HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1323
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, AK 54/23, Beschluss v. 20.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1323
Eine Haftprüfung durch den Senat nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst.
Der Beschuldigte wurde am 9. März 2023 festgenommen und befindet sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft, zunächst aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Mannheim vom 8. März 2023 (42 Gs 499/23). Gegenstand dieses Haftbefehls war der Vorwurf, der Beschuldigte habe - jeweils gewerbsmäßig und gemeinsam mit anderen handelnd - zum einen über sein Unternehmen I. (I.) zwischen Januar 2020 und Oktober 2021 in 14 Fällen Gegenstände im Gesamtwert von 161.954,49 € ohne Genehmigung nach Russland ausgeführt, obwohl diese, wie er gewusst habe, Anhang I der Dual-Use-Verordnung unterfielen, strafbar gemäß § 18 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, Abs. 7 Nr. 2 AWG aF und nF in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 428/2009 des Rates vom 5. Mai 2009 beziehungsweise Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 821/2021 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2021, § 25 Abs. 2, § 53 StGB. Zum anderen habe er Ende Februar 2023 Elektronikbauteile im Wert von 133.861,66 €, die in Anhang VII der Russland-Embargo-Verordnung gelistet gewesen seien, an einen russischen Abnehmer verkauft und am 1. März 2023 einem litauischen Kurier zum Transport übergeben, strafbar gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Variante 5, Abs. 7 Nr. 2 AWG, Art. 2a Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014. Weitere strafbare Handlungen des Beschuldigten waren zum damaligen Zeitpunkt nicht im Sinne eines dringenden Tatverdachts bekannt.
Im Folgenden ergaben sich Hinweise auf zusätzliche Embargoverstöße des Beschuldigten in noch größerem Umfang, die er mutmaßlich ab August 2022 mittels seiner Firma W. GmbH (W.) begangen hatte. Aus am Tag der Festnahme sichergestellten Beweismitteln gingen Anhaltspunkte dafür hervor, dass er über jenes Unternehmen in 13 Fällen Güter mit potentieller militärischer Verwendung im Gesamtwert von 482.087,27 €, die im Anhang VII B der Russland-Embargo-Verordnung gelistet sind, über Umwege an eine Rüstungsfirma nach S. verkauft und exportiert hatte.
Auf Antrag des Generalbundesanwalts, der das zuvor von der Staatsanwaltschaft Mannheim geführte Ermittlungsverfahren übernommen hatte, hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am 28. August 2023 den Haftbefehl des Amtsgerichts aufgehoben und durch einen neuen Haftbefehl ersetzt (1 BGs 1134/23). Gegenstand dieses neuen, dem Beschuldigten am selben Tag verkündeten Haftbefehls sind zunächst die bereits zuvor erhobenen Tatvorwürfe, die nach einer fachtechnischen Bewertung der ausgeführten Produkte sowie weiteren Ermittlungen präzisiert und in Teilen geschmälert (statt 14 nur elf ungenehmigte Ausfuhren über die I. ab Februar 2020 im Gesamtwert von 127.202,82 € statt 161.954,49 €) beziehungsweise erweitert worden sind (zwei Verkäufe statt eines verbotswidrigen Verkaufs von gelisteten Gütern am 28. Februar und 1. März 2023 im Gesamtwert von 105.895,49 € statt 133.861,66 €). Die erstgenannten elf Fälle sind aufgrund neuer Erkenntnisse - dringender Tatverdacht der Lieferung an ein Rüstungsunternehmen zur potentiellen militärischen Endverwendung - nunmehr außerdem als gewerbsmäßige Verstöße nicht mehr nur gegen die Ausfuhrgenehmigungspflicht nach der Dual-Use-Verordnung, sondern gegen das Verkaufsverbot der Russland-Embargo-Verordnung gewürdigt, strafbar gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 AWG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 in der vom 9. Juli 2019 bis zum 22. Februar 2022 gültigen Fassung.
Zusätzlich enthält der Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs den Vorwurf, der Beschuldigte habe durch 13 weitere selbständige Handlungen gewerbsmäßig der Russland-Embargo-Verordnung der Europäischen Union zuwidergehandelt, indem er zwischen August 2022 und Februar 2023 Elektronikbauteile mit potentieller militärischer Verwendung im Gesamtwert von 482.087,27 € nach Russland verkauft und ausgeführt habe, die von Anhang VII B der Russland-Embargo-Verordnung erfasst seien, strafbar gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 AWG in Verbindung mit Art. 2a Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 in der zu den Tatzeiten jeweils gültigen Fassung.
Der Generalbundesanwalt hat mit Blick auf den neuen Haftbefehl beantragt festzustellen, dass eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO durch den Senat derzeit nicht veranlasst ist.
Eine Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst. Der Beschuldigte befindet sich zwar seit mehr als sechs Monaten in Untersuchungshaft. Wegen der ihm im Haftbefehl vom 28. August 2023 erstmals vorgeworfenen Taten hat jedoch eine neue Sechsmonatsfrist im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO begonnen, deren Ablauf erst am 20. Januar 2024 bevorsteht.
1. Gemäß § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft „wegen derselben Tat“ vor dem Erlass eines Urteils nur unter besonderen Voraussetzungen länger als sechs Monate aufrechterhalten werden.
Der Begriff derselben Tat im Sinne dieser Vorschrift weicht vom prozessualen Tatbegriff im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO ab und ist mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Norm weit auszulegen. Er erfasst alle Taten des Beschuldigten von dem Zeitpunkt an, in dem sie - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt geworden sind und in einen bestehenden Haftbefehl hätten aufgenommen werden können, und zwar unabhängig davon, ob sie Gegenstand desselben Verfahrens oder getrennter Verfahren sind. Dadurch wird eine sogenannte Reservehaltung von Tatvorwürfen vermieden, die darin bestünde, dass von Anfang an bekannte oder im Laufe der Ermittlungen bekannt gewordene Taten zunächst zurückgehalten und erst kurz vor Ablauf der Sechsmonatsfrist zum Gegenstand eines neuen oder erweiterten Haftbefehls gemacht werden mit dem Ziel, eine neue Sechsmonatsfrist zu eröffnen. Somit löst es keine neue Haftprüfungsfrist gemäß § 121 Abs. 1 StPO aus, wenn ein neuer Haftbefehl lediglich auf Tatvorwürfe gestützt bzw. durch sie erweitert wird, die schon bei Erlass des ersten Haftbefehls - im Sinne eines dringenden Tatverdachts - bekannt waren. Tragen dagegen die erst im Laufe der Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls und ergeht deswegen ein neuer oder erweiterter Haftbefehl, so wird dadurch ohne Anrechnung der bisherigen Haftdauer eine neue Sechsmonatsfrist in Gang gesetzt. Für den Fristbeginn ist dann der Zeitpunkt maßgeblich, in dem sich der Verdacht hinsichtlich der neuen Tatvorwürfe zu einem dringenden verdichtet hat. Entscheidend ist mithin, wann der neue bzw. erweiterte Haftbefehl hätte erlassen werden können, nicht hingegen, wann die Staatsanwaltschaft ihn erwirkt hat. Dabei ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Haftbefehl spätestens an dem auf die Beweisgewinnung folgenden Tag der veränderten Sachlage anzupassen ist (st. Rspr.; s. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - AK 14/17, juris Rn. 6 ff.; vom 7. September 2017 - AK 42/17, NStZ-RR 2018, 10, 11; vom 16. Januar 2018 - AK 78/17, juris Rn. 11; vom 25. Juli 2019 - AK 34/19, NStZ 2019, 626 Rn. 8; vom 14. Mai 2020 - AK 8/20, juris Rn. 5 ff.).
2. An diesen Maßstäben gemessen hat der Haftbefehl vom 28. August 2023 eine neue Sechsmonatsfrist eröffnet. Er ist wegen weiterer selbständiger Tatvorwürfe ergangen, die nicht Gegenstand des Haftbefehls des Amtsgerichts Mannheim vom 8. März 2023 waren (unten a), erst im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen bekannt geworden sind (unten b) und für sich genommen einen Haftbefehl rechtfertigen (unten c). Die nunmehr maßgebliche Sechsmonatsfrist läuft ab dem 20. Juli 2023; ab diesem Tag hätte der erweiterte Haftbefehl theoretisch ergehen können (unten d).
a) Der Beschuldigte ist - über die Vorwürfe des früheren Haftbefehls hinaus - einer 13-fachen gewerbsmäßigen Zuwiderhandlung gegen das Verkaufs-, Ausfuhr- und Lieferverbot eines unmittelbar geltenden außenwirtschaftsrechtlichen Rechtsaktes der Europäischen Union (Russland-Embargo-Verordnung) dringend verdächtig.
aa) Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts insoweit von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Im Dezember 2021 gründete der Beschuldigte als alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer die W. Über diese Firma verkaufte er zwischen August 2022 und Februar 2023 wissentlich und willentlich Rüstungsgüter (unter anderem Halbleiterbauelemente und elektronisch integrierte Schaltungen), die in Anhang VII B der Russland-Embargo-Verordnung gelistet sind, nach S. und führte sie dorthin aus. Hierfür nutzte er in Absprache mit seinen russischen Ansprechpartnern Scheinempfänger in Kasachstan, Kirgisistan, Hong Kong und Dubai sowie litauische Kurierdienste. Tatsächlicher Abnehmer und Endverwender aller gelieferten Güter war das in S. ansässige russische Rüstungsunternehmen T. ( T.). Dieses produziert unter anderem die militärische Drohne „Orlan 10“, die zur Zielführung von Artillerie-Feuer genutzt und von hoher Bedeutung für die Letalität der russischen Angriffe im Ukrainekrieg ist. In der aktuellen Fassung der Russland-Embargo-Verordnung ist die Firma inzwischen als militärischer Endabnehmer gelistet (Verordnung [EU] Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014, Anhang IV, Pos. 362).
Der Beschuldigte wusste um das strafbewehrte Verbot entsprechender Ausfuhren. Er handelte im arbeitsteiligen Zusammenwirken mit anderen Personen und in der Absicht, sich eine fortlaufende, nicht unerhebliche Einnahmequelle zu sichern. Die ausgeführten gelisteten Waren hatten einen Gesamtwert von 482.087,27 €. Hinsichtlich der einzelnen Taten wird auf die Tabelle im Haftbefehl vom 28. August 2023 verwiesen (dortige Fälle 12 bis 24).
bb) Der dringende Tatverdacht (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO) für diese Tatvorwürfe beruht vor allem auf der Auswertung umfangreicher Chat- und E-Mail-Kommunikation zwischen dem Beschuldigten und der russischen Abnehmerseite, Rechnungen, Lieferscheinen, Zollfrachtpapieren, fachtechnischen Beurteilungen des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) sowie Auswertungen des Zollkriminalamts zur hochwahrscheinlichen Endverwendung der Waren durch den russischen Rüstungskonzern T. .
cc) Die Tathandlungen begründen 13 gewerbsmäßige Zuwiderhandlungen gegen ein außenwirtschaftsrechtliches Verkaufs-, Ausfuhr- und Lieferverbot (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2014 - 3 StR 62/14, juris Rn. 18 ff.) der Europäischen Union, nämlich Art. 2a Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 (Russland-Embargo-Verordnung) in der Fassung der zu den Tatzeiten jeweils geltenden Änderungsverordnung. Der Beschuldigte hat sich mithin mit hoher Wahrscheinlichkeit in allen 13 Fällen gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 7 Nr. 2 AWG, § 52 StGB strafbar gemacht. Ob er dadurch, dass er ein etabliertes Netzwerk nutzte, dessen Teil er war, zugleich als Mitglied einer Bande handelte, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hatte (§ 18 Abs. 7 Nr. 2, Abs. 8 AWG), bedarf hier keiner Entscheidung.
dd) Die 13 neu ermittelten Ausfuhren sind nach sachlichrechtlichen (vgl. zum Konkurrenzverhältnis etwa BGH, Beschluss vom 31. August 2020 - AK 20/20, wistra 2021, 31 Rn. 24) und verfahrensrechtlichen (§ 264 StPO) Maßstäben nicht identisch mit den Taten, die bereits Gegenstand des Haftbefehls vom 8. März 2023 waren. Sie betreffen andere Waren und fanden in einem abweichenden Zeitraum sowie auf neuen Lieferwegen statt.
ee) Die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für die neuen Taten folgt aus § 169 Abs. 1 StPO, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Buchst. a, § 142a Abs. 1 Satz 2 GVG. Die dem Beschuldigten angelasteten verbotswidrigen Ausfuhren sind geeignet, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden. Die Sache hat besondere Bedeutung, weil die mutmaßlichen Taten und die ihnen innewohnenden und sie begleitenden Umstände vor dem Hintergrund des gegen Russland verhängten Waffen- und Wirtschaftsembargos einen gewichtigen Angriff auf gesamtstaatliche Interessen und eine Schädigung des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft begründen. Die Tatvorwürfe weisen zudem eine die Bundesrepublik Deutschland betreffende sicherheitspolitische Dimension auf, die eine Verfolgung durch die Strafgerichtsbarkeit des Bundes gebietet.
b) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der neu hinzugetretenen Vorwürfe hat sich erst nach der Inhaftierung des Beschuldigten ergeben. Am Tag seiner Festnahme sind mehrere Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt worden. Die hierbei sichergestellten Unterlagen und sonstigen Beweismittel haben erstmals auf die 13 Ausfuhren schließen lassen, die er hochwahrscheinlich über die W. nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine veranlasste.
c) Die dem Beschuldigten nunmehr zusätzlich vorgeworfenen Taten rechtfertigen für sich genommen den Erlass eines Haftbefehls.
aa) Auch wenn nur die neu hinzugetretenen Tatvorwürfe Berücksichtigung finden, besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Beschuldigte hat im Falle der Verurteilung allein wegen dieser 13 Taten mit einer erheblichen Haftstrafe zu rechnen. Die Strafandrohung für jede von ihnen beträgt nach § 18 Abs. 7 Nr. 2 AWG zwischen einem und 15 Jahren Freiheitsstrafe. Auf der Grundlage des dringenden Tatverdachts ist zu besorgen, dass angesichts der zur Verschleierung der Taten aufgewendeten hohen kriminellen Energie sowie des tatsächlichen und wertmäßigen Umfangs der Lieferungen die Einzelstrafen jedenfalls nicht im unteren Bereich dieses Strafrahmens liegen werden, was - hypothetisch - auf eine empfindliche Gesamtfreiheitsstrafe schließen lässt. Schon deshalb ist zu erwarten, dass der Beschuldigte sich, sollte er in Freiheit gelangen, dem weiteren Strafverfahren durch Flucht entziehen wird. Hinzu kommt, dass er russischer Staatsangehöriger ist, die russische Sprache spricht, über zahlreiche Beziehungen nach Russland, eine Wohnung in M. sowie ein Haus in A. verfügt. Mit den für eine Flucht nötigen finanziellen Mitteln ist er nach dem Ergebnis der Finanzermittlungen ausgestattet. Dass der Beschuldigte verheiratet ist, stellt keinen hinreichenden fluchthindernden Umstand dar, zumal er im Tatzeitraum nicht mit seiner Ehefrau, sondern mit der Mitbeschuldigten So. zusammenlebte.
bb) Die Anordnung der Untersuchungshaft allein wegen der neuen Tatvorwürfe stünde auch nicht außer Verhältnis zu deren Bedeutung und der im Fall ihrer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 112 Abs. 1 Satz 2, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass dem Beschleunigungsgebot ein besonderer Stellenwert zukommen kann, falls sich - wie hier - die Anklageerhebung verzögert und die Haftdauer verlängert, weil erst während des Vollzugs der Untersuchungshaft neue Straftaten bekannt werden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ist auch in diesen Fällen grundsätzlich die insgesamt erlittene Haftdauer in den Blick zu nehmen. Ungeachtet dessen setzen die frisch im Sinne eines dringenden Tatverdachts gewonnenen Erkenntnisse bei ausreichender Erheblichkeit gerade deshalb eine neue Sechsmonatsfrist in Gang, damit die Strafverfolgungsbehörden insoweit weiter ermitteln können. Schon aus diesem Grund verbietet sich jede schematische Betrachtung (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 2020 - AK 8/20, juris Rn. 42 ff. mwN).
Hier ist die (weitere) Inhaftierung des Beschuldigten angesichts der Bedeutung der neuen Tatvorwürfe, ihrer komplexen technischen und internationalen Bezüge sowie der hierdurch erschwerten Ermittlungen derzeit verhältnismäßig. Verzögerungen haben sich im bisherigen Verfahren nicht ergeben.
d) Der Ablauf der durch den Haftbefehl vom 28. August 2023 in Gang gesetzten Sechsmonatsfrist steht noch nicht bevor. Er wird erst am 20. Januar 2024 eintreten.
Für den Fristbeginn ist - wie ausgeführt - der Zeitpunkt maßgebend, zu dem sich die einen neuen Haftbefehl rechtfertigenden Ermittlungsergebnisse zu einem dringenden Tatverdacht verdichtet haben. Vorliegend hat der Ermittlungsführer des Zollkriminalamts unter dem 7. Juli 2023 einen Vermerk gefertigt, der auf zahlreiche Anlagen verweist und die neuen Erkenntnisse zusammenfassend aufzeigt (SA Bd. 3, Bl. 1 ff.). Während die technische Einordnung durch das BAFA, das jeden einzelnen hochwahrscheinlich gelieferten Gegenstand dahin überprüft hat, ob er der Russland-Embargo-Verordnung unterfällt (vgl. zu diesem Erfordernis etwa BGH, Beschluss vom 9. Dezember 2014 - 3 StR 62/14, juris Rn. 14 f.), bis dahin weitgehend abgeschlossen war, dauerte die Übersetzung und Auswertung der am 8. März 2023 sichergestellten Beweismittel noch an. Unter dem 19. Juli 2023 hat das Zollkriminalamt ausstehende Übersetzungen nachgeliefert (SA Bd. 3, Bl. 47). In der Zusammenschau mit den bis dahin zu den „Altfällen“ geführten Ermittlungen haben die neuen Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt den dringenden Tatverdacht hinsichtlich der 13 neuen verbotenen Ausfuhren getragen. Danach hat die Sechsmonatsfrist am Folgetag, dem 20. Juli 2023, zu laufen begonnen. Nachvollziehbar hat sich der Generalbundesanwalt an diesem Tag dazu in der Lage gesehen, beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs den Erlass des neuen Haftbefehls zu beantragen.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1323
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede