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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2024
25. Jahrgang
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Von Philipp Rhein, LL.B., Hamburg[*]
Die dem Beschluss des Großen Strafsenates vom 23. Mai 2023 (GSSt 1/23) zugrunde liegende Argumentation wurde bereits erschöpfend aufgearbeitet. Schon der 3. Strafsenat hatte seine Entscheidung, die Einziehung eines durch eine verjährte Straftat erlangten Wertes des Tatertrags nach § 76a Abs. 2 S. 1 StGB im selben Urteil anzuordnen, in dem das Verfahren nach § 260 Abs. 3 StPO eingestellt wurde, eingehend begründet.[1] Auf dessen Anfrage bestätigten der 1. Strafsenat[2] und der 2. Strafsenat[3] ihre konträre Rechtsprechung, während der 4. Strafsenat[4] und der 5. Strafsenat[5] sich von den Argumenten des 3. Strafsenates überzeugen ließen – wiederum jeweils mit eigener argumentativer Auseinandersetzung. Dieser judikative Diskurs wurde begleitet durch mehrere rechtswissenschaftliche Anmerkungen.[6] Begrüßenswerterweise hat sich der Große Strafsenat in seinem Beschluss mit sämtlichen Auffassungen – sowohl der einzelnen Strafsenate als auch der Literaturstimmen – eingehend auseinandergesetzt und diese wiederum in seine Begründung einfließen lassen.[7] Angesichts dessen darf auf eine weitere Diskussion der die Entscheidung tragenden Argumente mit gutem Gewissen verzichtet werden.[8]
Der hiesige Beitrag will sich daher nicht mit den bereits in den Beschlussgründen erörterten Fragen beschäftigen, sondern sich vielmehr auf einen Aspekt konzentrieren, der bislang nicht von den Strafsenaten und kaum[9] in der rechtswissenschaftlichen Literatur hierzu angesprochen wurde: die Regelung des § 435 Abs. 4 StPO.
Sofern der Große Strafsenat nämlich den Übergang in ein objektives Verfahren für die Anordnung selbstständiger Einziehung nicht als erforderlich erachtet, übergeht er die durch § 435 Abs. 4 StPO geschaffene Unterschiedlichkeit zwischen dem subjektiven und dem objektiven Verfahren hinsichtlich der verwendbaren Beweismittel und schafft so eine dogmatische Friktion (hierzu unter II.). Jedoch ist die Regelung des § 435 Abs. 4 StPO aus mehreren
Gründen ihrerseits derart kritikwürdig, dass die durch sie verursachte Unstimmigkeit einer rechtspolitischen Einordnung bedarf (hierzu unter III.).
Die durch den Beschluss des Großen Strafsenates hervorgerufene Inkongruenz offenbart sich, wenn man vergleicht, welche Erkenntnisse zur Anordnung einer selbstständigen Einziehung im objektiven Verfahren nach vorherigen Ermittlungen im subjektiven Verfahren herangezogen werden dürften (hierzu unter 1.) und welche, wenn ein solcher Übergang nicht (notwendigerweise) erfolgen würde (hierzu unter 2.)
Im Gegensatz zum subjektiven Verfahren sind die zulässigen Beweismittel im objektiven Verfahren durch § 435 Abs. 4 StPO beschränkt. Dies gilt ausweislich des Wortlautes von § 435 Abs. 4 S. 1 StPO jedenfalls im Rahmen von Ermittlungen, die ausschließlich der Durchführung eines selbständigen Einziehungsverfahrens dienen sollen. Neben der Gestaltung eines objektiven Vorverfahrens entfaltet der § 435 Abs. 4 StPO aber auch dann Wirkung, wenn zunächst Erkenntnisse in einem subjektiven Ermittlungsverfahren gesammelt und sodann in ein objektives Einziehungsverfahren übergeleitet werden.[10]
Nach der Rechtsprechung des BVerfG können einmal erhobene Daten nicht ohne weiteres weiterverwendet werden.[11] Dreh- und Angelpunkte sind dabei einerseits der Zweck, zu dem die Daten erhoben wurden, und andererseits der Zweck, zu dem sie verwendet werden sollen. So dürfen zwar Daten ohne weiteres ("– als innere Konsequenz der Ermächtigung zur Datenerhebung –"[12]) ihrem Erhebungszweck entsprechend verwendet werden. Sollen die Daten jedoch für einen anderen Zweck verwendet werden, stellt dies einen eigenen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen dar, der sich gerade nicht als logische Konsequenz aus der Ermächtigungsgrundlage für die Datenerhebung ableiten lässt und daher einer eigenen Rechtfertigungsgrundlage bedarf.[13]
Bei der Überleitung eines subjektiven Verfahrens in ein objektives stellt sich daher die Frage, "ob sich die Nutzung der im vorangegangenen subjektiven Verfahren erhobenen Daten in dem sich nach Überleitung anschließenden objektiven Verfahren bloß als (unkritische) zweckrealisierende Nutzung, oder aber als rechtfertigungsbedürftige Weiternutzung in einem anderen Verfahren darstellt."[14] Dies beurteilt sich danach, ob der Zweck, zu dem die Daten im objektiven Verfahren verwendet werden würden, dem Zweck entspricht, zu dem sie im subjektiven Verfahren erhoben wurden.
Angesichts dieses Maßstabs ist von einer rechtfertigungsbedürftigen Weiternutzung auszugehen. Dass mit dem Verfahrensübergang auch die Zielrichtung wechselt, ergibt sich bereits aus den Gesetzesunterlagen, wonach "das selbständige Einziehungsverfahren nicht auf die Bestrafung (oder im Sicherungsverfahren die Sicherung) einer bestimmten Person gerichtet ist. Die Ermittlungen dienen nicht der Durchsetzung des staatlichen Straf- beziehungsweise des den Maßregeln der Besserung und Sicherung zugrundeliegenden Sicherungsanspruchs, sondern allein der Durchsetzung, der mit der Einziehung verfolgten Ziele (insbesondere der Wiederherstellung der rechtmäßigen Vermögenslage)."[15] Ob man dem objektiven Verfahren deshalb eine gänzlich andere Zielrichtung zuschreibt[16], oder hierin nur ein Minus zum subjektiven Verfahren[17] sieht, ist nicht entscheidend. Beides ist richtigerweise als Zweckänderung einzuordnen. Während nach der erstgenannten Auffassung eine Zweckänderung auf der Hand liegt, kann sie auch nach der zweitgenannten Ansicht kaum verneint werden. Denn auch das Minus bzw. auch die Amputation eines Teils der Zwecke des subjektiven Verfahrens beim Übergang in ein objektives Verfahren[18] ändert den Verfahrenszweck.
Sofern demgegenüber argumentiert wird, dass sich durch die Beschränkung der Zwecke nichts "an der Gesamtzielrichtung (General- bzw. Spezialprävention) oder am tatsächlichen Verfahrensgegenstand (Einziehung eines bestimmten inkriminierten Gegenstandes)[…]ändern würde"[19], berührt dies die hier vertretene Beurteilung nicht. Zum Ersten kann ein übereinstimmender Zweck von subjektivem und objektivem Verfahren nicht aus den übergeordneten Strafzwecken begründet werden. Die Zweckbestimmung erfordert nämlich eine gewisse Konkretheit[20], da anderenfalls "nicht mehr abzusehen[ist], ob sich die Weitergabe in den Grenzen des zur Zweckerfüllung Erforderlichen hält"[21]. Daran gemessen, sind allgemeine Verfahrenszwecke wie General- und Spezialprävention keineswegs hinreichend konkret. Auch praktisch hätte ein solch extensives Zweckverständnis zur Konsequenz, dass man jeder strafprozessualen Maßnahme denselben Zweck – nämlich General- und Spezialprävention – unterstellen und folglich einen freien Informationsfluss zwischen sämtlichen Strafverfahren ohne gesonderte
Rechtfertigungsgrundlage erlauben müsste. Das würde den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Zweckbindung im Strafverfahren gänzlich denaturieren. Zum Zweiten führt die Teilidentität von subjektivem und objektivem Verfahren in Bezug auf die Einziehung eines bestimmten Gegenstandes bzw. Wertes nicht dazu, dass eine Zweckänderung verneint werden könnte. Im Gegenteil belegt der Umstand, dass die Verfahren eben nur teilweise gleichgerichtet sind, die unterschiedliche Zweckrichtung.
Daraus ergibt sich, dass Informationen, die im subjektiven Verfahren erlangt wurden, nicht ohne gesetzliche Grundlage im objektiven Verfahren weiterverwendet werden dürfen.[22]
Eine solche Grundlage für den speziellen Regelungsbereich ergibt sich nicht aus den §§ 435 ff. StPO. In Betracht kommt aber eine analoge Anwendung der allgemeinen Regelung des § 479 Abs. 2 S. 1 StPO.[23] Unmittelbar ist diese Norm nicht anwendbar, denn sie setzt ein "anderes Strafverfahren" voraus; hierunter wird im Allgemeinen ein (subjektives) Strafverfahren verstanden[24], das eine andere prozessuale Tat betrifft, nicht aber ein dieselbe Tat betreffendes, jedoch anders strukturiertes Verfahren. Die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung liegen jedoch vor. Für die Weiternutzung von im subjektiven Verfahren erlangten Erkenntnissen in einem anschließenden objektiven Verfahren besteht eine Regelungslücke. In Anbetracht dessen, dass der Gesetzgeber offensichtlich davon ausgeht, dass es möglich sei, nach Abschluss der Ermittlungen in einem subjektiven Verfahren ggf. in das objektive Verfahren überzuleiten, ohne die Ermittlungsergebnisse sämtlich neu erheben zu müssen[25], erweist sich diese Lücke als planwidrig.
Daher ist analog § 479 Abs. 2 S. 1 StPO i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO zu prüfen, ob eine im subjektiven Strafverfahren erlangte Erkenntnis auch im objektiven Verfahren (im Sinne einer hypothetischen Datenneuerhebung[26]) hätte erlangt werden können.[27]
Hierbei kommt nunmehr insbesondere der Beschränkung des § 435 Abs. 4 StPO maßgebliche Bedeutung zu. Danach sind insbesondere die in den §§ 98a, 99, 100a bis 100f, 100h, 100i, 110a, 163d bis 163g StPO genannten Maßnahmen im objektiven Verfahren ausgeschlossen. Erkenntnisse, die aus diesen – im subjektiven Verfahren zulässigen – Maßnahmen stammen, hätten somit im objektiven Verfahren nicht erlangt werden können. Sie dürfen daher im objektiven Verfahren auch nicht (weiter-)verwendet und so im Ergebnis nicht für die Anordnung einer selbstständigen Einziehung herangezogen werden.[28]
Ergänzend sei betont, dass dieses Ergebnis auch von Vertretern der Gegenansicht nicht grundsätzlich in Abrede gestellt wird. Vielmehr wird das hier gefundene Ergebnis auch danach jedenfalls für die Maßnahmen der Wohnraumüberwachung und der Online-Durchsuchung bzw. die hieraus erlangten Informationen für richtig gehalten.[29] Insofern unterscheidet sich die hier vertretene Auffassung nicht grundsätzlich, sondern nur hinsichtlich der Reichweite von der Gegenauffassung. Die sogleich skizzierten Unstimmigkeiten stellen sich daher letztlich nach jeder Auffassung.
Konträr zu den soeben skizzierten Überlegungen steht die Rechtslage, wenn – wie vom Großen Strafsenat nunmehr ausdrücklich gebilligt – die (selbstständige) Einziehung im subjektiven Verfahren angeordnet wird. Hierbei können sämtliche zuvor gewonnenen Erkenntnisse dem Urteil – und damit auch der Entscheidung über die selbstständige Einziehung als Teilaspekt hiervon – zugrunde gelegt werden.[30]
Zwar beruht die Rechtfertigungsbedürftigkeit einer Weiternutzung nicht auf einem formalen Verfahrenswechsel, sondern allein auf der Änderung des Verwendungszwecks im Vergleich zum Erhebungszweck. Soweit aber in einem subjektiven Verfahren Erkenntnisse gesammelt und dieses subjektive Verfahren schließlich durch ein Urteil abgeschlossen wird, werden die Erkenntnisse letztlich zu demselben Zweck verwendet, zu dem sie erhoben wurden.
Es zeigt sich, dass es einen grundlegenden und für die Praxis höchst relevanten Unterschied macht, ob die selbstständige Einziehung noch im subjektiven Verfahren oder erst nach Übergang in ein objektives Verfahren angeordnet werden kann. Im ersten Fall können sämtliche im (subjektiven) Ermittlungsverfahren erlangten Erkenntnisse zur Begründung der Einziehungsentscheidung herangezogen werden. Im zweiten Fall kann sich das Gericht diesbezüglich nur auf solche Erkenntnisse stützen, die es auch im objektiven Ermittlungsverfahren, d.h. namentlich unter der Beschränkung des § 435 Abs. 4 StPO, hätte erheben dürfen.[31]
Angesichts dessen kann kaum davon gesprochen werden, dass die Entscheidung des Großen Strafsenates allein prozessökonomisierend wirke.[32] Vielmehr eröffnet sie den Strafgerichten bei der Anordnung selbstständiger Einziehung Beweismittel, die im objektiven Verfahren nicht zur Verfügung gestanden hätten. Eine Begründung für diese Ungleichbehandlung liefert der Große Strafsenat nicht. Es ist auch nicht ersichtlich, warum derart profunde Beweisfragen davon anhängen sollten, ob sich z.B. die Verjährung der Anlasstat bereits im Ermittlungsverfahren herausstellt (und dann statt Anklageerhebung nur noch ein objektives Verfahren für die Anordnung selbstständiger Einziehung offensteht) oder erst im Hauptverfahren.[33]
Dass der Große Strafsenat diese rechtsdogmatischen Dissonanzen in seinen Gründen nicht angesprochen und den § 435 Abs. 4 StPO argumentativ allenfalls gestreift hat[34], ist misslich. Gleichwohl stellt die oben ausgeführte Friktion die Richtigkeit der Entscheidung nicht zwingend infrage. Statt dem Großen Strafsenat vorzuwerfen, er habe dogmatische Unstimmigkeiten geschaffen, könnte man das aufgeworfene Problem auch als Symptome einer gesetzgeberischen Fehlkonstruktion diagnostizieren.[35] Der § 435 Abs. 4 StPO ist seinerseits rechtspolitisch durchaus fragwürdig.[36]
Schon die der Regelung zugrundeliegende Annahme des Gesetzgebers, wonach die Ermittlungsbefugnisse im objektiven Verfahren wegen des weniger gewichtigen Zweckes[37] unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit begrenzt werden müssen[38], stößt zum Teil auf Ablehnung.[39] Darüber hinaus wird kritisiert, dass die Vorschrift systematisch inkonsequent positioniert ist.[40] Basiert die Beschränkung des § 435 Abs. 4 StPO nämlich auf dem Gedanken der Verhältnismäßigkeit bezüglich nicht-beschuldigten Einziehungsbeteiligten, so wäre diese Überlegung nicht auf das objektive Verfahren zu beschränken, sondern müsste konsequenterweise auch dem nicht-beschuldigten Einziehungsbeteiligten im subjektiven Verfahren zugutekommen. Insofern widerspricht die – der systematischen Stellung des § 435 Abs. 4 StPO zu entnehmende – Beschränkung der Norm auf das objektive Verfahren ihrem Telos.[41]
Eine Erstreckung der Regelung auch auf das subjektive Verfahren würde dieser Kritik zwar entgegenkommen und die oben beschriebenen Unstimmigkeiten beseitigen. Allerdings bliebe auch dann ein – bisher nicht diskutierter – systematischer Bruch zwischen § 435 Abs. 4 StPO und § 459g Abs. 3 StPO bestehen: Nach § 459g Abs. 3 StPO kann sich die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde bei der Vollstreckung einer rechtskräftigen Einziehungsforderung zusätzlicher, ansonsten bei der Strafvollstreckung nicht vorgesehener Maßnahmen bedienen. Unter diesen in § 459g Abs. 3 S. 1 StPO abschließend aufgelisteten Maßnahmen findet sich auch die Durchsuchung nach § 102 StPO; eine solche wird wiederum von § 435 Abs. 4 StPO ausgeschlossen. Die Folge ist, dass der Staatsanwaltschaft in der Vollstreckung einer (rechtskräftig abgeurteilten) Einziehung eingriffsintensivere Mittel zur Verfügung stehen als bei den diesbezüglichen Ermittlungen im objektiven Verfahren. Der nicht-beschuldigte Einziehungsbeteiligte wird einerseits zwar durch § 435 Abs. 4 StPO im (objektiven) Ermittlungsverfahren aus Verhältnismäßigkeitsgründen geschont, muss andererseits jedoch im Vollstreckungsverfahren schwerere Grundrechtseingriffe dulden als jeder verurteilte Straftäter bei der Beitreibung einer Geldstrafe. Die diesem Wertungswiderspruch zugrundeliegende mangelhafte gesetzgeberische Abstimmung der Verfahrensstadien ist vor allem deshalb wenig nachvollziehbar, weil sich die die Verhältnismäßigkeit betonende Gesetzbegründung zu § 435 Abs. 4 StPO[42] in der BT-Drs. 19/27654 unmittelbar vor der Begründung zu § 459g Abs. 3 StPO, die allein die Effektivität der Vermögensabschöpfung in den Blick nimmt[43], befindet. Insofern wird die Problematik bereits bei bloßer Lektüre der BT-Drs. 19/27654 augenfällig.
Im Ergebnis sind zwar die Ansätze einer Eingrenzung der Einziehung aufgrund von Verhältnismäßigkeitsüberlegungen ohne weiteres zu begrüßen. Jedoch erweist sich ihre Ausgestaltung in § 435 Abs. 4 StPO mindestens als unausgereift und (sowohl hinsichtlich der systematischen Verortung im objektiven Verfahren als auch mit Blick auf § 459g Abs. 3 StPO) insgesamt als inkonsequent ausgestaltet. Im Rahmen seiner Reform im Jahr 2017 hatte der Gesetzgeber vor allem die Effektivität der Vermögensabschöpfung – vom BVerfG als überragend wichtigen Gemeinwohlbelang geadelt[44] – in den Fokus gestellt. Sofern nunmehr die Verhältnismäßigkeit in den Blick rücken soll[45], führen allein punktuelle Korrekturen – wie die
durch die Ausgestaltung des § 435 Abs. 4 StPO hervorgerufenen Friktionen belegen – nicht weit.
Für die Rechtswissenschaft bleibt die Frage, wie den hier aufgezeigten Problemen begegnet werden kann: Indem man der Entscheidung des Großen Strafsenates entgegentritt? Oder indem man Kritik an der gesetzgeberischen Konzeption des § 435 Abs. 4 StPO übt? Bedenkt man, dass sich der dogmatische Bruch[46] gerade aus dem Zusammenwirken von § 435 Abs. 4 StPO als originär dem objektiven Verfahren zugeordnete Regel und der Auffassung des Großen Strafsenates ergibt, sind beide Ansätze denkbar. Das Wechselspiel beider Aspekte im Rahmen der Entscheidung des Großen Strafsenates macht die jeweilige Kritik, d.h. die rechtsdogmatische Kritik am Beschluss des Großen Strafsenates und die rechtspolitische Kritik an § 435 Abs. 4 StPO, gewissermaßen perspektivisch.
Weniger offen fällt das Fazit de lege lata aus. Trotz der berechtigten rechtspolitischen Zweifel kann die Regelung des § 435 Abs. 4 StPO nicht einfach übergangen oder aus ihrem systematischen Kontext herausgelöst werden; die Kritik entbindet den Rechtsanwender nicht von der Geltung der Norm. Mag man auch die oben[47] dargelegten dogmatischen Dissonanzen – nicht unberechtigterweise – als Folge gesetzesimmanenter Ungereimtheiten ansehen, so bringt diese Erkenntnis doch keine Lösung. Denn mit einem Verweis auf den gesetzgeberischen Willen lassen sich die durch die aktuelle Fassung des § 435 Abs. 4 StPO hervorgerufenen dogmatischen Brüche gerade nicht begründen. Die Praxis wird sich daher mit den Spannungen auseinandersetzen müssen, die – je nach Perspektive – durch den Beschluss des Großen Strafsenates hervorgerufen wurden bzw. zwar de lege lata angelegt sind, aber durch den Beschluss des Großen Strafsenates flagrant geworden sind.[48] Die Entscheidung des Großen Strafsenates ist jedenfalls insofern kritikwürdig, als sie sich hiermit argumentativ nicht genügend auseinandersetzt.
Einen Lichtblick gibt es jedoch de lege ferenda: Die 93. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister hat in ihrer Herbstkonferenz vom 10. November 2022 – auch in Anbetracht des Vorlagebeschlusses des 3. Strafsenates – deutlich zum Ausdruck gebracht, "dass die gegenwärtige rechtliche Regelung der §§ 435 ff. Strafprozessordnung zum Übergang vom subjektiven Verfahren in das objektive Einziehungsverfahren für jene Fallkonstellationen unnötig kompliziert ausgestaltet ist, in denen die selbständige Einziehung aus der Hauptverhandlung heraus gegen die zuvor angeklagte Person oder gegen eine solche Person beantragt wird, deren Einziehungsbeteiligung bereits im subjektiven Verfahren angeordnet worden war".[49] Entsprechend wurde der Bundesminister für Justiz aufgefordert, einen gesetzlichen Regelungsvorschlag zu unterbreiten, und der Strafrechtsausschuss der Konferenz um die Einrichtung einer diesbezüglichen Arbeitsgruppe gebeten.[50] Konkrete Ergebnisse stehen noch aus. Nachdem das Problem jedoch grundsätzlich erkannt wurde, bleibt zu hoffen, dass bald eine dogmatisch konsistente und zugleich praktikable(re) Lösung gefunden wird – wobei eine solche angesichts der hier skizzierten Erwägungen nicht ohne eine grundlegende Befassung mit § 435 Abs. 4 StPO auskommen dürfte.
[*] Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Kanzlei NEUWERK sowie Rechtsreferendar am Hanseatischen Oberlandesgericht.
[1] BGHSt 66, 83 = HRRS 2022 Nr. 36; anders noch BGH HRRS 2021 Nr. 158 Rn. 10.
[2] BGH HRRS 2022 Nr. 671.
[3] BGH HRRS 2023 Nr. 308.
[4] BGH Beschl. v. 30. März 2022 – 4 ARs 15/21 zitiert nach BGH HRRS 2023 Nr. 1418 Rn. 11.
[5] BGH HRRS 2022 Nr. 299.
[6] El-Ghazi NStZ 2022, 255; Lantermann NStZ-RR 2022, 85; Zivanic JR 2022, 196; Zivanic JR 2023, 240; Hüls ZWH 2023, 239; ebenso hierzu NK-StGB/Saliger, 6. Aufl. (2023), § 76a Rn. 13.
[7] Beifällig Deutscher StRR 2024, 20, 22.
[8] Überdies sei auch die Anmerkung von Eberz NZWiSt 2024, 66 verwiesen.
[9] Hierzu nun erstmals Eberz NZWiSt 2024, 66, 68 f.
[10] Eingehend hierzu erstmals Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 165 ff.
[11] Statt aller BVerfGE 141, 220 Rn. 275 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rspr. des BVerfG.
[12] BVerfGE 141, 220 Rn. 296.
[13] Deutlich BVerfGE 141, 220 Rn. 285.
[14] Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 165.
[15] BT-Drs. 19/27654, S. 110.
[16] So Löwe/Rosenberg/Gaede, 27. Aufl. (2022), StPO § 435 Rn. 63; zustimmend Eberz NZWiSt 2024, 66, 68.
[17] So wohl Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 165 f.
[18] Ähnlich die Formulierung von Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 165 f.
[19] Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 166.
[20] Statt vieler Singelnstein NStZ 2020, 639, 640 auch unter Verweis auf § 500 Abs.1 StPO i.V.m. § 47 Nr. 2 BDSG sowie m.w.N.
[21] BVerfGE 65, 1 = NJW 1984, 419 (427).
[22] A.A. Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 166.
[23] Auf die diese Regelung ergänzenden Normen, z.B. § 100e Abs. 6 StPO, kommt es wegen der Beschränkungen des § 435 Abs. 4 StPO nicht an.
[24] Statt aller Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, 66. Aufl. (2023), StPO § 479 Rn. 3.
[25] BT-Drs. 19/27654, S. 109.
[26] Eingehend zu diesem Begriff Schneider GSZ 2022, 1.
[27] Ebenso das Verständnis von § 161 Abs. 3 StPO im Kontext des objektiven Verfahrens bei Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 166 f.
[28] A.A. grundsätzlich Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 166.
[29] Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 166 in Fn. 53 unter Verweis auf die diesbezüglichen Besonderheiten nach BVerfGE 162, 1 = NJW 2022, 1583 Rn. 228; anders scheinbar Eberz NZWiSt 2024, 66, 68, jedoch ohne Auseinandersetzung.
[30] Ebenso Eberz NZWiSt 2024, 66, 68.
[31] Diese Gegenüberstellung findet sich auch bei Eberz NZWiSt 2024, 66, 68, jedoch ohne die Schlussfolgerung einer hierin liegenden Dissonanz.
[32] So aber Deutscher StRR 2024, 20, 22; ähnlich El-Ghazi NStZ 2022, 255, 256; Hüls ZWH 2023, 239, 242; Eberz NZWiSt 2024, 66, 69.
[33] Zurecht weist Eberz NZWiSt 2024, 66, 69 darüber hinaus darauf hin, dass bei "willkürliche[r]Verkennung der eingetretenen Verjährung durch die Strafverfolgungsbehörden[…]in Bezug auf die unbeschränkt ermittelten Tatsachen ein Beweisverwertungsverbot in Betracht kommen" könnte.
[34] BGH HRRS 2023 Nr. 1418 Rn. 54.
[35] In diese Richtung könnten auch die Überlegungen von Eberz NZWiSt 2024, 66, 68 f. zu deuten sein, die aus der beweisrechtlichen Unterschiedlichkeit zwischen der Anordnung selbstständiger Einziehung im subjektiven bzw. objektiven Verfahren keinen dogmatischen Konflikt ableiten.
[36] Eingehend Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 163 ff.
[37] Siehe hierzu oben unter II.1.a).
[38] BT-Drs. 19/27654, S. 110.
[39] Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 163 f. m.w.N. zu zustimmenden Stimmen in der Literatur.
[40] BeckOK StPO/Temming, 50. Ed. (1.1.2024), § 435 Rn. 13.1.
[41] BeckOK StPO/Temming, 50. Ed. (1.1.2024), § 435 Rn. 13.1 ("Die Regelung ist mithin in § 435 falsch verortet und müsste eher in § 424 enthalten sein.”); zustimmend Zimmermann NZWiSt 2023, 161, 164.
[42] BT-Drs. 19/27654, S. 109 f.
[43] BT-Drs. 19/27654, S. 110 f., auch unter Verweis auf BT-Drs. 18/11640, S. 89.
[44] BVerfGE 156, 354 = HRRS 2021 Nr. 280 Rn. 161 ff.
[45] Hierfür plädierten bereits frühzeitig Rönnau/Begemeier NZWiSt 2016, 260 ("Um Taterträge effektiver abschöpfen zu können, schlägt der RefE vor, mit Kanonen auch auf Spatzen zu schießen. Dem ist energisch zu widersprechen.").
[46] Siehe unter II.3.
[47] Ausführlich unter II.
[48] Anders offenbar Eberz NZWiSt 2024, 66, 68 f.
[49] Ziffer 2 des Beschlusses zu TOP II.13 der Herbstkonferenz der 93. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister (abrufbar unter https://t1p.de/15bmj; zuletzt abgerufen am 7. Februar 2024).
[50] Ziffer 3 u. 4 des Beschlusses zu TOP II.13 der Herbstkonferenz der 93. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister (abrufbar unter https://t1p.de/15bmj; zuletzt abgerufen am 14. März 2024); hierzu auch Bittmann WiJ 2024, 81, 82.