HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 95
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 426/22, Beschluss v. 23.11.2022, HRRS 2023 Nr. 95
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 19. Mai 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, sexuellen Missbrauchs eines Kindes sowie Besitzes kinderpornographischer Inhalte in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Nach den Feststellungen manipulierte der Angeklagte im Winter 2011/ 2012 in zwei Fällen am Penis des elfjährigen Nebenklägers bis zum Samenerguss und vollzog dabei jeweils auch den Oralverkehr an dem Kind (Taten 1 und 2). Vor der ersten Tat hatte der Angeklagte Alkohol konsumiert, weshalb die Strafkammer (nur) in diesem Fall eine erheblich eingeschränkte Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) bejaht hat.
Im Februar 2021 streichelte der Angeklagte den neunjährigen Geschädigten im Intimbereich und an dessen Penis, nachdem er ihm Hose und Unterhose heruntergezogen hatte (Tat 3). Ferner besaß der - wegen weiterer fünf Taten des (versuchten) sexuellen Missbrauchs von Kindern im Jahr 2010 oder 2011 vorbestrafte - Angeklagte am 1. April 2021 auf Datenträgern insgesamt 9.512 kinderpornographische Bild- und Videodateien sowie 3.151 jugendpornographische Bild- und Videodateien (Tat 4).
2. Die Revision führt zur Aufhebung des Urteils im tenorierten Umfang. Das Landgericht hat seine Bewertung, der Angeklagte sei bei der Tat 1 nicht ausschließbar erheblich eingeschränkt steuerungsfähig gewesen und habe die Taten 2 bis 4 in voll schuldfähigem Zustand begangen, nicht tragfähig begründet. Die Ausführungen hierzu sind lückenhaft und entziehen bereits den Schuldsprüchen die Grundlage.
a) Wenn sich das Tatgericht - wie hier - darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 18. Oktober 2022 - 6 StR 355/22 Rn. 9; Beschluss vom 13. Januar 2021 - 4 StR 300/20 Rn. 4). Die Urteilsgründe müssen zudem eine eindeutige Bewertung des psychischen Zustands des Angeklagten durch das Tatgericht erkennen lassen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2022 - 5 StR 125/22 Rn. 6; Beschluss vom 12. Mai 2020 - 2 StR 533/19 Rn. 6).
b) Dem werden die Urteilsgründe in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.
aa) Die Strafkammer teilt die von dem Sachverständigen herangezogenen wesentlichen Anknüpfungstatsachen nicht mit. Die Urteilsgründe beschränken sich vielmehr auf die Wiedergabe von dessen Auffassung, bei dem Angeklagten sei eine Nebenstrompädophilie als „recht wahrscheinlich“ anzusehen und eine Kernpädophilie nicht auszuschließen, aber auch nicht sicher festzustellen. Die dem zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und ihre jeweilige Aussagekraft lassen sich dem Urteil hingegen nicht entnehmen, weshalb der Senat die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht beurteilen kann. Insbesondere sind auch die nach der Ansicht des Sachverständigen gegen eine Kernpädophilie sprechenden Umstände nicht nachvollziehbar dargelegt; konkrete Feststellungen hierzu fehlen.
Ferner enthält sich die Strafkammer rechtsfehlerhaft jeder Begründung für die weiter mitgeteilte Bewertung des Sachverständigen, die - an dieser Stelle als von ihm „festgestellt“ bezeichnete - Nebenstrompädophilie erreiche nicht das Ausmaß einer schweren anderen seelischen Störung. Ob eine sexuelle Devianz in Form einer Pädophilie einen solchen Ausprägungsgrad erreicht, dass er diesem Eingangsmerkmal zugeordnet werden kann, ist aufgrund einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und seiner Taten zu beurteilen (vgl. näher BGH, Beschluss vom 10. Januar 2019 - 1 StR 574/18 Rn. 14 mwN). Somit vermag der Senat auch insofern das Gutachten nicht nachzuvollziehen und seine Schlüssigkeit zu überprüfen.
bb) Darüber hinaus hat das Landgericht aus dem Blick verloren, dass der Sachverständige im Ergebnis auch eine Kernpädophilie des Angeklagten für möglich gehalten hat. Hierauf ist es nicht mehr zurückgekommen, sondern hat der rechtlichen Wertung eine Nebenstrompädophilie bei dem Angeklagten zugrunde gelegt. Die für diese Annahme erforderlichen eigenen beweiswürdigenden Erwägungen, weshalb seiner Ansicht nach eine Kernpädophilie sicher auszuschließen war (vgl. zur Anwendung des Zweifelssatzes auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes BGH, Beschluss vom 25. Juli 2006 - 4 StR 141/06 Rn. 11), hat das Landgericht nicht dargestellt.
c) Die aufgezeigten Rechtsfehler führen unter den gegebenen Umständen des vorliegenden Falls zur Aufhebung der Schuldsprüche.
aa) Eine festgestellte Sexualdevianz kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Einzelfall eine schwere andere seelische Störung und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz der devianten Handlungen, Ausbau des Raffinements und gedankliche Einengung des Täters auf diese Praktiken auszeichnen (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 12. Mai 2022 - 4 StR 197/21 Rn. 11; Urteil vom 6. Mai 2021 - 3 StR 350/20 Rn. 17; Beschluss vom 10. Januar 2019 - 1 StR 574/18 Rn. 14; jew. mwN).
Unabhängig von einer derartigen möglichen Sexualdevianz des Angeklagten, die für sich genommen nach den vorgenannten Maßgaben bei den Taten die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit rechtfertigen könnte, hat die Strafkammer bei der Tat 1 der Urteilsgründe jedoch bereits aufgrund seiner Alkoholisierung eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB bejaht. Insoweit ist hier die Beurteilung, welche (weiteren) Auswirkungen ein womöglich hinzutretendes Eingangsmerkmal im Sinne von § 20 StGB in Form einer (Kern-)Pädophilie für die Schuldfähigkeit hat, den Ergebnissen einer neuen Hauptverhandlung vorzubehalten. Denn beim Zusammenwirken mehrerer schuldrelevanter Faktoren ist diesbezüglich eine umfassende Gesamtbetrachtung erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21 Rn. 18 mwN), die das Tatgericht vorzunehmen hat.
bb) Um dem neuen Tatgericht eine insgesamt widerspruchsfreie Schuldfähigkeitsprüfung zu ermöglichen, hebt der Senat die eng hiermit verknüpften Feststellungen zur subjektiven Tatseite bei den weiteren abgeurteilten Taten ebenfalls auf (vgl. auch BGH, Beschluss vom 30. September 2021 - 5 StR 325/21 Rn. 21). Die Feststellungen zum äußeren Geschehensablauf beruhen hingegen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung und sind von dem Rechtsfehler nicht berührt; sie können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).
3. Für die Hauptverhandlung im zweiten Rechtsgang weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:
a) Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert prinzipiell eine mehrstufige Prüfung. Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist der Richter für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung einer aufgehobenen oder erheblich beeinträchtigten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16 Rn. 10; Urteil vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 399/16 Rn. 11; Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15 Rn. 5; Beschluss vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14 Rn. 7).
b) Bei der Steuerungsfähigkeit geht es um die Fähigkeit, entsprechend der Unrechtseinsicht zu handeln, also um Hemmungsvermögen, Willens- und Entscheidungssteuerung, nicht aber um exekutive Handlungskontrolle. Entscheidend kommt es auf die motivationale Steuerungsfähigkeit an, also die Fähigkeit, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu hemmen. Steuerungsfähigkeit darf nicht mit zweckrationalem Verhalten verwechselt werden. Auch bei geplanten und geordnetem Vorgehen kann die Fähigkeit erheblich eingeschränkt (oder im Einzelfall aufgehoben) sein, Anreize zu einem bestimmten Verhalten und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach den Willensentschluss zu bilden (vgl. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 12. Mai 2022 - 5 StR 99/22 Rn. 10; Beschluss vom 15. Juli 2020 - 2 StR 175/20 Rn. 10; Beschluss vom 19. März 2020 - 3 StR 443/19 Rn. 7; Beschluss vom 10. Januar 2019 - 1 StR 574/18 Rn. 14, 19).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 95
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede