Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2024
25. Jahrgang
PDF-Download
1. Ein Revisionsgericht verkennt Bedeutung und Tragweite des Rechts auf ein faires Verfahren für die Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Verständigung im Strafverfahren, wenn es das Beruhen eines Urteils auf einem Verstoß gegen die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO allein unter dem Gesichtspunkt einer Einwirkung auf das Aussageverhalten des Angeklagten prüft und die von dem Verstoß in erster Linie betroffene, auch dem Schutz des Angeklagten dienende Kontrollmöglichkeit der Öffentlichkeit außer Acht lässt.
2. Die Mitteilung über eine Verständigung genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn der Vorsitzende lediglich bekannt gibt, dass eine Verständigung herbeigeführt worden sei und welche Strafe der
Angeklagte im Falle eines Geständnisses zu erwarten habe, ohne darzulegen, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde, ob sie bei den anderen Gesprächsteilnehmern auf Zustimmung oder Ablehnung gestoßen ist und welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer vertreten haben.
3. Dem Gesetzgeber kam es bei der Regelung der Verständigung im Strafverfahren maßgeblich darauf an, dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung Rechnung zu tragen und die Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe sicherzustellen. Einen Schwerpunkt des Regelungskonzepts bilden die gesetzlichen Transparenz- und Dokumentationspflichten, die eine effektive Kontrolle des Verständigungsgeschehens durch die Öffentlichkeit, die Staatsanwaltschaft und das Rechtsmittelgericht eröffnen sollen.
4. Die Transparenz- und Dokumentationspflichten des Verständigungsgesetzes dürfen angesichts ihrer zentralen Bedeutung nicht als bloße Ordnungsvorschriften verstanden werden. Wenngleich der Gesetzgeber Verstöße gegen die verfahrensrechtlichen Sicherungen der Verständigung nicht als absolute Revisionsgründe eingestuft hat, wird sich bei einer Verletzung von Transparenz- und Dokumentationspflichten in den meisten Fällen nicht sicher ausschließen lassen, dass das Urteil auf eine gesetzwidrige informelle Absprache oder diesbezügliche Gesprächsbemühungen zurückgeht.
5. Ein Beruhen des Urteils auf einer fehlerhaften Mitteilung kann im Wege einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall ausnahmsweise ausgeschlossen werden, wobei insbesondere von Bedeutung sein kann, wie schwer der Verstoß wiegt, welcher Art die nicht mitgeteilten Gesprächsinhalte waren und ob der Angeklagte umfassend und zuverlässig über die Gespräche informiert wurde. Daneben ist jedoch auch die Beeinträchtigung der Kontrollmöglichkeit durch die Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. Insoweit kann ein Einfluss einer unzureichenden Information der Öffentlichkeit auf das Urteil nur ausgeschlossen werden, wenn der Inhalt der geführten Gespräche zweifelsfrei feststeht und diese nicht auf die Herbeiführung einer gesetzeswidrigen Absprache gerichtet waren.
6. Die zulässige Erhebung der Verfahrensrüge einer Verletzung der Mitteilungspflicht nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO setzt voraus, dass der Revisionsführer den Inhalt der Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten wahrheitsgemäß und genau mitteilt. Das Revisionsgericht muss in die Lage versetzt werden, eigenständig zu prüfen, ob tatsächlich verständigungsbezogene Gespräche stattgefunden haben, welchen Inhalt diese hatten und wer wann was mit wem besprochen hat. Nicht erforderlich sind hingegen rechtliche Ausführungen dazu, ob die geschilderten Erörterungen auf das Zustandekommen einer Verständigung im Sinne von § 257c StPO ausgerichtet waren.
7. Macht ein Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde geltend, das Tatgericht habe sich nach einem verständigungsbasierten Geständnis die Überzeugung von seiner Schuld auf unzureichender Tatsachengrundlage verschafft, so verletzt er den Grundsatz der Subsidiarität, wenn er hierzu nicht bereits im Revisionsverfahren im Rahmen der Sachrüge vorgetragen hat.
8. Die unterbliebene Angabe einer Strafuntergrenze im Rahmen einer Verständigung verletzt den Angeklagten regelmäßig nicht in eigenen Rechten, zumal diese Angabe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs primär der Absicherung der Rechte der Staatsanwaltschaft dienen soll.
9. Ergänzt ein Revisionsgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 349 Abs. 2 StPO in seiner Entscheidung nicht durch abweichende oder über die Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft hinausgehende Rechtsausführungen, ist davon auszugehen, dass es sich die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft zu eigen gemacht hat.
1. Ein Strafgericht verletzt den Angeklagten in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, wenn es ein verständigungsbasiertes Geständnis als alleinige Grundlage zur Feststellung der Schuld heranzieht, ohne dessen Richtigkeit der erforderlichen Überprüfung in der Hauptverhandlung zu unterziehen, und obwohl es nur von geringer Aussagekraft ist.
2. Eine ergänzende Beweiserhebung zur Überprüfung der Einlassung und zur Feststellung der Schuld drängt sich insbesondere bei komplexen Sachverhalten auf – etwa dann, wenn das Verfahren zahlreiche Vorwürfe des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt durch Beschäftigung einer größeren Zahl Scheinselbständiger ohne Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen zum Gegenstand hat. Dies gilt umso mehr, wenn das durch den Verteidiger vorgetragene Geständnis keine substantiierte Schilderung des umfangreichen und komplexen, lange zurückliegenden Geschehens enthält und nicht erkennen lässt, ob es sämtliche objektiven und subjektiven Merkmale des Straftatbestandes erfasst – insbesondere soweit es die Eigenschaft des Angeklagten als Arbeitgeber und die Bestimmung des sozialversicherungsrechtlichen Schadens betrifft.
3. Aufgabe des Strafprozesses ist es, den Strafanspruch des Staates in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten. Zentrales Anliegen ist dabei die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip, wonach keine Strafe ohne Schuld verhängt werden darf, nicht verwirklichen lässt.
4. Straf- und Strafverfahrensrecht tragen dem Gebot der Verfahrensfairness und der Unschuldsvermutung Rechnung, indem sie die Ermittlung des Sachverhalts der gerichtlichen Aufklärungspflicht und dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung unterstellen. Das Tatgericht ist verpflichtet, alle bekannten Beweismittel vollständig zu erheben, über alle entscheidungserheblichen Beweisfragen eine vollständige Beweiswürdigung vorzunehmen und diese dem Urteil zugrunde zu legen.
5. Dem Gesetzgeber kam es bei der Regelung der Verständigung im Strafverfahren maßgeblich darauf an, dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung Rechnung zu tragen und die Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe sicherzustellen. Dabei sollten die Grundsätze der richterlichen Sachverhaltsaufklärung und Überzeugungsbildung nicht angetastet werden. Grundlage eines Strafurteils kann niemals die Verständigung als solche sein, sondern nur die – ausreichend fundierte – Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt.
6. Ein inhaltsleeres Formalgeständnis kann allein keine taugliche Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung sein. Darüber hinaus ist jedes verständigungsbasierte Geständnis durch eine förmliche Beweiserhebung in der Hauptverhandlung zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Ein bloßer Abgleich mit der Aktenlage bildet demgegenüber keine hinreichende Grundlage für die gebotene Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung und trägt dem Transparenzanliegen des Verständigungsgesetzes zur Ermöglichung einer wirksamen Kontrolle verständigungsbasierter Urteile nicht ausreichend Rechnung.
1. Eine Strafkammer fördert ein bei ihr anhängiges Verfahren nicht mit einer dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen gerecht werdenden Zügigkeit, wenn sie trotz Ablaufs von mehr als fünf Monaten seit Anklageerhebung und mehr als vier Monate nach Eintritt der Eröffnungsreife noch nicht über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden hat und insoweit lediglich auf eine unvorhersehbare, ungewöhnlich hohe Belastung mit anderen Haftsachen verweist.
2. Das Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft allenfalls bei einer geringfügigen Verfahrensverzögerung rechtfertigen. Bei der Überlastung des Gerichts handelt es sich um einen in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft und nicht des Angeklagten fallenden Umstand; jedenfalls bei einer nicht nur kurzfristigen Überlastung kann es auf deren Vorhersehbarkeit nicht ankommen.
3. Allein die Üblichkeit, die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens zeitgleich mit der Terminierung der Hauptverhandlung vorzunehmen, kann eine Verzögerung der Eröffnungsentscheidung nicht rechtfertigen, nur weil eine Terminierung noch nicht möglich ist.
4. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Entscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will, durch die Anhörungsrüge aber die Möglichkeit wahrt, dass damit auch die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden.
5. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht seiner aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Verpflichtung, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nachgekommen ist, auch wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich damit befasst. Schweigt eine Entscheidung jedoch zum Kern des Parteivorbringens, der für den Verfahrensausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, so lässt dies den Schluss zu, dass der Vortrag nicht beachtet worden ist.
1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt einen Strafgefangenen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie bei der Prüfung seines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Verlegung in eine andere Justizvollzugsanstalt die gebotene Folgenabwägung unterlässt, weil sie verkennt, dass der Inhaftierte für die Dauer einer rechtswidrigen Verlegung Rechtsbeeinträchtigungen erleidet, die anders als die Verlegung selbst nicht wieder rückgängig gemacht werden können.
2. Wird ein Strafgefangener gegen seinen Willen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt, so greift dies jedenfalls in sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein und kann auch seinen Resozialisierungsanspruch beeinträchtigen. Begehrt ein Gefangener Eilrechtsschutz gegen eine solche Verlegung, so geht es um die vorläufige Aussetzung einer ihn belastenden Maßnahme. Dies gilt auch dann, wenn die Verlegung bereits vollzogen wurde.
3. Im Rahmen der Prüfung des § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG kann auch eine Rolle spielen, ob der Antragsteller nach einer summarischen Prüfung mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird. Erweist sich eine belastende Maßnahme bereits bei einer summarischen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, kann kein öffentliches Interesse an deren sofortiger Vollziehung bestehen.