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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1254

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 247/20, Beschluss v. 08.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1254


BGH 6 StR 247/20 - Beschluss vom 8. September 2020 (LG Hannover)

Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose; Darlegungsanforderungen; nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung keine erneute Anordnung der Unterbringung und zugleich erstmalige Verhängung von Strafe).

§ 63 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat(en) auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Angeklagten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen.

2. Erforderlich ist auf der Ebene der Darlegungsanforderungen hinsichtlich der Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit stets eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.

3. Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln. In diese Würdigung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine länger währende Straffreiheit als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten einzubeziehen.

4. Das neue Tatgericht bleibt gehindert, nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich erstmals Strafe zu verhängen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 13. Mai 2020 aufgehoben; jedoch haben die Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen Bestand.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung und der Körperverletzung in zwei Fällen sowie der versuchten Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Seine auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. a) Nach den Feststellungen beleidigte der seit 2012 unter Betreuung stehende und am Tattag, dem 3. Juli 2017, erheblich alkoholisierte Angeklagte in einer S-Bahn den Zugbegleiter, der ihn wegen seines ungebührlichen Verhaltens angesprochen hatte. Sodann trat und schlug er erfolglos in Richtung des Kopfes des Zugbegleiters. Der Angeklagte hatte krankheitsbedingt die Vorstellung, er sei Kriminalkommissar und für die Geheimdienste von großer Bedeutung; das Verhalten des Zugbegleiters verkannte er psychosebedingt als Einschränkung seiner Bedeutung und Angriff auf seine Persönlichkeit (Tat 1).

Etwa eine Stunde später begegnete der Angeklagte dem neuen Partner seiner früheren Freundin auf der Straße. Er schlug mehrfach mit der Faust gegen dessen Kopf, wodurch der Geschädigte zu Boden ging, und versetzte ihm Tritte. Aufgrund seiner Erkrankung war der Angeklagte der unzutreffenden Ansicht, seine frühere Freundin habe ihn angerufen und über ihre Vergewaltigung durch den Geschädigten berichtet (Tat 2).

Eine weitere dreiviertel Stunde später schlug der Angeklagte in einem Drogeriemarkt mit beiden Fäusten auf den Oberkörper einer Angestellten ein, die durch die Schläge gegen ein Regal und sodann zu Boden stürzte. Sie hatte den Angeklagten angesprochen, nachdem dieser lautstark gerufen hatte, dass „man alle Russen umbringen müsse und keiner seiner Freundin etwas antue“ (Tat 3).

Einem der Mitarbeiterin des Drogeriemarkts zu Hilfe eilenden Kunden schlug er mit der Faust in das Gesicht, wodurch dieser ebenfalls zu Boden ging und unter anderem eine Nasenbeinfraktur erlitt. Erneut fühlte der Angeklagte eine Missachtung seiner wahnhaft vorgestellten besonderen Bedeutung (Tat 4).

b) Sachverständig beraten hat die Strafkammer angenommen, dass der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie und als deren Folge an einer Alkoholabhängigkeit leide. Aufgrund dessen sei seine Steuerungsfähigkeit bei allen Taten erheblich vermindert (§ 21 StGB), nicht ausschließbar sogar aufgehoben gewesen.

Ebenfalls in Übereinstimmung mit dem psychiatrischen Sachverständigen hat die Strafkammer angenommen, dass der Angeklagte gefährlich im Sinne von § 63 StGB sei. Infolge der unbehandelten paranoiden Schizophrenie sei weiterhin mit Gewaltdelikten zu rechnen. Phasen der Straffreiheit widersprächen der Prognose nicht.

2. Die Unterbringungsentscheidung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat(en) auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Angeklagten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 2017 - 3 StR 535/16, StV 2017, 575, 576; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74, 75; vom 15. Januar 2015 - 4 StR 419/14, NStZ 2015, 394, 395).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

aa) Bereits die Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Anlasstaten aufgrund - nicht ausschließbar - aufgehobener Steuerungsfähigkeit werden nicht in einer für den Senat nachvollziehbaren Weise dargestellt und beweiswürdigend belegt. Erforderlich ist auf der Ebene der Darlegungsanforderungen stets eine konkretisierende Darstellung, in welcher Weise sich die näher festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf seine Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16 Rn. 11; vom 17. Juni 2014 - 4 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 305, 306 und vom 23. August 2012 - 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98).

Dem genügt das angefochtene Urteil nicht, weil schon die vom Landgericht getroffene Feststellung, dass der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie und als deren Folge an einer Alkoholabhängigkeit leide, im Urteil nicht ausreichend begründet ist. So lassen sich den Urteilsgründen insbesondere keine Erkenntnisse zum Verlauf und zur Schwere der Erkrankung entnehmen. Hinzu kommt, dass sich die Strafkammer der Einschätzung des Sachverständigen, das Alkoholabhängigkeitssyndrom sei „sehr wahrscheinlich“ eine Folge der psychiatrischen Grunderkrankung, ohne weitere Erläuterung und damit in keiner revisionsrechtlich nachvollziehbaren Weise angeschlossen hat. Unklar bleiben überdies die im Urteil erwähnten Ausführungen des Sachverständigen zu einem beim Angeklagten möglicherweise vorliegenden ADHS-Syndrom, welches Zornesreaktionen entgegenwirke.

bb) Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen darüber hinaus die Ausführungen des Landgerichts zum Vorhandensein von Wahnsymptomen beim Angeklagten bei Begehung der Anlasstaten. Diese finden in der insoweit lückenhaften Beweiswürdigung keine ausreichende Stütze. Die Strafkammer teilt nicht mit, worauf sie ihre Feststellungen stützt, dass Wahnvorstellungen des Angeklagten über seine Funktion und Bedeutung (Taten 1, 3 und 4) oder einen angeblichen Hilferuf (Tat 2) handlungsleitend gewesen seien. Der Angeklagte hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen. Weder aus der Wiedergabe des Sachverständigengutachtens noch aus den Aussagen der Polizeibeamten ist etwas über entsprechende Berichte des Angeklagten zu ersehen.

Vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte im Zeitpunkt der Taten erheblich alkoholisiert war und die Beziehung zu seiner früheren Freundin fortsetzen wollte, hätte sich das Tatgericht mit möglichen normalpsychologisch erklärbaren Beweggründen für die Taten auseinandersetzen müssen; hieran fehlt es.

cc) Schließlich ist auch die Gefährlichkeitsprognose nicht tragfähig begründet.

Das Landgericht hat nicht rechtsfehlerfrei begründet, dass von dem Angeklagten in Zukunft mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

Die für die Maßregelanordnung erforderliche Gefährlichkeitsprognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18; Beschluss vom 15. Januar 2020 - 1 StR 604/19, NStZ-RR 2020, 140). In diese Würdigung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine länger währende Straffreiheit als gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Taten einzubeziehen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Dezember 2014 - 2 StR 170/14, NStZ 2015, 387, 388 mwN; vom 28. August 2012 - 5 StR 295/12, NStZ-RR 2012, 366, 367; Beschluss vom 4. Juli 2012 - 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338). Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht.

Zwar hat die Strafkammer in den Blick genommen, dass der Angeklagte seit Auftreten der Erkrankung weder vor noch nach den Anlasstaten strafrechtlich erheblich in Erscheinung getreten ist. Ihre Einschätzung, dass gleichwohl „mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades erneut vergleichbare Taten zu erwarten“ seien, ist indes nicht tragfähig begründet. Allein der Hinweis auf die chronische Erkrankung, ihren wellenhaften Verlauf und die deshalb bei Nichtbehandlung jederzeit bestehende Gefahr von anlasslosen reaktiven Gewalttaten ist im Hinblick darauf unzulänglich, dass der Angeklagte, der nach den Taten seit 2018 in der Schweiz lebte und dort - finanziell erfolgreich - berufstätig war, nur an einem einzigen Tag unter erheblichem Alkoholeinfluss derartig in Erscheinung getreten ist.

Soweit das Landgericht auf einen gewaltsamen Ãœbergriff des Angeklagten auf eine Pflegekraft Ende 2014 hingewiesen hat, durfte es hieraus im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose keine Schlüsse ziehen, weil es zu diesem Vorfall keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 - 4 StR 556/19).

3. Die Anordnung der Maßregel nach § 63 StGB kann daher nicht bestehen bleiben. Die Sache bedarf - gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung.

Mit Blick auf die Vorschrift des § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO hebt der Senat auch den Freispruch des Angeklagten auf. Es ist nicht auszuschließen, dass die neue tatgerichtliche Verhandlung und die zur Erstellung einer aktuellen Gefährlichkeitsprognose erforderliche erneute Begutachtung des Angeklagten eine abweichende Beurteilung seiner Schuldfähigkeit bei Begehung der Anlasstaten ergeben könnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Mai 2018 - 2 StR 132/18, juris Rn. 10; vom 11. April 2018 - 5 StR 54/18, juris Rn. 7). Das neue Tatgericht bleibt jedoch gehindert, nach Aufhebung der isoliert angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erneut die Unterbringung anzuordnen und zugleich erstmals Strafe zu verhängen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2013 - 3 StR 349/13, NStZ-RR 2014, 89; vom 14. September 2010 - 5 StR 229/10, StraFo 2011, 55).

4. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den äußeren Tatgeschehen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO).

Soweit das neue Tatgericht wiederum die Voraussetzungen des § 63 StGB bejaht, wird es auch unter Würdigung des Verhaltens des Angeklagten in der seit Februar 2020 vollzogenen vorläufigen Unterbringung zu prüfen haben, ob die Maßregel nach § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1254

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner