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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Januar 2023
24. Jahrgang
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1. Die Verurteilung des Teilnehmers eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens, bei dem ein unbeteiligter Verkehrsteilnehmer zu Tode gekommen ist („Ku’damm-Raser-Fall“), wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot, wenn die Strafgerichte auf der Grundlage der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit und (lediglich) ausgehend von der besonderen Gefährlichkeit der Wettfahrt zu dem Ergebnis gelangen, dass die festgestellten Umstände des Einzelfalls bei einer Gesamtschau das Vorhandensein des Wissens- und des Willenselements der inneren Tatseite belegen (Folgeentscheidung zu BGH, Urteil vom 18. Juni 2020 - 4 StR 482/19 – [= HRRS 2020 Nr. 1008]).
2. Es führt nicht zu einer unzulässigen Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen, dass ein tatsächlicher Umstand Beweisbedeutung für unterschiedliche Tatbestandsmerkmale haben kann – wie hier die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung als wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch das Willenselement. Ebensowenig berührt es eine Verschleifungsfrage, dass ein mit Verletzungsvorsatz handelnder Täter nicht nur ein Verletzungsdelikt, sondern tateinheitlich dazu ein konkretes Gefährdungsdelikt verwirklichen kann. Auf das Verhältnis mehrerer selbstständiger Straftatbestände zueinander ist das Verschleifungsverbot nicht übertragbar; insoweit stellen sich vielmehr in erster Linie Konkurrenzfragen.
3. Die Annahme eines vorsätzlichen Tötungsdelikts verletzt hier auch nicht den in der Menschenwürde und im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Schuldgrundsatz; denn Grundlage für die Bestimmung des Schuldgehalts und der Strafhöhe sind die einzelfallbezogenen Feststellungen zur individuellen Vorwerfbarkeit der Tat.
4. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie. Ausgeschlossen ist danach jede Rechtsanwendung, die tatbestandsausweitend über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht, wobei der mögliche Wortlaut als äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation aus der Sicht des Normadressaten zu bestimmen ist.
5. Die Rechtsprechung trifft eine Verpflichtung, verbleibende Unklarheiten über den Anwendungsbereich einer Norm durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung nach Möglichkeit auszuräumen (Präzisierungsgebot). Dies gilt insbesondere bei Tatbeständen, die der Gesetzgeber im Rahmen des Zulässigen durch Verwendung von Generalklauseln verhältnismäßig weit und unscharf gefasst hat und bei denen sich erst aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage für ihre Auslegung und Anwendung gewinnen lässt.
6. Das Bestimmtheitsgebot verbietet es den Gerichten, einzelne Tatbestandsmerkmale auch innerhalb ihres möglichen Wortsinns so weit auszulegen, dass sie vollständig in anderen Tatbestandsmerkmalen aufgehen, also zwangsläufig mit diesen mitverwirklicht werden (Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen).
7. Bei Tötungsdelikten besteht für die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung. Diese ist mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, wenngleich sie seitens der Strafrechtswissenschaft teilweise Kritik ausgesetzt ist und bestimmte – allerdings hinnehmbare – Randunschärfen aufweist.
8. Bedingter Tötungsvorsatz ist danach gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten.
9. Bei der Annahme bedingten Vorsatzes müssen sowohl das Wissenselement als auch das Willenselement in jedem Einzelfall anhand einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Die objektive Gefährlichkeit einer Handlung stellt dabei zwar jeweils einen wesentlichen Indikator dar, ist jedoch ebenso wie der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts kein allein maßgebliches Kriterium für die Entscheidung.
1. Die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen betreffend die Anordnung der Justizvollzugsanstalt, ihn während einer geplanten Ausführung in eine kirchliche Begegnungsstätte zu fesseln und von uniformierten Bediensteten begleiten zu lassen, ist mangels fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, wenn die Ausführung zwischenzeitlich stattgefunden hat und der Gefangene, der während des gesamten Aufenthalts am Zielort ungefesselt war, nicht darlegt, inwieweit er gleichwohl einem besonders belastenden Grundrechtseingriff ausgesetzt war (Hauptsacheentscheidung nach Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung durch Beschluss vom 11. Januar 2022 [= HRRS 2022 Nr. 142]).
2. Bei Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur dann fort, wenn entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtigt.
3. Den Beschwerdeführer trifft bei entscheidungserheblicher Veränderung der Sach- und Rechtslage eine Begründungslast für das Fortbestehen der Annahme- und Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde.