HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Oktober 2025
26. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Vorbereitungszeit des Plädoyers

Anmerkung zu BGH HRRS 2024 Nr. 743

Von RA/FAStr Dr. Momme Buchholz, Kiel[*]

I.

Die Entscheidung des 6. Strafsenats bestätigt grundsätzlich die bisherige Rechtsprechung, insbesondere den Beschluss des 3. Strafsenats vom 24. Januar 2023 (BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271). Sie zeigt darüber hinaus aber interessante Aspekte auf: welche Umstände können bei der Bemessung der Länge der Vorbereitungszeit auf die Schlussvorträge eine Rolle spielen? Zudem unterscheidet sie sich von vorangegangenen Entscheidungen sachverhaltlich dadurch, dass hier am letzten der anberaumten Verhandlungstage ein Schlussvortrag zu halten war. In älteren Entscheidungen spielt nämlich das Element der Überraschung, schon einen Schlussvortrag halten zu sollen (wie etwa beim BGH 5 StR 120/88 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 18) oder inwieweit in Folge von Äußerungen seitens des Gerichts mit einem späteren Zeitpunkt für die Schlussvorträge zu rechnen war (BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 11), eine größere Rolle. Bei dem der aktuellen Entscheidung zugrunde liegenden Prozesshergang entsteht hingegen nicht der Anschein, der Schlussvortrag solle erst später erfolgen. Die Schlussvorträge sollten vielmehr am dritten von drei anberaumten Prozesstagen stattfinden.

II.

Der 6. Strafsenat betont in der vorliegenden Entscheidung, wie andere Senate in der Vergangenheit (u.a. BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 8), die überragende Bedeutung des § 258 I StPO als Ausprägung der Garantie auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) und appelliert an die Pflicht der Gerichte zur Schaffung angemessener Voraussetzungen dafür, dass der Angeklagte von diesem Recht in sachdienlicher Weise Gebrauch machen kann (Rdnr. 7).

Im Einklang mit dem 3. Strafsenat lehnt der 6. Senat bei der im pflichtgemäßen Ermessen liegende Bestimmung der zur Vorbereitung eines Schlussvortrags erforderlichen Zeit, eine abstrakte Bewertung ab und stellt vielmehr auf die Besonderheiten des Einzelfalls ab (BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 9; so auch L/R/Esser 28. Aufl. 2024 Art. 6 EMRK Rn. 887). Der Senat gibt hierbei lediglich die Formel an, dass "je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie nach dem konkreten Prozessverlauf" eine angemessene Frist zur Vorbereitung der Schlussvorträge einzuräumen sei (Rdnr. 8; BGH 3 StR 80/ 22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 9).

III.

Unter Heranziehung älterer Entscheidungen ließen sich bisher folgende Gesichtspunkte erkennen, die im Einzelfall zu berücksichtigen sind:

Die Anzahl der Prozesstage. In älteren Entscheidungen stellt sowohl der 3. als auch der 2. Strafsenat auf die Gesamtzahl der Prozesstage ab (BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 10; BGH 2 StR 150/05 Rdnr. 4): Grundsätzlich lässt sich sagen, je mehr Prozesstage, desto längere Zeit ist für die Vorbereitung von Schlussvorträgen erforderlich.

Die Gesamtdauer des Verfahrens . Sollte sich das Verfahren über einen längeren Zeitraum laufen – in dem vom 5. Strafsenat entschiedenen Fall, waren es 5 Jahre (BGH 5 StR 120/88 Rdnr. 14) – kann nicht erwartet werden, dass die Verfahrensbeteiligten jederzeit bereit sind, einen Schlussvortrag zu halten.

Die Zeit zwischen den Prozesstagen . Insbesondere bei einer kurz bemessenen Zeit zwischen den Prozesstagen kann den Verfahrensbeteiligten nicht zugemutet werden, einen Schlussvortrag vorbereitet zu haben, der in sachdienlicher Weise auf sämtliche neu aufgeworfene Sach- und Rechtsfragen eingeht (BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 10).

Der 2. Strafsenat betont zudem in einer Entscheidung die Relevanz der Anzahl der gehörten Zeugen und/ oder Sachverständigen (BGH 2 StR 150/05 Rdnr. 4). Auch wenn an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf sonstige Beweismittel eingegangen wird, ergibt sich nicht, warum der 2. Strafsenat an dieser Stelle Zeugen und Sachenverständigen einen anderen Stellenwert beimessen sollte als anderen Beweismitteln. Es kann keinen Unterscheid machen, ob in einem Verfahren viele Zeugen gehört wurde oder

beispielsweise umfassende Inaugenscheinnahmen stattgefunden haben und/oder viele umfangreiche Urkunden verlesen wurden. Entscheidend scheint somit lediglich der Umfang der Beweisaufnahme in ihrer Gesamtheit zu sein. Auch hier gilt, je umfangreicher die Beweisaufnahme war, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Verfahrensbeteiligten in der Lage sind, zu jedem Zeitpunkt ein Schlussplädoyer zu halten, welches sämtliche beigebrachten Beweismittel berücksichtigt. Die Vorbereitungszeit auf die Schlussvorträge ist daher daran anzupassen.

Neben diese bereits bekannten Abwägungskriterien treten durch die neuerliche Entscheidung folgende Umstände in den Vordergrund (hierzu Näheres unter V.):

Der Zeitpunkt des (in der Ladungsverfügung konkret geplanten) Schlusses der Beweisaufnahme.

Ein erst im Verfahren ergangener Hinweis auf eine mögliche Verurteilung aufgrund eines anderen als dem in der Landungsverfügung angegebenen Strafgesetzes. Hierbei sind insbesondere auch der Zeitpunkt des Hinweises und die Schwere des neuen Vorwurfs relevant.

Die Verhaftung des Angeklagten und ihr Zeitpunkt.

IV.

Den Kriterien, die zu einer Verlängerung der Vorbereitungszeit führen können, stehen jedoch die Umstände entgegen, die dazu führen, dass die Verfahrensbeteiligten damit rechnen mussten, zu einem bestimmten Zeitpunkt ihr Schlussplädoyer halten zu müssen.

Als solcher Umstand ist zunächst die ursprüngliche Verfahrensterminierung zu nennen. Wie sich aus der vorliegenden Entscheidung ergibt, ist diese aber selbstverständlich kein Grund, der stets die Verweigerung einer zusätzlichen Vorbereitungszeit zu begründen vermag.

Dem steht grundsätzlich eine im Verfahren erfolgte Ankündigung auf die bevorstehende Schließung der Beweisaufnahme durch das Gericht gleich (Rdnr. 8; BGH 3 StR 80/ 22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 9; BGH 5 StR 120/88 Rdnr. 14, 17). Diese muss jedoch mit einer solchen Vorlaufzeit ergehen, dass die Verfahrensbeteiligten in der Lage sind, ihren Schlussvortrag bis zu diesem Zeitpunkt im angemessenen Maße vorzubereiten. Auch beim Fehlen einer ausdrücklichen Ankündigung kann für die Verfahrensbeteiligte aus dem Gang des Verfahrens selbst oder aus sonstigen Gründen erkennbar sein, dass die Beweisaufnahme zeitnah geschlossen werden wird. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, vorzeitig mit den Vorbereitungen für ihre Schlussvorträge zu beginnen (Rdnr. 8; BGH 3 StR 80/22 = HRRS 2023 Nr. 271, Rdnr. 9; BGH 5 StR 120/ 88 Rdnr. 18).

V.

Zunächst stellt der 6. Strafsenat auf den Zeitpunkt der (letzten) Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen ab. Im konkreten Fall wurden am letzten Verhandlungstag entgegen der ursprünglichen Ladungsverfügung noch mehrere Zeugen und Sachverständige gehört. Hieraus ergibt sich für den 6. Strafsenat, dass das Gericht von den Verfahrensbeteiligten nicht bereits aufgrund der ursprünglichen Terminierung erwarten durfte, "unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme den Verfahrensstoff sachgerecht aufbereitet zu haben" (Rdnr. 10).

Auch wenn der Beschluss des 6. Strafsenats für sich genommen nur Aussagen über die Relevanz von Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten trifft, lassen sich die dort enthaltenden Grundsätze zwanglos auf sämtliche Beweismittel übertragen. So kann es keinen Unterschied machen, ob am letzten Verhandlungstag neue Zeugen und Sachverständige vernommen werden oder eine umfangreiche Inaugenscheinnahme stattfindet und neue Urkunden verlesen werden. Es scheint somit generell der Zeitpunkt des (in der Ladungsverfügung konkret geplanten) Schlusses der Beweisaufnahme relevant zu sein.

Neben diesem ergibt sich aus der Entscheidung des 6. Strafsenats jedoch ein weiteres Element, welches für die Länge einer angemessenen Vorbereitungszeit relevant zu sein scheint. So lässt der 6. Strafsenat nicht allein die Beweiserhebung am letzten Verhandlungstag als entscheidungsrelevantes Kriterium stehen, sondern kombiniert dieses mit dem Abweichen von der ursprünglichen Terminierung für die Beweisaufnahme (Rdnr. 10). So stellt er heraus, dass sich die Beweisaufnahme entgegen der Ladungsverfügung bis zum letzten Prozesstag hingezogen hat.

Da der Senat schon vor Berücksichtigung der hohen Relevanz der Aussage des Zeugen B. für das Vorliegen eines Mordmotivs (Rdnr. 11) davon spricht, dass das Gericht nicht fordern durfte, unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme die Schlussvorträge zu halten (Rdnr. 10), scheint er nicht für erforderlich zu halten, dass das einzelne Beweismittel für die Gerichtsentscheidung von überragendem Gewicht ist. Es reicht somit aus, dass dieses von irgendeiner Relevanz für das Urteil sein könnte.

Zudem geht der 6. Strafsenat auf den erst im Verfahren ergangenen Hinweis auf eine mögliche Verurteilung aufgrund einer nicht in der Anklageschrift genannten Strafnorm ein. Ob der 6. Strafsenat der Ansicht ist, dass jeder neue Tatvorwurf eine verlängerte Vorbereitungszeit auf den Schlussvortrag erforderlich macht, lässt sich jedoch nicht aus der Entscheidung ableiten. So hebt der Senat insbesondere die gravierende Verschärfung des Tatvorwurfs hervor (Rdnr. 10). Er geht zudem darauf ein, dass der Hinweis am Ende des zweiten von drei Verhandlungstagen erfolgte (Rdnr. 10). Es ist somit naheliegend, dass die Schwere des Vorwurfs, auf welchen nachträglich Hingewiesen wurde und der Zeitpunkt dieses Hinweises besonders bei der Bestimmung der Vorbereitungszeit zu berücksichtigen sind: Je schwerer der Vorwurf und je später der Hinweis, desto länger die Vorbereitungszeit. Wenn beispielsweise auf eine mögliche Verurteilung aufgrund der Verletzung einer schwer bestraften Norm bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Verfahren hingewiesen wird, kann auch die Zeit zwischen den Verhandlungstagen zur angemessenen Einbeziehung des neuerlichen Vorwurfs genutzt werden. Erfolg der Hinweis, wie in dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt jedoch erst am 12. Juli, wenn am 13. Juli schon der letzte Sitzungstag ist, besteht eine solche Möglichkeit nicht. Andererseits

scheint es einer solchen Möglichkeit zumindest nur in geringerem Maße zu bedürfen, wenn die durch den Hinweis des Gerichts als urteilsrelevant in Betracht kommende Norm weniger schwer bestraft wird.

Ganz am Rande erwähnt die Entscheidung die Verhaftung des Angeklagten im Sitzungssaal (Rdnr. 10). Diese kann gerade dann von Relevanz sein, wenn wie im vorliegenden Fall, durch sie der ggf. für die Vorbereitung des Schlussvortrags erforderliche Austausch zwischen Verteidiger und Angeklagtem erschwert werden könnte. Es lässt sich somit wieder ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Relevanz der Verhaftung für die Dauer der zusätzlich erforderlichen Vorbereitungszeit auf den Schlussvortrag und der Zeit zwischen den einzelnen Sitzungstagen erkennen. Wenn, wie im vorliegenden Fall ein Austausch zwischen Verteidiger und Angeklagtem bis zum Morgen durch die Verhaftung im Saal zum Ende des Sitzungstages erheblich erschwert ist, ist eine verlängerte Vorbereitungszeit auf das Schlussplädoyer zu gewähren. Liegt zwischen dem vorletzten Sitzungstag, in dem der Angeklagte verhaftet wurde und dem letzten jedoch ein längerer Zeitraum, kann eine verlängerte Vorbereitungszeit nach dem Schluss der Beweisaufnahme durch die dennoch bestehende Möglichkeit des vorzeitigen Austausches zwischen Verteidiger und Angeklagtem ggf. entbehrlich sein.

VI.

Abschließend ist noch der Frage nachzugehen, wie die Verteidigung zu reagieren hat, wenn sie zum Plädoyer aufgefordert wird, diese sich aber ungenügend vorbereitet sieht.

Der 2. Strafsenat des BGH hat mit Beschluss vom 11. Mai 2005 zum Az. 2 StR 150/05 folgendes angemerkt, wobei dies nicht entscheidungserheblich gewesen ist:

"Wenn ein Verteidiger sich nicht in der Lage sieht, nach einer solch kurzen Vorbereitungszeit ein der Sache angemessenes Plädoyer zu halten, entspricht es allerdings seiner Aufgabe und liegt in seiner Verantwortung, dies dem Gericht gegenüber zu erkennen zu geben und um eine weitere Unterbrechung der Hauptverhandlung, ggf. bis zum nächsten Verhandlungstag, nachzusuchen. Hält der Verteidiger hingegen[…]sein Plädoyer, ohne zu erkennen zu geben, dass die Vorbereitungszeit nicht gereicht hat, ist davon auszugehen, dass er tatsächlich in der Lage war, sich genügend auf sein Plädoyer vorzubereiten."

Es ist demnach ein Unterbrechungsantrag zu stellen oder der sog. Zwischenrechtsbehelf nach § 238 Abs. 2 StPO zu erheben. Es gehört schließlich zur Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden nach § 238 Abs. 1 StPO, die Beweisaufnahme zu schließen (MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl. 2024, StPO § 238 Rn. 6; BeckOK StPO/Gorf, 55. Ed. 1.1.2025, StPO § 238 Rn. 5), wonach sodann die Schlussvorträge zu halten sind. Die Aufforderung zum Halten des Schlussvortrags kann daher entsprechend beanstandet werden. Das Ausüben einer dieser Handlungsoptionen ist mithin ausreichend, um den Verstoß gegen § 258 StPO revisibel zu machen.



[*] Der Autor ist Fachanwalt für Strafrecht bei Gubitz und Partner in Kiel.