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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2025
26. Jahrgang
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Von RA Dr. Friedrich Sebastian Fülscher, Kiel[*]
Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit gem. §§ 24 ff. StPO[1] spielt in der strafprozessualen Praxis eine nicht zu unterschätzende Rolle. So kann sowohl ein abgelehntes als auch ein erfolgreiches Ablehnungsgesuch den Ausgang eines Prozesses entscheidend beeinflussen.
Das Recht zur Ablehnung steht nach § 24 III StPO Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten – ggf. vertreten durch einen Rechtsanwalt[2] – zu. Die Ablehnung eines Richters kann jedoch nicht beliebig und jederzeit erfolgen, sondern muss rechtzeitig i.S.d. § 25 StPO beantragt werden. Im Falle einer verspäteten Ablehnung verwirft das Gericht den Antrag als unzulässig gem. § 26a I Nr. 1 StPO.
Der folgende Beitrag befasst sich mit der Rechtzeitigkeit der Anbringung von Ablehnungsgesuchen im Allgemeinen und im Besonderen mit der Frage nach der Rechtzeitigkeit staatsanwaltlicher Ablehnungsgesuche, für die nach der Rechtsprechung des BGH[3] besonders strenge Anforderungen gelten. Dabei wird insbesondere die Frage aufgeworfen, inwieweit sich die Staatsanwaltschaft die vor Anbringung des Ablehnungsgesuchs erlangte Kenntnis eines Staatsanwalts über den Ablehnungsgrund zurechnen lassen muss, ungeachtet dessen, ob die Kenntnisnahme dienstlich oder rein privat erfolgte.
Maßgebende Vorschrift für das rechtzeitige Anbringen des Ablehnungsgesuchs ist § 25 StPO.
Nach § 25 I 1 Var. 1 StPO ist die Ablehnung eines erkennenden Richters in erster Instanz bis zum Beginn der Vernehmung des ersten Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse zulässig. Diese Vernehmung findet gem. § 243 II 2 StPO zu Beginn der Hauptverhandlung statt.
Gemäß § 25 I 2 StPO ist das Ablehnungsgesuch unverzüglich – d.h. ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen[4] – anzubringen, wenn die Besetzung des Gerichts nach § 222a I 2 StPO schon vor Beginn der Hauptverhandlung mitgeteilt worden ist. Dabei ist indes der Zeitpunkt der Kenntnis von der Besetzung nicht mit dem Zeitpunkt der Kenntnis des Ablehnungsgrunds gleichzusetzen, sondern dem Ablehnungsberechtigten eine gewisse Frist zur Einholung von Erkundigungen nach Mitteilung der Besetzung etc. zu gewähren.[5] Die Bemessung dieser Frist bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls, i.d.R. wird sie – entsprechend § 222b I 1 StPO – mit einer Woche zu bemessen sein.[6]
Dem restriktiven Ansatz bei der Wahl des Zeitpunkts des Vorbringens ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber im Sinn hatte, dass das Gericht gegen einen seiner Richter gerichtete Ablehnungsgesuche – gleich, ob sie begründet sind oder nicht – bereits zu Beginn bzw. vor der Hauptverhandlung bescheidet. Auf diese Weise sollen Zweifel über die richterliche Unparteilichkeit bereits zu Anfang gänzlich ausgeräumt werden, sodass nach Möglichkeit kein – für den Schuldspruch relevanter – Verfahrensabschnitt unter Mitwirkung eines Richters verhandelt wird, der wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen ist.[7] Aus dieser Warte erklärt sich auch § 25 I 3 StPO, nach dem alle Ablehnungsgründe gleichzeitig vorzubringen sind; dies dient der Verfahrensbeschleunigung und Konzentration der Hauptverhandlung.[8]
Sollte eine Ablehnung zu Beginn bzw. davor gem. § 25 I StPO nicht möglich sein, ist eine solche nur unter den Voraussetzungen des § 25 II StPO – bis zum Ende des letzten Wortes des Angeklagten, vgl. § 25 II 2 StPO – zulässig.
Demnach ist die Ablehnung zulässig, wenn die Umstände, auf welche die Ablehnung gestützt wird, erst später eintreten oder dem zur Ablehnung Berechtigten erst später bekannt geworden sind und die Ablehnung unverzüglich, also ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung[9] erfolgt. An die Unverzüglichkeit ist ein strenger Maßstab anzulegen[10], allerdings ist dem Ablehnungsberechtigten stets eine gewisse Überlegungsfrist zuzubilligen.[11] Die Länge dieser Frist ist stets Frage des Einzelfalls, allerdings muss der Angeklagte ausreichende Möglichkeit haben, sich mit seinem Verteidiger zu beraten.[12] Darüber hinaus muss dem Antragsteller Zeit zur Abfassung des Ablehnungsgesuchs zugebilligt werden.[13]
Auch wenn § 25 II StPO den Ablehnungsberechtigten nach den in § 25 I StPO genannten Zeitpunkten Gelegenheiten zur Anbringung von Ablehnungsgesuchen bietet, ist durch das Merkmal der Unverzüglichkeit der Zeitraum der Anbringung erheblich eingeschränkt. Auch dies dient der Verfahrensbeschleunigung und der Konzentration der Hauptverhandlung.
An die Rechtzeitigkeit von Ablehnungsgesuchen der Staatsanwaltschaft sind nach Rechtsprechung des BGH besonders strenge Anforderungen zu stellen.[14]
So ist bereits das Anbringen eines Ablehnungsgesuchs mangels Unverzüglichkeit gem. § 25 II 1 Nr. 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, wenn im Falle mehrerer aufeinanderfolgender Hauptverhandlungstermine Gelegenheit bestand, das Gesuch dem Gericht am selben, spätestens zu Beginn des nächsten Verhandlungstages vorzulegen.[15] Dabei betont der BGH, dass jede nicht durch Sachlage begründete Verzögerung[16] die Unverzüglichkeit ausschließt.[17] Auch wenn die Hauptverhandlung erst mehrere Tage später fortgesetzt wird oder der darauffolgende Hauptverhandlungstermin ausfällt, ist darin kein vertretbarer Grund zu sehen, das Ablehnungsgesuch erst am Beginn des nächsten Hauptverhandlungstages vorzubringen.[18] In einem solchen Fall ist der Antrag erforderlichenfalls außerhalb der Verhandlung zu stellen.[19]
Auch rechtfertigt die Verpflichtung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, anderen Dienstgeschäften nachzugehen, nicht die Anbringung des Ablehnungsgesuchs mehr als einen Verhandlungstag später.[20] Derartige Dienstgeschäfte sind hinter der Anfertigung des Ablehnungsgesuchs zurückzustellen oder durch Vertreter wahrzunehmen.[21]
Fraglich ist allerdings, ob auch dann noch von einer Unverzüglichkeit der Anbringung des Ablehnungsgesuchs der Staatsanwaltschaft gesprochen werden kann, wenn der zuständige Sitzungsvertreter erst deutlich später von einem möglichen Befangenheitsgrund erfährt, dieser einem Staatsanwalt derselben – im Verfahren sachlich und örtlich zuständigen Behörde – aber bereits seit einiger Zeit bekannt war. Entscheidend ist in diesem Fall, ob eine Wissenszurechnung stattfindet, die das spätere Vorbringen des Sitzungsvertreters präkludiert und zu dessen Verwerfung als unzulässig gem. § 26a I Nr. 1 StPO führt.
Gegen eine derartige Kenntniszurechnung zumindest bei nicht-dienstlicher Kenntnisnahme vom Ablehnungsgrund könnte ein Vergleich mit der eingeschränkten Einschreitungspflicht eines Staatsanwalts bei der rein privaten Kenntnisnahme von einer Straftat sprechen.
So besteht eine Einschreitungspflicht nach der Rechtsprechung des BGH[22] bei nicht-dienstlicher Kenntnisnahme erst dann, wenn eine Straftat, die wie ein Dauerdelikt oder eine auf Wiederholung angelegte Tat während der Dienstausübung des Strafverfolgungsbeamten fortwirkt, darüber hinaus die Tat hinreichend schwer, nicht nur i.S.d. § 138 StGB[23], ist und zusätzlich ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung gegenüber den Privatbelangen des Beamten gegeben ist. Nur in diesem Fall besteht die Garantenpflicht des Beamten – die normalerweise nur während der Dienstausübung gegeben ist[24] – fort und verpflichtet ihn zum Handeln.[25]
Wenn also selbst die Einschreitungspflicht bei privater Kenntnisnahme vom Sachverhalt einer Straftat durch einen Staatsanwalt eingeschränkt ist, so könnte dies erst recht für die Kenntniszurechnung im Rahmen der Anbringung eines Ablehnungsgesuchs gelten. Denn auch beim fehlenden Einschreiten eines Staatsanwalts findet bei unterbliebener Mitteilung keine Wissenszurechnung bei der Behörde statt.
Darüber hinaus erfolgt auch im öffentlichen Recht eine Kenntniszurechnung innerhalb einer Behöre nur eingeschränkt. Da auch die Staatsanwaltschaft eine (Justiz-[26])Behörde[27] ist, könnten die vom BVerwG[28] aufgestellten Grundsätze auch auf eine Kenntniszurechnung innerhalb der Staatsanwaltschaft zu übertragen sein.
Nach § 48 IV 1 VwVfG ist eine Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts durch die Behörde nur innerhalb eines Jahres von dem Zeitpunkt an zulässig, in dem die Behörde Kenntnis von Tatsachen erhält, die die Rücknahme des Verwaltungsakts rechtfertigen.[29] Unter dem
Begriff Behörde i.S.d. § 48 IV 1 VwVfG ist nicht die Behörde zu verstehen, die in § 1 IV VwVfG legaldefiniert ist.[30] Die Behörde erhält nach ständiger Rechtsprechung Kenntnis, wenn der nach der innerbehördlichen Geschäftsverteilung zuständige oder sonst ein zur Rücknahme berechtigter Amtswalter positive[31] Kenntnis von den die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen erlangt.[32]
Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses ist für die Einhaltung der Unverzüglichkeit des Anbringens i.S.d. § 25 II 1 Nr. 2 StPO allein die Kenntnis des innerbehördlich zuständigen Staatsanwalts maßgeblich. Die Kenntnis eines anderen Staatsanwalts, der zwar auch Teil der Behörde ist, ist dabei unbeachtlich, da dieser keinesfalls zur Anbringung des Ablehnungsgesuchs berechtigt ist.
Ein Vergleich mit dem Privatrecht ergibt, dass die Kenntnis eines Organvertreters einer juristischen Person dieser nicht ausnahmslos[33], sondern nur unter gewissen Voraussetzungen zugerechnet wird. So hat zum Zwecke eines effektiven Verkehrsschutzes[34] die juristische Person die Pflicht, ihre interne Kommunikation ordnungsgemäß zu organisieren.[35] Daher muss sich die juristische Person jedenfalls das Wissen gem. § 31 BGB[36] zurechnen lassen, bei dem es sich typischerweise um aktenmäßig festgehaltenes Wissen handelt.[37] Dabei ist unerheblich, ob der Organvertreter sein Wissen unterdrückt hat oder er selbst am Abschluss des Rechtsgeschäfts beteiligt war.[38]
Übertragen auf die Kenntniserlangung eines Staatsanwalts erscheint eine Differenzierung zwischen dienstlicher und privater Kenntnisnahme geboten. Bei einer dienstlichen Kenntnisnahme vom Sachverhalt, der möglicherweise einen Grund für die Besorgnis der Befangenheit i.S.d. §§ 24 ff. StPO darstellt, dürfte es sich um Wissen handeln, das der Staatsanwalt aktenkundig zu machen hat, das demnach typischerweise den anderen weitergeleitet wird, insbesondere dem in der Sitzungsvertretung zuständigen Staatsanwalt. Eine Kenntniszurechnung würde also erfolgen.
Bei einer rein privaten Kenntnisnahme findet grundsätzlich keine Kenntlichmachung in den Akten statt. Auch wenn eine naheliegend oder vorteilhaft für die Staatsanwaltschaft als Behörde wäre, da sie dienstliche Informationen betrifft, erscheint sie jedenfalls nicht zwingend als typischerweise aktenkundig.
