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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 875

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 390/23, Beschluss v. 30.05.2024, HRRS 2024 Nr. 875


BGH 5 StR 390/23 - Beschluss vom 30. Mai 2024 (LG Itzehoe)

Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt (Gefährlichkeitsprognose; Vordelinquenz; Fehlen eines symptomatischen Zusammenhangs).

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Vordelinquenz soll zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose im Rahmen des § 63 StGB nur dann herangezogen werden können, wenn diesen Taten auch Symptomcharakter zukommt, sie also auf dem Zustand im Sinne des § 63 StGB beruhen. Ob das Fehlen des symptomatischen Zusammenhangs allerdings nur einer tragenden Heranziehung entgegenstünde (so BGH HRRS 2020 Nr. 1283) oder überhaupt einer Berücksichtigung (vgl. nur BGH HRRS 2022 Nr. 1063), wird uneinheitlich beantwortet. Der Senat neigt der Ansicht zu, dass sich individuell bedeutsame Bedingungsfaktoren für die zu erwartende Delinquenz im Einzelfall auch aus nicht von der Störung beeinflusstem Vorverhalten ergeben können, was zu begründen ist (vgl. dazu schon BGH HRRS 2023 Nr. 1355). Denn kriminalitätsfördernde Faktoren, die in Vordelinquenz zu Tage treten, verlieren durch das Hinzutreten einer Störung im Sinne des § 20 StGB nicht zwingend ihre Relevanz für das erwartete zukünftige Verhalten und mithin auch nicht für eine die Persönlichkeit des Täters umfassende Prognose.

Entscheidungstenor

Die Revision des Beschuldigten gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 24. April 2023 wird als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschuldigten ergeben hat.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Beschuldigten hat keinen Erfolg.

1. Nach den Feststellungen leidet der Beschuldigte seit 2015 unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. In einer akuten Phase dieser Erkrankung fasste der Beschuldigte den Plan, seiner auf der Couch liegenden Großmutter ein Messer vorzuhalten, um von ihr die Herausgabe von Mobiltelefonen zu verlangen. Zur Umsetzung dieses Plans bewaffnete er sich mit einem 15 cm langen Küchenmesser, setzte sich eine Kopfbedeckung auf und zog sich ein Tuch über den Mund. Er trat das Messer offen haltend an die Couch heran und forderte die Mobiltelefone. Auf die zutreffende Antwort der Großmutter, dass sie solche nicht habe, drohte der Beschuldigte damit, sie abzustechen, wenn sie diese nicht herausgebe, was sie ernst nahm. Zeitgleich mit dieser Drohung führte der Beschuldigte mit dem Messer eine Bewegung in Richtung der Großmutter aus, traf sie jedoch nicht. Diese zog ihre Beine zur Seite und schrie auf, der Beschuldigte ließ daraufhin von ihr ab.

Das Landgericht hat diesen Sachverhalt als Bedrohung mit einem Verbrechen gemäß § 241 Abs. 2 StGB gewertet. Da es nicht auszuschließen vermochte, dass der Beschuldigte sich vorstellte, ihm gehörende Mobiltelefone zu fordern, hat es keine versuchte besonders schwere räuberische Erpressung festgestellt. Weil es sich nicht davon zu überzeugen vermochte, dass der Beschuldigte sein Opfer treffen wollte, ist es nicht zur Annahme einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gelangt. Mit den Voraussetzungen eines Rücktritts gemäß § 24 Abs. 1 StGB hat es sich folgerichtig nicht befasst.

Den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen folgend, hat die Strafkammer angenommen, die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten sei aufgrund der krankhaften seelischen Störung, die zu einem ihn bei der Tatbegehung maßgeblich beeinflussenden Wahnsystem geführt habe, sicher aufgehoben gewesen. Die Tat belege eine schwerwiegende Realitätsverkennung, die dem Beschuldigten eine Ausrichtung seines Verhaltens an der Einsicht, Unrecht zu tun, verwehrt habe.

2. Die Anordnung der Unterbringung nach § 63 StGB hat Bestand. Der näheren Erörterung bedarf allein die auf § 63 Satz 2 StGB gestützte Gefährlichkeitsprognose.

a) Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, dass die Anlasstat keine erhebliche Tat im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sei, da die Gefahr eines erheblichen körperlichen oder seelischen Schadens beim Tatopfer nicht sicher festgestellt werden konnte. Dem Sachverständigen folgend hat es aber eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung erheblicher rechtswidriger Taten, namentlich von Körperverletzungsdelikten, durch den wegen seiner Schizophrenie schuldunfähigen Beschuldigten angenommen.

b) Die Prognose zu erwartender Körperverletzungsdelikte erweist sich als tragfähig. Sie enthält die erforderliche Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Tat. Besondere Umstände, die die Erwartung der Begehung solcher Delikte tragen, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei belegt.

aa) Als solche hat es nachvollziehbar den in der Tatsituation zum Ausdruck gekommenen Hang zur Bewaffnung mit einem Messer angesehen, da dieser infolge des situativ erlebten Wahns eine hohe Gefährlichkeit berge. Der Aspekt findet in dem konkreten Tatablauf eine Stütze, wonach gemäß den als glaubhaft angesehenen Angaben der Geschädigten der Beschuldigte das Messer schnell auf sie zubewegt habe, wodurch sie in Angst versetzt worden sei. Ob das Messer sie auch getroffen hätte, wenn sie nicht ausgewichen wäre, vermochte sie nicht zu sagen; sie habe es als Mischung aus Bedrohung und Verletzungsabsicht wahrgenommen. Dass bei einem derartigen Vorgehen eines wahnhaft handelnden Täters eine Verletzung des Tatopfers eintreten kann, bedurfte keiner näheren Vertiefung. Dass das Landgericht wegen dieser Gefährdung nicht schon zur Annahme einer erheblichen Tat als Anlasstat gelangt ist, steht der gebotenen Einbeziehung in die Gefährlichkeitsprognose nicht entgegen.

Es hat neben dem Tatbild aber auch die vom Sachverständigen diagnostizierten dissozialen Verhaltenskomponenten und die damit einhergehende Gefährlichkeit auf dem Boden der schizophrenen Erkrankung des Beschuldigten gewürdigt. Aus der sich hieraus ergebenden Verquickung der Bereitschaft zu aggressiven Reaktionen mit der krankheitsbedingten Realitätsverkennung und dem wahnhaften Verhalten durfte das Landgericht in der Zusammenschau mit dem sich in dem konkreten Tatbild offenbarenden Gefährdungspotential der Anlasstat auf die Erwartung von Körperverletzungsdelikten schließen.

bb) Auf die ergänzende Heranziehung der Vordelinquenz des Beschuldigten, der bereits mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten bestraft worden ist, obwohl diese nicht unter dem Einfluss der Schizophrenie begangen worden sind, kommt es danach nicht mehr an.

Deswegen kann dahinstehen, ob dies mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs uneingeschränkt vereinbar wäre. Danach soll Vordelinquenz zur Begründung der Gefährlichkeitsprognose nur dann herangezogen werden können, wenn diesen Taten auch Symptomcharakter zukommt, sie also auf dem Zustand im Sinne des § 63 StGB beruhen. Ob das Fehlen des symptomatischen Zusammenhangs allerdings nur einer tragenden Heranziehung entgegenstünde (so BGH, Urteil vom 20. Dezember 2023 - 2 StR 359/23; Beschluss vom 22. Juli 2020 - 1 StR 176/20) oder überhaupt einer Berücksichtigung (vgl. zu dieser engeren Sichtweise nur BGH, Beschlüsse vom 25. August 2022 - 1 StR 265/22, wobei eine Abgrenzung zur Entscheidung dieses Senats vom 22. Juli 2020 unterbleibt; vom 19. Januar 2021 - 4 StR 449/20; vom 15. Mai 2023 - 6 StR 146/23, wo zur Begründung allein auf die weiter gefasste Entscheidung des 1. Strafsenats vom 22. Juli 2020 verwiesen wird), wird uneinheitlich beantwortet. Der Senat neigt der Ansicht zu, dass sich individuell bedeutsame Bedingungsfaktoren für die zu erwartende Delinquenz im Einzelfall auch aus nicht von der Störung beeinflusstem Vorverhalten ergeben können, was zu begründen ist (vgl. dazu schon BGH, Beschluss vom 15. August 2023 - 5 StR 302/23). Denn kriminalitätsfördernde Faktoren, die in Vordelinquenz zu Tage treten, verlieren durch das Hinzutreten einer Störung im Sinne des § 20 StGB nicht zwingend ihre Relevanz für das erwartete zukünftige Verhalten und mithin auch nicht für eine die Persönlichkeit des Täters umfassende Prognose.

cc) Ebenfalls dahinstehen kann die Frage, ob ein etwaiger Irrtum des Beschuldigten über sein Eigentum an den geforderten Mobiltelefonen krankheitsbedingt war und deshalb einer Wertung der Anlasstat als versuchte besonders schwere räuberische Erpressung nicht entgegenstand (vgl. nur BGH, Beschluss vom 30. Juni 2015 - 3 StR 181/15, NStZ-RR 2015, 273, 274 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 875

Bearbeiter: Christian Becker