2007 - 4 StR 64/07). Dies ist den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs für die vor Oktober 2021 begangenen Taten nicht zweifelsfrei zu entnehmen.
bb) Zudem ist die Auswirkung der psychischen Störung auf die Schuldfähigkeit zum jeweiligen Tatzeitpunkt nicht ausreichend belegt.
Für die Frage eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit kommt es darauf an, in welcher Weise sich die festgestellte und unter eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumierende psychische Störung bei Begehung der jeweiligen Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation ausgewirkt hat. Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie führt für sich genommen nicht zur Feststellung einer - generellen oder zumindest längere Zeiträume überdauernden - Schuldunfähigkeit. Erforderlich sind vielmehr die Feststellung einer akuten Phase der Erkrankung und eine konkretisierende Darlegung des Einflusses des diagnostizierten Störungsbildes auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 21. Oktober 2020 - 2 StR 83/20; Beschlüsse vom 18. Oktober 2022 - 6 StR 355/22; vom 4. Dezember 2018 - 4 StR 443/18; LK-StGB/Cirener, 13. Aufl., § 63 Rn. 56, 74). Wenn sich das Tatgericht - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 23. November 2022 - 4 StR 426/22; vom 18. Oktober 2022 - 6 StR 355/22; vom 5. Februar 2019 - 2 StR 505/18, NStZ-RR 2019, 134, 135).
Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Die Urteilsgründe teilen die Inhalte der Chatverläufe, E-Mails und Schreiben des Angeklagten nicht mit, aus denen der Sachverständige den Schluss gezogen hat, dass ab Oktober 2021 sicher von einer Aufhebung der Einsichtsfähigkeit auszugehen sei, so dass dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Schlüssigkeit des Gutachtens insoweit verwehrt bleibt. Soweit das Landgericht - dem Sachverständigen folgend - seine Beurteilung ergänzend auf die Beobachtungen des Polizeibeamten La. anlässlich einer Gefährderansprache „vom 17. November 2021“ gestützt hat, hat es erkennbar übersehen, dass diese ausweislich der Feststellungen erst ein Jahr später stattfand.
b) Schließlich ist auch die Gefährlichkeitsprognose nicht tragfähig begründet.
aa) Rechtlichen Bedenken begegnet bereits die Bewertung sämtlicher Anlasstaten als erhebliche Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB.
Das Landgericht geht im Ansatz zwar zutreffend davon aus, dass auch Straftaten wie die Nachstellung nach § 238 Abs. 1 StGB erhebliche Anlasstaten sein können, wenn die Tatumstände hinreichend gravierend sind (vgl. BGH, Urteil vom 8. September 2022 - 3 StR 25/22, Rn. 16; Beschluss vom 29. März 2017 - 4 StR 619/16, Rn. 12). Es fehlt aber hinsichtlich der festgestellten Taten an der hierfür nötigen Häufigkeit und Intensität der Übergriffe. Das Landgericht hat während eines Zeitraums von zehn Monaten nur elf Tathandlungen des Angeklagten zum Nachteil der Geschädigten L. festgestellt, die zudem teilweise nur wenige Augenblicke andauerten und nach den Angaben der Geschädigten sämtlich frei von aggressivem Verhalten waren. Auch die Taten zum Nachteil der Geschädigten B. sind eher als niederschwellig einzustufen.
bb) Ferner hat das Landgericht zur Begründung einer negativen Gefährlichkeitsprognose gemäß § 63 Satz 1 StGB rechtsfehlerhaft die Tat zum Nachteil des Zeugen S. herangezogen, für die nicht belegt ist, dass auch sie in einem symptomatischen Zusammenhang mit der Erkrankung des Beschuldigten steht. Zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose können Taten ohne Weiteres nur herangezogen werden, wenn auch sie auf der Erkrankung des Angeklagten beruhen und ihnen daher Symptomcharakter zukommt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20, Rn. 20; vom 7. September 2021 - 1 StR 255/21, Rn. 10; vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23, NStZ-RR 2023, 201, 202; vom 14. Februar 2024 - 2 StR 341/23, Rn. 15; weitergehend BGH, Beschlüsse vom 15. August 2023 ? 5 StR 302/23, Rn. 15; vom 30. Mai 2024 ? 5 StR 390/23, Rn. 11). Den Urteilsgründen lässt sich nicht entnehmen, worauf der Sachverständige seine Beurteilung gestützt hat, die Verletzung des Zeugen S. durch den Angeklagten im Jahr 2018 sei „wahngetrieben“ gewesen.
3. Die Anordnung der Maßregel kann daher nicht bestehen bleiben.
Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hebt der Senat auch den Freispruch des Angeklagten auf. Es ist nicht auszuschließen, dass die neue tatgerichtliche Verhandlung und die zur Erstellung einer aktuellen Gefährlichkeitsprognose erforderliche erneute Begutachtung des Angeklagten eine abweichende Beurteilung seiner Schuldfähigkeit bei Begehung der Anlasstaten ergeben könnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Mai 2018 - 2 StR 132/18; vom 11. April 2018 - 5 StR 54/18). Das neue Tatgericht bleibt jedoch gehindert, nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich erstmals Strafe zu verhängen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. September 2020 - 6 StR 247/20; vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 349/13, NStZ-RR 2014, 89; vom 14. September 2010 - 5 StR 229/10, StraFo 2011, 55).
Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tathandlungen können bestehen bleiben und um ihnen nicht widersprechende ergänzt werden (§ 353 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2025 Nr. 180
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede