HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2025
26. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

238. BVerfG 2 BvR 5/25 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2025 (OLG Stuttgart)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Auslieferungshaft (Auslieferung nach Italien zum Zwecke der Strafverfolgung; keine unionsrechtliche Determiniertheit der Auslieferungshaft aufgrund eines Europäischen Haftbefehls; Spannungsverhältnis zwischen Freiheitsgrundrecht und Interesse an einem funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr; Begründungstiefe von Haftentscheidungen; Fluchtgefahr; keine Herleitung allein aus der Straferwartung; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Erfordernis einer expliziten Abwägung im Einzelfall; Außervollzugsetzung des Haftbefehls als milderes Mittel).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 104 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; Art. 12 RbEuHb; § 10 Abs. 2 IRG; § 15 Abs. 1 IRG; § 25 IRG; § 83a Abs. 1 IRG

1. Ein Beschluss, mit dem das Oberlandesgericht die Fortdauer der Auslieferungshaft anordnet, genügt im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen, wenn es an einer expliziten Abwägungsentscheidung fehlt, die die Besonderheiten des Einzelfalls – wie etwa die Art, den Umfang, die Stetigkeit und die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im ersuchten Staat sowie seine sozialen, familiären, persönlichen und beruflichen Bindungen – berücksichtigt.

2. Das Auslieferungsverfahren auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist vollständig unionsrechtlich determiniert, so dass sich die verfassungsrechtliche Prüfung grundsätzlich auf die Wahrung der Verfassungsidentität beschränkt. Dies gilt jedoch nicht für die Frage der Auslieferungshaft, die der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ausdrücklich dem nationalen Recht unterstellt und die daher primär am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes zu prüfen ist.

3. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft ist – ebenso wie bei der Untersuchungshaft – das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege sowie dem Interesse an einem funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr zu beachten.

4. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare aktuelle Ausführungen zum Fortbestehen der rechtlichen Voraussetzungen der Haft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit – einschließlich der Möglichkeit einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls als milderem Mittel.

5. Allein eine hohe Straferwartung im ersuchenden Staat vermag auch bei der Auslieferungshaft eine Fluchtgefahr nicht zu belegen, sondern kann lediglich Ausgangspunkt der vorzunehmenden intensiven Einzelfallprüfung sein.


Entscheidung

245. BVerfG 2 BvR 1103/24 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 24. Januar 2025 (Kammergericht)

Auslieferung nach Ungarn zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Unionsgrundrechte als vorrangiger Prüfungsmaßstab bei unionsrechtlich vollständig determinierten Rechtsfragen; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Aufklärung der konkreten Haftumstände; Gefahr der Diskriminierung einer sich als non-binär identifizierenden Person im ungarischen Justizvollzug; grundsätzliches Vertrauen gegenüber Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsschutz; Erschütterung des Vertrauens im Einzelfall; keine Überstellung bei „außergewöhnlichen Umständen“; Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung; gerichtliche Aufklärungspflicht; zweistufiges Prüfprogramm; Belastbarkeit von Zusicherungen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (fortbestehendes Rechtsschutzinteresse nach Vollzug der Überstellung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 4 GRCh

1. Eine Entscheidung, mit der eine Auslieferung nach Ungarn zum Zwecke der Strafverfolgung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt wird, verletzt das unionsgrundrechtliche Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht sich mit allgemeinen Verweisen der ungarischen Behörden auf die Rechtslage und auf Besuchsmöglichkeiten von Konsularbeamten zufriedengibt und die konkret zu erwartenden Haftumstände nicht weiter aufklärt, obwohl dies nach dem substantiierten Vortrag des Verfolgten und insbesondere den in Bezug genommenen aktuellen Berichten von Nichtregierungsorganisationen und ehemals in ungarischen Justizvollzugsanstalten Inhaftierten geboten erscheint (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 28. Juni 2024 – 2 BvQ 49/24 – [= HRRS 2024 Nr. 1096]).

2. Die Frage, ob der Schutz einer sich als non-binär identifizierenden Person im ungarischen Justizvollzug im Einzelfall gewährleistet ist, kann nicht allein unter Verweis auf eine Zusicherung der ungarischen Behörden positiv beantwortet werden, die auf das in der ungarischen Verfassung und im Ethikkodex für den Strafvollzug enthaltene Diskriminierungsverbot sowie auf ein System zur Vermeidung von Risiken für Gefangene verweist, wenn sich aus dem aktuellen Bericht einer Menschenrechtsorganisation ergibt, dass trans- und intergeschlechtliche Insassen in ungarischen Justizvollzugsanstalten körperlichen Belästigungen durch Mitgefangene oder Bedienstete ausgesetzt sein können.

3. Das Verfahren der Überstellung im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl ist vollständig unionsrechtlich determiniert, so dass der Beschwerdegegenstand grundsätzlich am Maßstab der Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta zu messen ist.

4. Bei einem Überstellungsersuchen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ist dem ersuchenden Mitgliedstaat im Hinblick auf die Einhaltung des Unionsrechts einschließlich der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Allerdings können „außergewöhnliche Umstände“ einer Überstellung entgegenstehen, was das zuständige Fachgericht in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären hat.

5. Im ersten, die allgemeine Haftsituation betreffenden Schritt ist zu prüfen, ob sich – etwa aus Entscheidungen internationaler Gerichte oder Berichten des Europarats – konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat ergeben, die eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen begründen. In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Schritt ist zu fragen, ob bei einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die zu überstellende Person aufgrund der Bedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

6. Das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht muss den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die konkret zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Kann die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht

nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.

7. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung für zulässig erklärt worden ist, besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch nach Überstellung des Betroffenen jedenfalls dann fort, wenn dieser im Zielstaat inhaftiert ist und sich die angegriffene Entscheidung aufgrund der konkreten zeitlichen Abläufe des Überstellungsverfahrens in einer Zeitspanne erledigt hat, in welcher eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu erlangen war.


Entscheidung

243. BVerfG 2 BvR 920/24 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 22. Januar 2025 (OLG Nürnberg / LG Nürnberg-Fürth)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die im Exequaturverfahren für zulässig erklärte Vollstreckung einer in Ungarn verhängten Freiheitsstrafe (Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im unionsrechtlichen Rechtshilfeverkehr; Sicherstellung des Schutzes der Menschenwürde; Beachtung des Schuldgrundsatzes; unterbliebene Überprüfung der Schuldfähigkeit); Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den EuGH (Willkürmaßstab; Verfassungsverstoß nur bei offensichtlich unhaltbarer Handhabung der Vorlagepflicht; Fallgruppen: grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht, bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft, unvertretbare Überschreitung des Beurteilungsspielraums bei Unvollständigkeit der Rechtsprechung); Unionsgrundrechte als alleiniger verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab bei unionsrechtlich vollständig determinierter Materie; keine Entscheidung über teilweise oder vollständige Determiniertheit von Exequaturentscheidungen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 9 Abs. 1 Buchst. g) Rahmenbeschluss „Freiheitsstrafen“; § 84 Abs. 2 Nr. 1 IRG; § 84b Abs. 1 Nr. 1 IRG; § 20 StGB

1. Die im Exequaturverfahren für zulässig erklärte Vollstreckung einer in Ungarn verhängten mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen Menschenschmuggels ist unter dem Gesichtspunkt des in der Menschenwürdegarantie verankerten Schuldprinzips nicht zu beanstanden, wenn das Vollstreckungsgericht auf der Grundlage der in Übereinstimmung mit dem Rahmenbeschluss „Freiheitsstrafen“ als abschließend ausgelegten Regelung des § 84b Abs. 1 Nr. 1 IRG zu dem Ergebnis gelangt ist, dass es nur eine mangelnde Schuldfähigkeit im Sinne des § 19 StGB, nicht hingegen nach den §§ 20, 21 StGB zu überprüfen habe. Dies gilt umso mehr, wenn der Verurteilte bereits nicht hinreichend darlegt, aufgrund welcher spezifischen Anhaltspunkte die Gerichte der Frage hätten nachgehen müssen, dass er wegen der ihm zwischenzeitlich diagnostizierten schweren depressiven Episode bereits zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sein könnte (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 6. August 2024 [= HRRS 2024 Nr. 1099]).

2. Im unionsrechtlichen Rechtshilfeverkehr gilt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Demgemäß ist bei der Vollstreckung von Verurteilungen aus dem unionalen Ausland davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des Menschenrechtsschutzes eingehalten wurden. Ausnahmen sind nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt.

3. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens entbindet die deutschen Gerichte nicht von der Verpflichtung, die Einhaltung der Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG sicherzustellen. Er kann daher nur so lange Geltung beanspruchen, wie er nicht durch entgegenstehende Tatsachen erschüttert wird. Dies ist der Fall, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die unverzichtbaren Anforderungen an den Schutz der Menschenwürde nicht eingehalten wurden. Davon kann auszugehen sein, wenn bei einer Verurteilung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union der Schuldgrundsatz nicht hinreichend beachtet worden ist.

4. Ein Rechtssuchender kann seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass ein Gericht eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union unterlässt. Das Bundesverfassungsgericht überprüft jedoch nur, ob das Fachgericht die unionsrechtliche Vorlagepflicht offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat. Dies ist der Fall, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht trotz Zweifeln an der Rechtsauslegung eine Vorlage nicht in Betracht zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), wenn es ohne Vorlagebereitschaft bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweicht oder wenn es im Fall der Unvollständigkeit der Rechtsprechung den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet.

5. Ob Exequaturentscheidungen deutscher Gerichte, die aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen im unionalen Ausland ergehen und denen daher europäische Rechtsakte insbesondere in Gestalt des Rahmenbeschlusses „Freiheitsstrafen“ zugrundeliegen, vollständig unionsrechtlich determiniert und deshalb nicht anhand deutscher Grundrechte, sondern allein am Maßstab der Unionsgrundrechte zu überprüfen sind, kann im Einzelfall dahinstehen, wenn die Möglichkeit einer Rechtsverletzung weder in Bezug auf die Unionsgrundrechte noch mit Blick auf grundgesetzliche Gewährleistungen substantiiert dargelegt ist.


Entscheidung

239. BVerfG 2 BvR 24/25, 2 BvR 69/25 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 5. Februar 2025 (OLG Dresden)

Fortdauer der Untersuchungshaft über ein Jahr (Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; verfassungsrechtlich gebotene Verhandlungsdichte und Verhandlungsintensität; durchschnittlich mehr als ein Hauptverhandlungstag pro Woche; keine Rechtfertigung von Verfahrensverzögerungen allein durch die Schwere der Tat; Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen; Verhinde-

rung des Verteidigers; Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung; keine Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch einstweilige Anordnung des BVerfG über das Verfassungsbeschwerdeverfahren hinaus).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 104 GG; Art. 6 Abs. 2 EMRK; § 32 BVerfGG; § 112 StPO

1. Den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhandlungsdichte und -intensität in Haftsachen ist nicht Genüge getan, wenn die Strafkammer weit weniger als an durchschnittlich einem Hauptverhandlungstag in der Woche verhandelt und dabei zudem an zahlreichen Sitzungstagen das Verfahren nur kurze Zeit verhandelt und nicht entscheidend fördert.

2. Die Notwendigkeit umfangreicher Nachermittlungen rechtfertigt die Haftfortdauer jedenfalls dann nicht mehr, wenn die Strafkammer sich anschließend nicht um eine Kompensation der Verzögerung bemüht, sondern lediglich vage auf eine von der Verteidigung benötigte Vorbereitungszeit bis zu der durch die Ermittlungsergebnisse bedingten neuerlichen Vernehmung von Zeugen sowie auf terminliche Verhinderungen der Verfahrensbeteiligten verweist, ohne dass erkennbar wird, dass die damit verbundenen weiteren beträchtlichen Unterbrechungszeiten durch zwingende und nicht der Justiz anzulastende Gründe veranlasst waren.

3. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung sind vor allem die Komplexität der Rechtssache, die Zahl der Beteiligten und das Verhalten der Verteidigung von Bedeutung. Zudem ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

4. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.

5. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

6. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

7. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

8. Auch wenn das Recht des Angeklagten, sich von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen, Verfassungsrang hat, kann die Terminslage des Verteidigers allenfalls eine unerhebliche Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Die Strafkammer hat gegebenenfalls die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen.

9. Die vorläufige Außervollzugsetzung eines Haftbefehls durch das Bundesverfassungsgericht über den Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Hauptsacheentscheidung hinaus bis zu einer neuen Entscheidung des Strafgerichts kommt nicht in Betracht; denn im Rahmen einer einstweiligen Anordnung können grundsätzlich keine Rechtsfolgen festgesetzt werden, die über das in der verfassungsgerichtlichen Hauptsache Erreichbare hinausgehen.


Entscheidung

246. BVerfG 2 BvR 1290/24 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 31. Januar 2025 (Hanseatisches OLG Hamburg / LG Hamburg)

Suizidwunsch eines Strafgefangenen (Verabreichung eines lebensbeendenden Medikaments durch einen Arzt; Recht auf selbstbestimmtes Sterben als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts; kollidierende staatliche Pflicht zum Schutz des Lebens und der Autonomie Suizidwilliger; freier Wille zum Suizidentschluss; besondere Bedeutung der Suizidprävention im Strafvollzug; staatliche Aufklärungspflichten; Erfordernis einer Mitwirkung des Suizidwilligen; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; unterbliebene Darlegung der Umstände des erstrebten Suizids im fachgerichtlichen Verfahren).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 92 BVerfGG

1. Die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen, der die Verabreichung eines lebensbeendenden Medikaments mit Unterstützung eines anstaltsfremden Arztes begehrt, genügt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität, wenn der Gefangene im fachgerichtlichen Verfahren der Aufforderung, die konkreten Umstände darzulegen, unter denen der begehrte Suizid stattfinden soll, trotz mehrfacher Aufforderung nicht nachgekommen ist.

2. Ein Strafgefangener legt eine Verletzung seines Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben nicht hinreichend substantiiert dar, wenn er sich lediglich pauschal auf seine als perspektivlos empfundene Haftsituation und sein hohes Alter beruft, ohne sich mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben und der diese zugrunde legenden Argumentation der Fachgerichte auseinanderzusetzen, wonach der Staat dem Sterbewunsch eines Gefangenen nicht ohne jede Prüfung zu entsprechen hat, sondern mit Blick auf seine Pflicht zum Lebensschutz gehalten ist, die Umstände des

Sterbewunsches unter Mitwirkung des Suizidwilligen im Einzelnen aufzuklären.

3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches das Recht auf Selbsttötung einschließt. Dazu gehört auch die Möglichkeit, bei Dritten Unterstützung zu suchen, und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

4. Allerdings tritt die Achtung vor dem auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. Insoweit ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden – wenn nicht sogar geboten –, dass der Staat Vorkehrungen zum Autonomie- und Lebensschutz trifft, um sicherzustellen, dass Suizidentscheidungen auf einem freien Willen beruhen.

5. Ein Suizidentschluss geht dann auf einen autonom gebildeten, freien Willen zurück, wenn der Einzelne seine Entscheidung auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider trifft. Dies setzt zunächst die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung zu bilden und nach dieser Einsicht zu handeln. Des Weiteren müssen dem Betroffenen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte tatsächlich bekannt sein. Voraussetzung ist zudem, dass der Betroffene keinen unzulässigen Einflussnahmen oder Druck ausgesetzt ist. Schließlich muss der Entschluss von einer gewissen Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit getragen sein.

6. Angesichts der im Strafvollzug in besonderem Maße bestehenden Gefahr unfreier Suizidentschlüsse und der vergleichsweise hohen Suizidprävalenz kommt der staatlichen Lebensschutzpflicht unter dem Gesichtspunkt der Suizidprävention hier besondere Bedeutung zu. Gleichwohl dürfte es das Recht auf selbstbestimmtes Sterben gebieten, dass der Staat freiverantwortlich gebildete Sterbewünsche Strafgefangener achtet. Damit dürfte es nicht vereinbar sein, wenn der Strafvollzug dem Einzelnen für einen ernsthaften, dauerhaften und freiverantwortlichen Suizidwunsch überhaupt keinen Raum gewährt. Insoweit treffen die Strafvollzugsbehörden und Gerichte im Einzelfall Aufklärungspflichten hinsichtlich des Suizidverlangens. Auch darf die begehrte Ermöglichung von Suizidhandlungen nicht unter pauschaler Berufung auf die Gewissensfreiheit der Anstaltsbediensteten abgelehnt werden, da sich die Frage stellt, ob diese sich als grundrechtsverpflichtete Amtsträger Strafgefangenen gegenüber überhaupt auf eine Gewissenentscheidung berufen können.


Entscheidung

244. BVerfG 2 BvR 1100/24 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 4. November 2024 (OLG Koblenz / LG Mainz / AG Mainz)

Verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer Verurteilung wegen Erschleichens von Leistungen (Gesetzesbindung der Gerichte ungeachtet rechtspolitischer Bestrebungen zur Entkriminalisierung des „Schwarzfahrens“; Rechtswegerschöpfung und Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch; Schuldgrundsatz; kurze Freiheitsstrafe und Übermaßverbot bei Bagatellkriminalität).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 47 Abs. 1 StGB; § 265a Abs. 1 StGB

1. Ein wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Bewährungsstrafe Verurteilter zeigt einen Verfassungsverstoß nicht auf, wenn er lediglich geltend macht, jegliche Bestrafung sei in seinem Fall unangemessen, ohne zu berücksichtigen, dass die Strafvorschrift des § 265a Abs. 1 StGB als gebundene Rechtsfolge nur die Geld- oder Freiheitsstrafe vorsieht. Rechtspolitische Bestrebungen, das „Schwarzfahren“ zu entkriminalisieren, berühren die Gültigkeit der Strafvorschrift und die Bindung der Gerichte hieran nicht.

2. An der verfassungsrechtlichen Überprüfung einer Strafvorschrift ist das Bundesverfassungsgericht gehindert, wenn der Beschwerdeführer seine Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt und damit den Rechtsweg nicht erschöpft hat, weil weder dem Berufungs- noch dem Revisionsgericht die Prüfung eröffnet war, ob der Schuldspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zutreffend ist.

3. Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe begegnet unter dem Gesichtspunkt des Schuldgrundsatzes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn das Strafgericht darauf abgestellt hat, dass der vielfach einschlägig vorbestrafte Verurteilte wegen einer vergleichbaren Tat bereits eine Haftstrafe verbüßt hat und bei der Tatbegehung unter laufender einschlägiger Bewährung stand, und wenn in dem Urteil zum Ausdruck kommt, dass sich das Gericht der Problematik des Übermaßverbotes bewusst war und berücksichtigt hat, dass die Tat objektiv dem untersten Bereich der Bagatellkriminalität zuzuordnen ist.


Entscheidung

236. BVerfG 1 BvR 1496/24 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 29. Januar 2025 (LG Hamburg / AG Hamburg)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Durchsuchungsanordnung (Wohnungsgrundrecht; Verhältnismäßigkeit; Angemessenheit; schwacher Anfangsverdacht der Unterschlagung im Zusammenhang mit hochstreitiger familienrechtlicher Auseinandersetzung; Missverhältnis zwischen Grad der Vorwerfbarkeit und Schwere des Grundrechtseingriffs); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegung der Einhaltung der Monatsfrist bei fehlender Offensichtlichkeit; Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten der letztinstanzlichen strafgerichtlichen Entscheidung; Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerde gegen Art und Weise der Vollziehung einer Durchsuchung).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 35 Abs. 2 StPO; § 37 Abs. 2 StPO; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO; § 304 Abs. 1 StPO; § 246 StGB; § 247 StGB

1. Eine Durchsuchungsanordnung gegen den Vater eines von einem Sorgerechtsstreit betroffenen Kindes wegen des Vorwurfs der Unterschlagung einer beim Haushaltswechsel nicht zurückgegebenen Spielekonsole begegnet unter

dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Bedenken, weil sich der auf eine Anzeige der Kindesmutter gestützte Anfangsverdacht aufgrund der im Hintergrund stehenden hochstreitigen familienrechtlichen Auseinandersetzung nur als schwach darstellt und eine etwaige Vorwerfbarkeit im Missverhältnis zu der Schwere des durch die Durchsuchung verursachten Grundrechtseingriffs steht.

2. Die Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde erstrecken sich auch auf die Wahrung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG, soweit sich diese nicht ohne Weiteres aus den eingereichten Unterlagen ergibt. Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchungsanordnung muss dafür mitgeteilt werden, wann die für die Fristberechnung maßgebliche Instanzentscheidung sowohl dem Beschuldigten als auch der Verteidigung bekannt gemacht wurde; denn das einfache Prozessrecht sieht eine Bekanntgabe an beide vor, wobei die zeitlich frühere Bekanntgabe die Verfassungsbeschwerdefrist auslöst.

3. Wendet sich ein Beschuldigter mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Art und Weise der Vollziehung einer Durchsuchung, so hat er zur Erschöpfung des Rechtswegs zunächst analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu stellen und gegen diese gegebenenfalls Beschwerde zu erheben.


Entscheidung

237. BVerfG 1 BvR 1677/24 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 29. Januar 2025 (LG Hannover / AG Hannover)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine Durchsuchungsanordnung (Wohnungsgrundrecht; Verhältnismäßigkeit; Angemessenheit; schwacher Anfangsverdacht des Besitzes kinderpornographischer Inhalte; Chat-Frage eines 16-Jährigen an eine vorgeblich 13-Jährige nach Nacktbildern; Missverhältnis zwischen Auffindevermutung und Schwere des Grundrechtseingriffs); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Darlegung der Einhaltung der Monatsfrist bei fehlender Offensichtlichkeit; Vortrag zu allen Zugangszeitpunkten der letztinstanzlichen strafgerichtlichen Entscheidung).

Art. 13 Abs. 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; § 35 Abs. 2 StPO; § 37 Abs. 2 StPO; § 102 StPO; § 105 StPO; § 184b StGB

1. Eine Durchsuchungsanordnung gegen einen 16-Jährigen, der in einem Chat ein Interesse an Nacktbildern einer vorgeblich 13-Jährigen geäußert hatte, begegnet unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn die Gerichte allein aus der Frage an die Betroffene ein weitergehendes Interesse an kinderpornographischem Material und einen entsprechenden Auffindeverdacht herleiten.

2. Die Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde erstrecken sich auch auf die Wahrung der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG, soweit sich diese nicht ohne Weiteres aus den eingereichten Unterlagen ergibt. Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen eine strafprozessuale Zwangsmaßnahme wie eine Durchsuchungsanordnung muss dafür mitgeteilt werden, wann die für die Fristberechnung maßgebliche Instanzentscheidung sowohl dem Beschuldigten als auch der Verteidigung bekannt gemacht wurde; denn das einfache Prozessrecht sieht eine Bekanntgabe an beide vor, wobei die zeitlich frühere Bekanntgabe die Verfassungsbeschwerdefrist auslöst.


Entscheidung

240. BVerfG 2 BvR 106/25 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 31. Januar 2025 (OLG München)

Auslieferung an die Ukraine zur Strafverfolgung (Grundsatz des fairen Verfahrens; Zusicherung in Bezug auf die Durchführung des Strafverfahrens; Recht des Verfolgten auf persönliche Teilnahme an der Hauptverhandlung; physische Anwesenheit im Gerichtssaal; Möglichkeit einer Verhandlung mittels Videokonferenz gegen den Willen des Verfolgten).

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK

Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung kann den Verfolgten in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzen, wenn das Oberlandesgericht einen drohenden Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens mit der Erwägung verneint hat, dem Verfolgten stehe nach seiner Auslieferung in die Ukraine zum Zwecke der Strafverfolgung grundsätzlich das Recht zu, auf seinen Wunsch hin persönlich an der gegen ihn gerichteten Hauptverhandlung teilzunehmen, obwohl die ukrainischen Behörden auch mitgeteilt hatten, die dortigen strafprozessualen Regelungen sähen die Möglichkeit vor, die Gerichtsverhandlung aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen auch gegen den Willen des Betroffenen ohne dessen physische Anwesenheit im Gerichtssaal mittels einer Videokonferenz durchzuführen.


Entscheidung

241. BVerfG 2 BvR 131/25 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 25. Februar 2025 (Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main)

Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen eine staatsanwaltschaftliche Verfahrenseinstellung (Klageerzwingungsverfahren; Rechtswegerschöpfung; Erfordernis eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung; Möglichkeit der Beiordnung eines Notanwalts).

§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 172 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 StPO; § 78b ZPO

Ein Anzeigenerstatter, der vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen eine Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft keinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und damit den Rechtsweg nicht erschöpft hat, kann sich nicht darauf berufen, keinen vertretungsbereiten Rechtsanwalt gefunden zu haben, wenn nach ständiger oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung die Möglichkeit der Beiordnung eines Notanwalts besteht.


Entscheidung

242. BVerfG 2 BvR 689/24 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. November 2024 (Kammergericht / LG Berlin)

Vollzug der Sicherungsverwahrung (kein Anspruch auf Weiterführung einer Therapie bei externem Psychotherapeuten; Freiheitsgrundrecht; Resozialisierungsgebot; Behandlungsuntersuchung; Vollzugsplan; Behandlungs- und Betreuungsangebot; realistische Entlassungs-

perspektive; Individualisierungs- und Intensivierungsgebot; Motivierungsgebot; Vorrang standardisierter vor individuellen Therapieangeboten; Stufenkonzept; Einbeziehung externer Fachkräfte nur bei Erforderlichkeit; keine Feststellung der Ungeeignetheit von Standardtherapien bei Verweigerung der Mitwirkung durch den Untergebrachten).

Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 15 SVVollzG Bln

1. Die Verwerfung des Antrags eines Sicherungsverwahrten auf Weiterführung seiner Therapie bei einem externen Psychotherapeuten ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Strafvollstreckungskammer auf der Grundlage einer landesrechtlichen Norm, die das Einbeziehen externer Fachkräfte unter den Vorbehalt der Erforderlichkeit stellt, zu dem Ergebnis gelangt, es sei aufgrund der Verweigerungshaltung des Untergebrachten nicht festzustellen, dass die in dem erstellten Behandlungskonzept vorgesehenen internen Therapieangebote unzureichend seien.

2. Spätestens zu Beginn des Vollzugs der Sicherungsverwahrung hat unverzüglich eine umfassende, modernen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Behandlungsuntersuchung stattzufinden, bei der die für die Gefährlichkeit des Untergebrachten maßgeblichen Faktoren eingehend analysiert werden. Auf dieser Grundlage ist ein Vollzugsplan zu erstellen, aus dem sich detailliert ergibt, ob und gegebenenfalls mit welchen Maßnahmen vorhandene Risikofaktoren minimiert oder kompensiert werden können. Dies soll die Gefährlichkeit des Untergebrachten mindern, Fortschritte in Richtung einer Entlassung ermöglichen und dem Untergebrachten eine realistische Perspektive auf Wiedererlangung der Freiheit eröffnen. Der Vollzugsplan ist fortlaufend zu aktualisieren und der Entwicklung des Untergebrachten anzupassen.

3. Die plangemäß gebotenen Maßnahmen sind zügig und konsequent umzusetzen. Hierzu bedarf es einer individuellen und intensiven Betreuung des Untergebrachten durch ein multidisziplinäres Team qualifizierter Fachkräfte. Insbesondere im therapeutischen Bereich müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Erweisen sich standardisierte Therapiemethoden als nicht erfolgversprechend, muss ein individuell zugeschnittenes Therapieangebot entwickelt werden. Dabei muss – insbesondere mit zunehmender Vollzugsdauer – sichergestellt sein, dass mögliche Therapien nicht nur deshalb unterbleiben, weil sie im Hinblick auf Aufwand und Kosten über das standardisierte Angebot der Anstalten hinausgehen (Individualisierungs- und Intensivierungsgebot). Die Bereitschaft des Untergebrachten zur Mitwirkung an seiner Behandlung ist durch gezielte Motivationsarbeit zu wecken und zu fördern (Motivierungsgebot).

4. Ein individuell zugeschnittenes Therapieangebot muss nur entwickelt werden, wenn sich standardisierte Therapiemethoden als nicht erfolgversprechend erweisen (Stufenkonzept). Eine etwaige Ungeeignetheit der Standardtherapien kann jedoch regelmäßig erst dann festgestellt werden, wenn der Untergebrachte die internen Therapieangebote tatsächlich ernsthaft in Anspruch genommen hat.