HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2025
26. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

106. BVerfG 1 BvR 1182/24 (1. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 16. Januar 2025 (OLG Düsseldorf / LG Mönchengladbach / AG Mönchengladbach) – da

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerungen über einen Rechtsanwalt aus Unzufriedenheit mit dessen Leistungen; Ermittlung des Sinns der inkriminierten Äußerungen; Verständnis eines unvoreingenommenen Dritten; Wortlaut als Ausgangspunkt; Beachtung von Kontext und Begleitumständen; Abgrenzung von Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung; Auslegung mehrdeutiger Äußerungen; Differenzierung zwischen fachspezifischer und umgangssprachlicher Nutzung eines Begriffs; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; Berücksichtigung von Verbreitung und Wirkung, Form und Begleitumständen der Äußerung; „Kampf ums Recht“).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB

1. Eine Verurteilung wegen Beleidigung verletzt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, wenn das Strafgericht bereits nicht mitteilt, welchen konkreten Aussagegehalt es den in Rede stehenden Äußerungen der Angeklagten beimisst, die einem von ihr beauftragten Rechtsanwalt aus Unzufriedenheit mit dessen Leistungen und in der Annahme einer fehlerhaften Abrechnung vorgeworfen hatte, er „betrüge“ sie, sei „inkompetent“ und füge ihr „absichtlich Schaden“ zu. Die Verurteilung unterliegt außerdem

der Aufhebung, wenn das Gericht es vollständig an der erforderlichen Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht fehlen lässt, in die insbesondere die fehlende Außenwirkung der in persönlichen E-Mails enthaltenen Äußerungen, der sachliche Zusammenhang mit der Mandatsführung des Rechtsanwalts und das erkennbar eingeschränkte sprachliche Ausdrucksvermögen der Angeklagten einzustellen gewesen wären.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Dessen Anwendung erfordert zunächst eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der in Rede stehenden Äußerung. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Einzubeziehen sind jedoch auch der sprachliche Kontext und die Begleitumstände, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind. Maßgeblich ist der Sinn, den die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat.

3. Die isolierte Betrachtung eines umstrittenen Äußerungsteils wird den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht. Die Äußerung ist vielmehr in ihrem Gesamtzusammenhang zu würdigen. Dies gilt insbesondere bei der Frage, ob sie ihrem Schwerpunkt nach eine Meinungsäußerung oder eine Tatsachenbehauptung darstellt. Ist eine Trennung der tatsächlichen und der wertenden Bestandteile nicht ohne Verfälschung ihres Sinns möglich, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden.

4. Bei mehrdeutigen Äußerungen darf die zur Verurteilung führende Bedeutung erst dann zugrunde gelegt werden, wenn das Gericht zuvor die anderen möglichen Deutungen mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen hat. Dabei muss auch bedacht werden, dass manche Begriffe in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen verschiedene Bedeutungen haben können, wie etwa Begriffe, die in der juristischen Fachterminologie in anderem Sinne benutzt werden als in der Umgangssprache. Einer Verurteilung darf daher nicht der fachspezifische Sinn zugrunde gelegt werden, wenn die Äußerung in einem umgangssprachlichen Zusammenhang gefallen ist.

5. Voraussetzung einer Verurteilung nach § 185 StGB ist grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Von der Abwägung kann nur in eng begrenzten Ausnahmefällen abgesehen werden, wenn die Äußerung sich als Angriff auf die Menschenwürde, Formalbeleidigung oder Schmähung darstellt. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

6. Bezüglich der Form und der Begleitumstände einer Äußerung kann von Bedeutung sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder mit Vorbedacht gefallen ist und ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand. So ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Anliegen zu unterstreichen (sogenannter „Kampf ums Recht“).

7. Bei der Abwägung ist außerdem die konkrete Verbreitung und Wirkung einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich ist, welcher Kreis von Personen von der Äußerung Kenntnis erhält, ob die Äußerung schriftlich oder anderweitig perpetuiert wird und ob sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen des Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird.


Entscheidung

109. BVerfG 2 BvR 1974/22 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 16. Januar 2025 (BGH / LG Mannheim)

Einstweilige Anordnung gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen Erpressung (strafrechtliches Bestimmtheitsgebot; Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils; Übertragbarkeit der Maßstäbe zur Konkretisierung des Vermögensschadens bzw. -nachteils bei Betrug und Untreue).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 32 BVerfGG; § 253 StGB; § 255 StGB; § 263 StGB; § 266 StGB

Die weitere Vollstreckung einer unter anderem wegen (versuchter schwerer räuberischer) Erpressung verhängten Freiheitsstrafe verletzt möglicherweise das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn bei der Auslegung und Anwendung des Tatbestandsmerkmals des Vermögensnachteils die verfassungsrechtlichen Maßstäbe nicht beachtet worden sind, wie sie für die Konkretisierung des Vermögensschadens bzw. -nachteils im Sinne der §§ 263, 266 StGB gelten.


Entscheidung

107. BVerfG 1 BvR 2116/24 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 18. Dezember 2024 (OLG Karlsruhe / LG Mannheim / AG Mannheim)

Fortdauer des Vermögensarrests (unzulässiges Zurückstellen einer Beschwerdeentscheidung bis zum Absetzen der Urteilsgründe; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Verpflichtung zur Begründung der Arrestentscheidung; Rückgabe der Sache durch das Beschwerdegericht zur Nachholung der Begründung); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Aktualisierung des Vortrags bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- oder Rechtslage).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 34 StPO; § 111e StPO; § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO § 304 StPO; § 309 Abs. 2 StPO

1. Ein Oberlandesgericht verletzt das Recht des Angeklagten auf effektiven Rechtsschutz, wenn es die Entscheidung über dessen Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung eines in Höhe von etwa 3,5 Millionen Euro vollstreckten Vermögensarrests, welche das Landgericht in einem Verfahren wegen Wertpapier-Marktmanipulation anlässlich der Urteilsverkündung ohne schriftliche Begründung angeordnet hatte, über mehrere Monate bis zum Absetzen der Urteilsgründe zurückstellt.

2. Gerade in Fällen einer aufgrund der Dauer der Hauptverhandlung langen Urteilsabsetzungsfrist obliegt es dem Beschwerdegericht, zeitnah eine eigene Sachentscheidung

zu treffen und dazu erforderlichenfalls die Sache dem den Vermögensarrest oder dessen Fortdauer anordnenden Gericht zurückzugeben, damit dieses seiner nach allgemeiner Auffassung bestehenden Verpflichtung nachkommt, seinen Beschluss mit Gründen zu versehen.

3. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Untätigkeit des Beschwerdegerichts genügt allerdings nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen, wenn der Angeklagte nicht darlegt, inwieweit sein Rechtsschutzbedürfnis fortbesteht, nachdem zwischenzeitlich das schriftliche Urteil abgesetzt und über die Beschwerde entschieden worden ist. Denn ein Beschwerdeführer ist gehalten, seine Verfassungsbeschwerde bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- oder Rechtslage aktuell zu halten und die Beschwerdebegründung gegebenenfalls nachträglich zu ergänzen.


Entscheidung

108. BVerfG 2 BvQ 2/25 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 21. Januar 2025 (LG Regensburg)

Versagung von Vollzugslockerungen (Recht auf effektiven Rechtsschutz; Unterbleiben einer Bescheidung durch die Strafvollstreckungskammer über einen erheblichen Zeitraum wegen hoher Verfahrensbelastung; gerichtlicher Ermessensspielraum bei der Priorisierung von Verfahren; keine Rechtfertigung überlanger Verfahrensdauer durch Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortlichkeitsbereichs); Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG (strenge Anforderungen an die Schwere des Nachteils).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 109 StVollzG

1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt das Recht eines Strafgefangenen auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung von Vollzugslockerungen über einen Zeitraum von 17 Monaten unter Berufung auf eine hohe Arbeitsbelastung durch zahlreiche vorrangige Verfahren nicht bescheidet.

2. Zwar steht dem Gericht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es aufgrund eigener Gewichtung Prioritäten in Abweichung von der Reihenfolge des Eingangs setzen kann. Auf Umstände, die innerhalb des staatlichen Verantwortlichkeitsbereichs liegen, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, kann sich der Staat zur Rechtfertigung einer überlangen Verfahrensdauer jedoch nicht berufen. Er muss vielmehr alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Zeit beendet werden können.

3. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 32 BVerfGG ist – anders als im fachgerichtlichen Verfahren – nicht darauf angelegt, einen möglichst lückenlosen vorläufigen Rechtsschutz zu bieten. Für die Beurteilung der Erforderlichkeit einer einstweiligen Anordnung ist im Hinblick auf die besondere Funktion und Organisation des Bundesverfassungsgerichts ein strenger Maßstab anzulegen. Insbesondere sind erhebliche Anforderungen an die Schwere des drohenden Nachteils zu stellen.