HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1417
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, AK 58/23, Beschluss v. 19.10.2023, HRRS 2023 Nr. 1417
Eine Haftprüfung durch den Senat nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst.
Der Beschuldigte wurde am 22. März 2023 vorläufig festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (1 BGs 532/23). Gegenstand dieses Haftbefehls war der Vorwurf, der Beschuldigte habe am 22. März 2023 mehrfach mittels einer Schusswaffe auf Beamte eines Sondereinsatzkommandos der Polizei geschossen, die dessen Wohnung im Rahmen einer gemäß § 103 StPO richterlich angeordneten Wohnungsdurchsuchung betreten hätten, wobei mehrere Projektile in den Türrahmen auf Brusthöhe der Einsatzbeamten und in das von diesen vorgehaltene Schild eingeschlagen seien sowie ein Schuss einen der Polizeibeamten in den Arm getroffen habe, strafbar wegen versuchten Mordes gemäß § 211 Abs. 1, Abs. 2 Gruppe 1 Variante 4, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB. Weitere strafbare Handlungen des Beschuldigten im Sinne eines dringenden Tatverdachts waren zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt.
Im Folgenden ergaben sich Hinweise auf eine mitgliedschaftliche Beteiligung des Beschuldigten an der terroristischen Vereinigung um den gesondert verfolgten R. Auf Antrag des Generalbundesanwalts hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am 4. September 2023 den vorgenannten Haftbefehl aufgehoben (1 BGs 1266/23) und durch einen neuen Haftbefehl ersetzt (1 BGs 1164/23). Gegenstand dieses neu gefassten, dem Beschuldigten am selben Tag verkündeten Haftbefehls ist zunächst der bereits zuvor erhobene Tatvorwurf. Dieser ist aufgrund der neuen Erkenntnis, wonach durch die vom Beschuldigten abgegebenen Schüsse ein weiterer Polizeibeamter verletzt wurde, sowie nach Auswertung weiterer Beweismittel dahin gewürdigt worden, dass nunmehr der dringende Tatverdacht des versuchten Mordes aus sonst niedrigen Beweggründen, mit gemeingefährlichen Mitteln und zur Verdeckung einer anderen Straftat in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen bestehe, strafbar gemäß § 211 Abs. 1 und 2, §§ 22, 23 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, § 113 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und 2, § 114 Abs. 1 und 2 StGB.
Zusätzlich enthält der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 4. September 2023 den Vorwurf, der Beschuldigte habe sich durch eine weitere selbständige Handlung als Mitglied an der Gruppierung um den gesondert verfolgten R. und damit an einer terroristischen Vereinigung beteiligt, deren Zwecke und Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen, indem er dieser spätestens am 9. Juli 2022 beitrat und sich der Heimatschutzkompanie Nr. (Fr., Tü.) anschloss, um gemeinsam mit den gesondert Verfolgten gewaltsam die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 Abs. 1 StGB) mit Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB.
Der Generalbundesanwalt hat mit Blick auf den neuen Haftbefehl beantragt festzustellen, dass eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO durch den Senat derzeit nicht veranlasst ist.
Eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst. Der Beschuldigte befindet sich zwar seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft. Wegen der ihm im Haftbefehl vom 4. September 2023 erstmals vorgeworfenen Tat hat jedoch eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO begonnen, deren Ablauf erst am 16. Januar 2024 bevorsteht.
1. Gemäß § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ vor dem Erlass eines Urteils nur unter besonderen Voraussetzungen länger als sechs Monate aufrechterhalten werden.
Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 6 ff.; vom 7. September 2017 - AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 - AK 78/17, juris Rn. 11; vom 25. Juli 2019 - AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 7 f.; vom 14. Mai 2020 - AK 8/20, juris Rn. 5 ff.; vom 20. September 2023 - AK 54/23, juris Rn. 8).
2. An diesen Maßstäben gemessen hat der Haftbefehl vom 4. September 2023 eine neue Sechsmonatsfrist eröffnet. Er ist wegen eines weiteren selbständigen Tatvorwurfs ergangen, der nicht Gegenstand des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 22. März 2023 gewesen ist (unten a), erst im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen bekannt geworden ist (unten b) und für sich genommen einen Haftbefehl rechtfertigt (unten c). Die nunmehr maßgebliche Sechsmonatsfrist läuft ab dem 16. Juli 2023; ab diesem Tag hätte der erweiterte Haftbefehl ergehen können (unten d).
a) Der Beschuldigte ist - über den Vorwurf des früheren Haftbefehls hinaus - der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens dringend verdächtig.
aa) Wie der Senat bereits vielfach entschieden hat, besteht der dringende Tatverdacht, dass die im Ermittlungskomplex gesondert Verfolgten sich an einer terroristischen Vereinigung als Mitglied gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB beteiligten und durch dieselbe Handlung (§ 52 Abs. 1 StGB) ein hochverräterisches Unternehmen gemäß § 83 Abs. 1 StGB vorbereiteten beziehungsweise die terroristische Vereinigung gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 StGB unterstützten. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die zu diesem Komplex ergangenen Beschlüsse des Senats vom 11., 12. und 13. Juli 2023 Bezug genommen (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2023 - AK 35/23, juris Rn. 5 ff. [vorgesehen für BGHSt]; vom 12. Juli 2023 - AK 38/23, juris Rn. 5 ff.; vom 13. Juli 2023 - AK 21/23, juris Rn. 4 ff.).
bb) Der Beschuldigte trat der terroristischen Vereinigung spätestens am 9. Juli 2022 bei. Er schloss sich der Heimatschutzkompanie Nr. (Fr., Tü.) mit Sitz in Ho. an. Er erstrebte gemeinsam mit den gesondert Verfolgten die gewaltsame Beseitigung der bestehenden staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Zweck stand er in Kontakt mit den Führungspersonen der vorgenannten Heimatschutzkompanie, nahm an Treffen der Vereinigung teil, war in organisatorische Absprachen eingebunden und traf in Abstimmung mit den gesondert verfolgten He. und H. Vorbereitungen für den „Tag X“. Zudem unterschrieb er eine Verschwiegenheitsverpflichtung der Gruppierung und stellte dieser seine Fähigkeiten im Umgang mit Schusswaffen, seine zahlreichen Waffen, Munition und weitere militärische Ausrüstungsgegenstände sowie Militärverpflegung zur Verfügung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 4. September 2023 und die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 20. September 2023 verwiesen.
cc) Die Erkenntnisse zu den konkreten Beteiligungshandlungen beruhen im Wesentlichen auf der Auswertung umfangreicher Chat- und E-Mail-Kommunikation des Beschuldigten und der gesondert verfolgten He. sowie H. Ferner ist eine vom Beschuldigten unterzeichnete Verschwiegenheitserklärung aufgefunden worden. Dessen Teilnahme an gemeinsamen Treffen der Vereinigung wird belegt durch die Angaben der gesondert verfolgten S., Ra. und F. Die vom Beschuldigten getroffenen Vorbereitungshandlungen für den „Tag X“ werden bestätigt durch Erkenntnisse aus der Durchsuchung seiner Wohnung und die dort aufgefundenen zahlreichen Waffen nebst Munition, militärischen Ausrüstungsgegenständen sowie Militärverpflegung. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 4. September 2023 und den Haftbefehlsantrag des Generalbundesanwalts vom 31. Juli 2023 Bezug genommen.
dd) In rechtlicher Hinsicht hat sich der Beschuldigte im Hinblick auf die im Haftbefehl vom 4. September 2023 erstmals beschriebenen Tathandlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB und durch dieselbe Handlung (§ 52 Abs. 1 StGB) wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
(1) Er gliederte sich nach dem aus dem Aktenmaterial ersichtlichen Erkenntnisstand spätestens im Juli 2022 einvernehmlich in die Vereinigung ein und trug mit seinem Wirken für den militärischen Arm sowie die Heimatschutzkompanie in Ho. unmittelbar zur Durchsetzung der Ziele des Zusammenschlusses bei. Somit beteiligte er sich hochwahrscheinlich als Mitglied an der Vereinigung (vgl. zu den Voraussetzungen der Mitgliedschaft einerseits und der Beteiligung andererseits BGH, Beschlüsse vom 18. Oktober 2022 - AK 33/22, juris Rn. 32 ff. mwN; vom 21. April 2022 - AK 18/22, juris Rn. 4 ff.; vom 21. April 2022 - AK 14/22, juris Rn. 27 ff.; vom 14. Juli 2021 - AK 37/21, juris Rn. 35, 37 mwN).
(2) Darüber hinaus ist der Beschuldigte der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gemäß § 83 Abs. 1 StGB dringend verdächtig. Die vorgenannten Aktivitäten bereiteten den von ihm beabsichtigten Hochverrat vor und wurden von ihm zu diesem Zweck entfaltet. Das hochverräterische Unternehmen war hinreichend konkretisiert, und zwar nicht nur in gegenständlicher und örtlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auch insoweit auf die zu diesem Ermittlungskomplex ergangenen Beschlüsse des Senats vom 11., 12. und 13. Juli 2023 (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 11. Juli 2023 - AK 35/23, juris Rn. 28 ff. [vorgesehen für BGHSt]; vom 12. Juli 2023 - AK 38/23, juris Rn. 25 ff.; vom 13. Juli 2023 - AK 21/23, juris Rn. 24 ff.) und auf den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 4. September 2023 sowie die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 20. September 2023 verwiesen.
ee) Die neu ermittelte mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens ist nach sachlichrechtlichen (vgl. zum Konkurrenzverhältnis etwa BGH, Beschluss vom 31. August 2020 - AK 20/20, juris Rn. 24) und verfahrensrechtlichen (§ 264 StPO) Maßstäben nicht identisch mit dem versuchten Tötungsdelikt vom 22. März 2023, das bereits Gegenstand des Haftbefehls vom selben Tag war. Denn sowohl die terroristische Gruppierung als auch das hochverräterische Unternehmen sind durch die Ermittlungsbehörden bereits zuvor am 7. Dezember 2022 zerschlagen worden. Somit liegen unterschiedliche Taten im Sinne des § 121 StPO vor.
ff) Die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für die neue Tat ergibt sich aus § 169 Abs. 1 StPO, § 120 Abs. 1 Nr. 2 und 6, § 142 Abs. 1 Nr. 1, § 142a Abs. 1 Satz 1 GVG.
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich des neu hinzugetretenen Vorwurfs hat sich erst nach Erlass des ursprünglichen Haftbefehls vom 22. März 2023 ergeben. Zu diesem Zeitpunkt war den Ermittlungsbehörden lediglich bekannt, dass sich der Beschuldigte sowie der gesondert verfolgte He. kannten und der Beschuldigte eine Verschwiegenheitsverpflichtung für die Vereinigung unterzeichnet hatte. Zum dringenden Tatverdacht haben sich die Verdachtsmomente erst aus einer Gesamtschau der Auswertung des E-Mail-Postfaches des gesondert verfolgten He., der Chat-Nachrichten der Telegram-Chatgruppe“ “ und des schließlich am 15. Juli 2023 ausgewerteten weiteren Chatverkehrs zwischen dem Beschuldigten und dem gesondert verfolgten He. verdichtet. Aus diesem geht zum einen hervor, dass dem Beschuldigten eine Nachricht des gesondert verfolgten We. weitergeleitet worden ist, in der dieser die Ausrufung der „48 Stunden“ und die Fortgeltung des Kriegsrechts ankündigte. Zum anderen lässt der Inhalt der Chat-Nachrichten mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass der Beschuldigte der Vereinigung Waffen überließ.
c) Die dem Beschuldigten nunmehr zusätzlich vorgeworfene Tat rechtfertigt für sich genommen den Erlass des Haftbefehls.
aa) Auch wenn nur der neu hinzugetretene Tatvorwurf Berücksichtigung findet, bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität.