Der Vergleich der Wissenszurechnung innerhalb der Staatsanwaltschaft mit ihrer eingeschränkten Einschreitungspflicht bei privater Kenntnisnahme von Straftaten lässt nicht darauf schließen, dass eine solche Wissenszurechnung bei privater Kenntnisnahme vom Ablehnungsgrund nicht stattfindet.
Zwar mag die Art und Weise der Kenntnisnahme eines rechtlich relevanten Umstands dieselbe sein, nämlich privater Natur. Dennoch handelt es sich bei den zugrundeliegenden Rechtsnormen und unterschiedliche: Bei der Einschreitungspflicht nach § 152 II StPO bei gegebenem Anfangsverdacht von Straftaten handelt es sich um eine Dienstpflicht[39], die sich an die Beamten der Staatsanwaltschaft richtet. Bei der möglichen Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit gem. § 24 ff. StPO handelt es sich – ausweislich des klaren Wortlauts des § 24 III StPO – um ein Ablehnungsrecht.[40]
Darüber hinaus sind auch die Schutzrichtungen der Vorschriften verschieden: Bei der Mitwirkung eines Richters, der wegen Besorgnis der Befangenheit gem. §§ 24 ff. StPO abgelehnt werden könnte, ist zwar auch ein Rechtsgut der Allgemeinheit zumindest gefährdet – nämlich die Unparteilichkeit richterlicher Entscheidungen. Allerdings verstößt ein nach § 24 III StPO Ablehnungsberechtigter gegen keine mit § 152 II StPO vergleichbare Rechtsnorm und er verletzt auch keine Rechtspflicht nach § 13 StGB, wenn er von seinem Ablehnungsrecht keinen Gebrauch macht.
Schließlich wären selbst bei einer Gleichsetzung der Einschreitungspflicht und der Wissenszurechnung bei Ablehnungsgesuchen die Voraussetzungen für erstere bei der Kenntnisnahme von einem Ablehnungsgrund im übertragenen Sinne gegeben. Denn der Ablehnungsgrund besteht auch weiterhin fort und wirkt sich auf die laufende Hauptverhandlung aus, wenn der betreffende Staatsanwalt seinen Dienst wieder aufnimmt. Auch besteht ein enormes öffentliches Interesse daran, Gerichtsverhandlungen von unparteilichen Richtern durchzuführen, das den privaten Belangen des kenntniserlangenden Staatsanwalts bei weitem überwiegen dürfte.
Dass es für die Frage der Kenntnis von verfahrensrelevanten Umständen nicht entscheidend auf eine bestimmte
Person innerhalb der Behörde ankommen kann, ergibt sich auch bereits aus der Systematik des Gesetzes. Dieses unterscheidet bei der Ausübung staatsanwaltlicher Befugnisse nicht zwischen Positionen innerhalb der Behörde. § 142 I Nr. 2 GVG schreibt lediglich fest, dass das Amt der Staatsanwaltschaft durch einen oder mehrere Staatsanwälte ausgeübt wird.[41] Ihre Funktion übt die Staatsanwaltschaft mit ihren Staats- und Amtsanwälten aus, an deren Spitze der leitende Oberstaatsanwalt steht.[42]
Der Staatsanwalt ist zwar im Innenverhältnis weisungsgebunden, vgl. § 146 GVG, jedoch agieren Staatsanwälte gem. § 144 GVG bei ihren Amtshandlungen im Außenverhältnis selbständig und erteilen dabei dem Behördenleiter keinen Hinweis.[43] Demnach sind Prozesshandlungen von Staatsanwälten auch dann wirksam, wenn sie entgegen der internen Weisung ihres Vorgesetzten vorgenommen werden[44]: So berührt auch das Abweichen vom Geschäftsverteilungsplan nicht die Wirksamkeit einer Prozesshandlung[45] – ein Recht auf den gesetzlichen Staatsanwalt besteht gerade nicht.
Die Tatsache, dass die Vertretungsmacht eines Staatsanwalts im Außenverhältnis unabhängig von der tatsächlichen innerbehördlichen Zuständigkeit nicht beschränkt werden kann, führt zu dem Schluss, dass es im Außenverhältnis auch nicht auf die Kenntnis eines bestimmten, nach der Geschäftsverteilung zuständigen, Staatsanwalts ankommen kann, sondern die Kenntnis irgendeines i.S.d. § 144 GVG vertretungsbefugten Staatsanwalts genügt.
Dafür spricht auch, dass der BGH jüngst festgestellt hat, dass die Staatsanwaltschaft als solche sich die Kenntnis ihrer Mitarbeiter zurechnen lassen muss.[46] Der Feststellung des BGH lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem die Staatsanwaltschaft eine Verletzung ihres Rechts auf Informationsteilhabe gem. § 243 IV StPO[47] rügte, als im Rahmen eines Verständigungsgesprächs gem. § 257c StPO ein Staatsanwalt an der Erörterung teilnahm, der nicht mit dem Sitzungsvertreter identisch war und der Sitzungsvertreter erst später Kenntnis von der gescheiterten Verständigung erlangte, da das Verständigungsgespräch in der Hauptverhandlung vom Vorsitzenden nicht mitgeteilt wurde.[48]
Auch im eingangs geschilderten Fall hat der konkrete Sitzungsvertreter keine Kenntnis vom möglichen Grund für die Besorgnis der Befangenheit. Wenn bei einer entgegen § 243 IV StPO nicht mitgeteilten Verständigung nicht auf die Kenntnis des konkreten Sitzungsvertreters ankommt, so auch nicht für die Frage der rechtzeitigen Anbringung eines Ablehnungsgesuchs wegen Besorgnis der Befangenheit gem. §§ 24 ff. StPO. Beiden Fällen ist gemein, dass die Behörde als solche bereits Kenntnis von den verfahrensrelevanten Tatsachen hat, es allerdings allein in ihrem Organisationsverschulden liegt, dass der konkrete Sitzungsvertreter diese Kenntnis nicht oder nicht rechtzeitig erlangte. Dass dieses Organisationsverschulden zulasten des Gerichts oder gar des Angeklagten im Sinne einer begründeten Revision gehen soll, ist keinesfalls einzusehen. Es handelt sich um ein innerbehördliches Problem, das schlicht durch eine angemessene Organisation der Kommunikationswege zu lösen ist, welche dem Behördenleiter obliegt.
Auch der Sinn und Zweck des § 25 StPO spricht für das Erfordernis einer Kenntniszurechnung. Die Vorschrift bezweckt die Verfahrenskonzentration und die Beschleunigung der Hauptverhandlung.[49] Diesem Zweck liefe es zuwider, wenn ein nach Geschäftsverteilungsplan nicht zuständiger Staatsanwalt mit der Weiterleitung der von ihm – gleich ob dienstlich oder privat – erlangten Kenntnis so lange warten dürfte, bis das Verfahren einen aus Sicht der Staatsanwaltschaft ungünstigen Verlauf nimmt und damit immer noch die nach § 25 II 1 Nr. 2 StPO erforderliche Unverzüglichkeit gewahrt wäre. Ein solches Verständnis würde nicht nur den Sinn und Zweck des § 25 StPO, sondern auch den bewusst eng gewählten Begriff der Unverzüglichkeit ad absurdum führen, da auf diese Weise eine wochen- oder gar monatelange Zeitspanne zwischen Kenntnisnahme durch irgendeinen Staatsanwalt und Anbringung des Ablehnungsgesuchs durch den konkreten Sitzungsvertreter liegen kann. Es läge allein in der Hand der Staatsanwaltschaft, wann ein Ablehnungsgesuch noch als unverzüglich vorgebracht gilt. Ein solches Verständnis untergrübe den gesetzgeberischen Willen und würde dafür sorgen, dass die Staatsanwaltschaft sich bewusst über die strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gem. § 25 StPO hinwegsetzen kann.
Auch erlaubt der Zweck des § 25 StPO keine Differenzierung danach, ob der betreffende Staatsanwalt die Kenntnis vom möglichen Ablehnungsgrund dienstlich oder privat erlangte. Abgesehen davon, dass die Kenntniserlangung von einem derartigen Ablehnungsgrund stets einen zumindest auch dienstlichen Charakter hat, läge es allein in der Hand des betreffenden Staatsanwalts, wann er – etwa durch Niederschrift eines Vermerks – das privat erlangte Wissen "dienstlich" zur Kenntnis nimmt. Daher ist davon auszugehen, dass eine "dienstliche" Kenntnisnahme, wenn nicht schon gleichzeitig, dann erfolgt, wenn der Staatsanwalt sich wieder im Dienst befindet. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass mit der Weiterleitung an den in der Hauptverhandlung ablehnungsberechtigten Staats-
anwalt nicht gewartet wird, bis das Verfahren eine ungünstige Wendung nimmt.
Aus der systematischen Betrachtung der Vorschriften der §§ 142 ff. GVG und der teleologischen Auslegung des § 25 StPO ergibt sich, dass der Gesetzgeber den Normbereich, der sich mit der Staatsanwaltschaft und der Rechtzeitigkeit von Ablehnungsgesuchen beschäftigt, bereits abschließend im GVG und in der StPO geregelt hat. Demnach besteht für eine analoge Anwendung der Vorschriften des BGB oder des VwVfG kein Raum.
Gegen eine solche Rechtsfortbildung spricht auch, dass die Staatsanwaltschaft als Justizbehörde strengeren Regeln unterworfen ist als reine Verwaltungsbehörden oder gar private Gesellschaften. Diese strengere Verantwortlichkeit der Staatsanwaltschaft resultiert daraus, dass sie im Vergleich zu Behörden, die mit reinen Verwaltungsangelegenheiten beschäftigt sind, in einem stets grundrechtssensiblen Rechtsbereich – nämlich dem der Strafverfolgung – agieren. Mit diesem rechtlich und gesellschaftlich anspruchsvollen Aufgaben- und Verantwortungsbereich gehen weitreichende Eingriffsbefugnisse einher, die die Grundrechte eines Beschuldigten, Angeklagten und später ggf. Verurteilten enorm beschränken. Auch wenn gewöhnliche Verwaltungsbehörden Anordnungen treffen dürfen, die im Einzelnen eingriffsintensiver sein können als die Erhebung einer Anklage oder die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion, bewegt sich die Staatsanwaltschaft permanent im Bereich der ultima ratio[50] des Rechtsstaats. Daher ist an die Rechtmäßigkeit staatsanwaltlichen Handelns – sei es im Ermittlungsverfahren, sei es in der Hauptverhandlung – stets ein strenger Maßstab anzulegen. Dieser strenge Maßstab gilt auch für die Rechtzeitigkeit der Anbringung von Ablehnungsgesuchen[51] und die Kenntniszurechnung innerhalb der Staatsanwaltschaft.[52]
Mit der gleichen Argumentation ist ebenfalls die Übertragung des Privatrechts bzgl. der innergesellschaftlichen Kenntniszurechnung abzulehnen. Gesellschaften des Privatrechts sind als nichtstaatliche juristische Personen nicht an Grundrechte gebunden.[53] Der Schutz vor etwaigen Benachteiligungen erfolgt durch Vertrag; die aus ihm folgenden Rechte können vor den Zivilgerichten geltend gemacht werden.
Trotz der angestellten Vergleiche mit dem öffentlichen und dem privaten Recht gelten für die Staatsanwaltschaft aufgrund ihres für die Strafverfolgung ganz entscheidenden Verantwortungsbereichs strenge Maßstäbe für die Kenntniszurechnung innerhalb ihrer Behörde. Dies gilt auch für die Zurechnung – privat oder dienstlich – erlangten Wissens eines Staatsanwalts von einem Sachverhalt, der ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit gem. §§ 24 ff. StPO begründen könnte. Keinesfalls ist es zulässig, dass die Staatsanwaltschaft den Verlauf eines Verfahrens abwartet, um dann – sobald das Verfahren sich nicht im Sinne der Staatsanwaltschaft entwickelt – auf einen Befangenheitsgrund zurückgreift, von dem ein der Behörde angehörender Staatsanwalt schon seit geraumer Zeit Kenntnis hatte. Derartige Ablehnungsgesuche werden zu Recht aufgrund von Verspätung gem. § 26a I Nr. 1 StPO verworfen und damit die Staatsanwaltschaft in ihrem Vorbringen präkludiert.
[*] Dr. Friedrich Sebastian Fülscher ist Fachanwalt für Strafrecht und Partner der Kanzlei Contra.Strafverteidiger in Kiel.
[1] Grundlegend zur Ablehnung eines Richters nach § 24 StPO s. MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis, 2. Aufl. 2024, § 24 Rn. 1 ff.; s. auch KK-StPO/Heil, 9. Aufl. 2023, § 24 Rn. 1 ff.; detailliert Krey/Heinrich 2. Aufl. 2018, Rn. 186 ff.
[2] Dabei handelt der Verteidiger nicht in eigenem Namen, sondern für seinen Mandanten, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 24 StPO Rn. 20; Krey/Heinrich Rn. 200; Rabe NJW 1976, 172 (172 f.).
[3] BGH NStZ 1982, 291 (292); BGH NStZ 1996, 47 (48); s. auch MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis § 25 Rn. 20.
[4] BGHSt 45, 312 (315); BGH NStZ 2008, 578 = HRRS 2008 Nr. 788; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, 67. Aufl. 2024, § 25 Rn. 4.
[5] BGH NStZ-RR 2012, 211 = HRRS 2012 Nr. 535; BGH StraFo 2015, 458 = HRRS 2015 Nr. 835; KK-StPO/Heil § 25 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 25 Rn. 4c; Krey/Heinrich Rn. 202.
[6] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 25 Rn. 4c a.E.
[7] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 25 StPO Rn. 3; BT-Drucks. 532/19, 20.
[8] MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis § 25 Rn. 1 f.; KK-StPO/Heil § 25 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 25 StPO Rn. 1; Krey/Heinrich Rn. 202.
[9] BGHSt 21, 334 (339); BGH NStZ 1982, 291 (292); BayObLG NJW 1992, 2242; vgl. SK-StPO/Deiters § 25 Rn. 21.
[10] BGH NStZ 2006, 644 = HRRS 2006 Nr. 526; BGH StraFo 2015, 458 = HRRS 2015 Nr. 835.
[11] BGH NStZ-RR 2012, 211 = HRRS 2012 Nr. 535; BGH StraFo 2015, 458 = HRRS 2015 Nr. 835.
[12] BGH NStZ 1992, 290; BGH BeckRS 2016, 12690 = HRRS 2016 Nr. 752; BGH NStZ 2021, 56 mit Anm. Schneider NStZ 2021, 242 = HRRS 2020 Nr. 1275; OLG Köln StV 1988, 287 (288).
[13] BGH StV 1982 339 (340); BGH NStZ 2018, 610 = HRRS 2018 Nr. 590; SK-StPO/Deiters, 5. Aufl. 2016, § 25 Rn. 22.
[14] BGH NStZ 1982, 291 (292); BGH NStZ 1996, 47 (48).
[15] BGH NStZ 1982, 291 (292); zust. LR-StPO/Siolek, 27. Aufl. 2016, § 25 Rn. 27; MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis § 25 Rn. 20.
[16] Vgl. BGHSt 21, 334 (339); s. auch SK-StPO/Deiters § 25 Rn. 21.
[17] BGH NStZ 1982, 291 (292).
[18] BGH NStZ 1982, 291 (292); vgl. BeckOK-StPO/Cirener, 54. Edition 2025, § 25 Rn. 7.1.
[19] BGH NStZ 1982, 291 (292); vgl. BGHSt 21, 334 (339, 344 f.); zust. SK-StPO/Deiters § 25 Rn. 34; MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis § 25 Rn. 20.
[20] BGH NStZ 1992, 47 (48).
[21] BGH NStZ 1992, 47 (48): dies gilt indes nicht für die Vernehmung des betreffenden Staatsanwalts als Zeugen.
[22] BGHSt 38, 388 (391 ff.) m. Anm. Mitsch NStZ 1993, 383 (383 f.); vgl. OLG Koblenz NStZ-RR 1998, 332.
[23] BGHSt 38, 388 (392); vgl. Krey/Heinrich Rn. 610.
[24] BGHSt 38, 388 (391).
[25] BGHSt 38, 388 (391 f.); s. auch Putzke/Scheinfeld/Putzke Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2022, Rn. 64.
[26] BVerfGE 9, 223 (228); vgl. Roxin/Schünemann, 30. Aufl. 2022, § 9 Rn. 10; s. auch Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt Vor § 141 GVG Rn. 7.
[27] BVerfGE 103, 142 (156); Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt Vor § 141 GVG Rn. 6; Krey/Heinrich Rn. 235.
[28] BVerwGE 70, 356 (364); BVerwGE 112, 360 (363 f.).
[29] S. dazu BVerwGE 112, 360 (363 f.); vgl. BeckOK-VwVfG/J. Müller, 66. Edition 2025, § 48 Rn. 111 ff.
[30] BVerwGE 112, 360 (363 f.); BeckOK-VwVfG/J. Müller § 48 Rn. 114; Maurer/Waldhoff, 21. Aufl. 2024, § 11 Rn. 43 f.
[31] BVerwGE 70, 356 (364); BeckOK-VwVfG/J. Müller § 48 Rn. 111.
[32] BVerwGE 70, 356 (364); BVerwGE 112, 360 (363); BeckOK-VwVfG/J. Müller § 48 Rn. 114; Maurer/Waldhoff § 11 Rn. 43.
[33] So die frühere Rspr. des BGH, s. BGH WM 1955, 830 (832); vgl. Wagner ZHR 181 (2017), 203 (257 ff., 270).
[34] BGH NJW 1971, 93; BGH NJW 1971, 557.
[35] BGH NJW 2001, 349; BGH NJW 2001, 2535 (2536); BGH NJW 1999, 3777; BGHZ 132, 30 (37); BGH NJW 1971, 93; 1971, 557.
[36] Die Zurechnung erfolgt aus der Organstellung, sog. "Organtheorie", vgl. BGH NJW 2020, 1962 Rn. 29 ; BGH DNotZ 1991, 122 (123); BGHZ 20, 149 (153); Aden NJW 1999, 3098 f.; Schilken Wissenszurechnung im Zivilrecht, 1983, 127 ff.
[37] BGH NJW 2001, 2535 (2536); BGH NJW 1999, 3777; BGHZ 132, 30 (37).
[38] MüKo-BGB/Schubert, 10. Aufl. 2025, § 166 Rn. 9.
[39] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 152 StPO Rn. 2; Krey/Heinrich Rn. 602.
[40] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 24 StPO Rn. 1; Krey/Heinrich Rn. 200.
[41] Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 142 GVG Rn. 7; Krey/Heinrich Rn. 245.
[42] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 142 GVG Rn. 7.
[43] s. dazu Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 144 GVG Rn. 2; Krey/Heinrich Rn. 246.
[44] BGH v. 03.07.1964 Az. 2 StR 208/64; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 146 Rn. 8; Krey/Heinrich Rn. 246.
[45] Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 144 GVG Rn. 2; Krey/Heinrich Rn. 246.
[46] BGH NStZ 2023, 306 (307) = HRRS 2023 Nr. 157; bereits BGH NStZ 2017, 52 (54) = HRRS 2016 Nr. 881; vgl. KK-StPO/Schneider § 243 Rn. 115; ders. NStZ 2014, 252 (254); Knauer NStZ 2014, 292 (292 f.).
[47] s. dazu BGH NStZ 2013, 724 = HRRS 2013 Nr. 927.
[48] BGH NStZ 2023, 306 = HRRS 2023 Nr. 157; zu einem ähnlich gelagerten Sachverhalt s. BGH NStZ 2017, 52 (54) = HRRS 2016 Nr. 881 .
[49] MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis § 25 Rn. 1 f.; KK-StPO/Heil § 25 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt § 25 StPO Rn. 1; Krey/Heinrich Rn. 202.
[50] Allgemein zur ultima-ratio-Funktion des Strafrechts s. Hefendehl JA 2011, 401.
[51] Vgl. BGH NStZ 1982, 291 (292).
[52] Vgl. BGH NStZ 2017, 52 (54) = HRRS 2016 Nr. 881; BGH NStZ 2023, 306 (307) = HRRS 2023 Nr. 157.