(1) Nach Würdigung der Umstände des Einzelfalls ist es wahrscheinlicher, dass sich der Beschuldigte - sollte er auf freien Fuß gelangen - dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Er hat im Falle seiner Verurteilung angesichts der Schwere des Tatvorwurfs und des Gewichts seiner mutmaßlichen Tatbeiträge mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem hieraus resultierenden großen Fluchtanreiz stehen keine hinreichenden fluchthindernden Umstände entgegen. Überdies lehnt er die gegenwärtige Staatsund Verfassungsordnung der Bundesrepublik ab und verneint die Legitimität ihrer Staatsorgane zu hoheitlichem Handeln. Die bisherigen Ermittlungen haben gezeigt, dass er wie zahlreiche gesondert Verfolgte in der Szene derer, die - als sogenannte Reichsbürger, Querdenker, Verschwörungstheoretiker oder Anhänger nationalsozialistischen Gedankengutes - die staatliche Verfasstheit der Bundesrepublik und deren freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen und ihre Überwindung erstreben, eng eingebunden und vernetzt ist. Er kann auf ein Netzwerk von Sympathisanten und Gleichgesinnten zurückgreifen, die ihn im Falle einer Flucht beziehungsweise eines Untertauchens logistisch und finanziell unterstützen würden.
(2) Daneben besteht der Haftgrund der Schwerkriminalität. Der Beschuldigte ist der mitgliedschaftlichen Beteiligung in einer terroristischen Vereinigung, mithin einer Katalogtat des § 112 Abs. 3 StPO, dringend verdächtig. Nach den vorgenannten Umständen des Einzelfalls ist eine Fluchtgefahr jedenfalls nicht ausgeschlossen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 - 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342, 349 ff.; s. auch BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.; vom 9. Juni 2020 - AK 12/20, juris Rn. 37; vom 20. April 2022 - StB 15/22, juris Rn. 11 f.).
bb) Die Anordnung der Untersuchungshaft allein wegen des neuen Tatvorwurfs stünde auch nicht außer Verhältnis zu deren Bedeutung und dem im Fall ihrer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass dem Beschleunigungsgebot ein besonderer Stellenwert zukommen kann, falls sich - wie hier - die Haftdauer verlängert, weil erst während des Vollzugs der Untersuchungshaft eine neue Straftat bekannt wird. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist auch in diesen Fällen grundsätzlich die insgesamt erlittene Haftdauer in den Blick zu nehmen. Ungeachtet dessen setzen die frisch im Sinne eines dringenden Tatverdachts gewonnenen Erkenntnisse bei ausreichender Erheblichkeit gerade deshalb eine neue Sechsmonatsfrist in Gang, damit die Strafverfolgungsbehörden insoweit weiter ermitteln können. Schon aus diesem Grund verbietet sich jede schematische Betrachtung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 37; vom 7. September 2017 - AK 42/17, juris Rn. 47; vom 14. Mai 2020 - AK 8/20, juris Rn. 42 ff.).
Hier ist die (weitere) Inhaftierung des Beschuldigten angesichts der Bedeutung des neuen Tatvorwurfs und der äußerst umfangreichen Ermittlungen in dem vorliegenden Komplex derzeit verhältnismäßig. Verzögerungen haben sich im bisherigen Verfahren nicht ergeben.
d) Der Ablauf der durch den Haftbefehl vom 4. September 2023 in Gang gesetzten Sechsmonatsfrist steht noch nicht bevor. Er wird erst am 16. Januar 2024 eintreten. Für den Fristbeginn ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem sich die einen neuen Haftbefehl rechtfertigenden Ermittlungsergebnisse zu einem dringenden Tatverdacht verdichtet haben. In der Gesamtschau der durchgeführten Ermittlungen haben - wie oben ausgeführt - die neuen Erkenntnisse den dringenden Tatverdacht hinsichtlich des neuen Tatvorwurfs ab dem 15. Juli 2023 getragen. Danach hat die Sechsmonatsfrist am Folgetag, dem 16. Juli 2023, begonnen.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1417
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede