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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2022
23. Jahrgang
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1. Bei der Entscheidung des Vorsitzenden, ob die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen ist, wenn aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist, ist das Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung eines bisherigen, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers gegenüber der insbesondere in Haftsachen gebotenen Verfahrensbeschleunigung abzuwägen. Dem Vorsitzenden steht dabei ein Beurteilungsspielraum zu.
2. Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nach § 144 StPO stellt gegenüber der Entpflichtung des ersten Pflichtverteidigers kein milderes Mittel dar. Denn diese dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung durchgehend anwesend zu sein hat.
Reicht der Verteidiger die Revisionsschrift abweichend von § 32a Abs. 2 Satz 2 StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1, § 14 ERVV im Dateiformat „docx“ ein, führt das noch nicht zur Formungültigkeit der Prozesserklärungen. § 32a Abs. 2 Satz 1 StPO setzt voraus, dass das elektronische Dokument „für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet“ sein muss. Dieses Erfordernis geht über eine rein formale Prüfung hinaus. Eine Formunwirksamkeit soll nur dann eintreten, wenn der Verstoß dazu führt, dass im konkreten Fall eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist. Demgegenüber führen rein formale Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn das Gericht das elektronische Dokument gleichwohl bearbeiten kann.
Für die sichere Übermittlung über ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach gemäß § 32a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 StPO muss das Dokument über das Postfach desjenigen Verteidigers oder Rechtsanwalts übertragen werden, dessen Name als Signatur in der Schrift als verantwortende Person aufgeführt ist.
Nach der seit dem 1. Januar 2022 geltenden Vorschrift des § 32d Satz 2 StPO müssen Verteidiger und Rechtsanwälte die Revision und ihre Begründung als elektronisches Dokument übermitteln. Insoweit handelt es sich um eine Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung der jeweiligen Prozesshandlung, welche bei Nichteinhaltung deren Unwirksamkeit zur Folge hat.
1. Eine Vorlagepflicht besteht nach § 121 Abs. 2 GVG dann, wenn ein Oberlandesgericht in den dort genannten Fällen in tragender Weise von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder eines anderen Oberlandesgerichts abweichen will, sich mithin das rechtliche Ergebnis der beabsichtigten von demjenigen der fremden Entscheidung unterscheidet. Die Abweichung muss eine Rechtsfrage betreffen, die in der früheren Entscheidung beantwortet ist und die sich bei der beabsichtigten Entscheidung in identischer Weise stellt; weisen der Sachverhalt der Vorentscheidung und jener der zu treffenden Entscheidung in wesentlichen Beziehungen Verschiedenheiten auf, so dass die sich in beiden Fällen stellende Rechtsfrage unterschiedlich beantwortet werden kann, besteht – ausgehend vom Zweck des § 121 Abs. 2 GVG, die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung zu sichern.
2. § 335 Abs. 3 Satz 1 StPO bezweckt in erster Linie, zu verhindern, dass ein Verfahren durch verschiedenartige Anfechtung in zwei unterschiedliche Rechtszüge gerät und will sich widersprechende Entscheidungen in einer Sache vermeiden. Ihm liegen zumindest auch prozessökonomische Erwägungen zugrunde.
Aus dem Schuldprinzip folgt die Verpflichtung der Strafgerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen. Diese Pflicht darf nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert werden. Es ist unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zu Grunde zu legen, der nicht auf einer erkennbaren Überzeugungsbildung unter Ausschöpfung des Beweismaterials beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte geständig gezeigt hat. Die Beschränkung der Beweiswürdigung im Wesentlichen auf den bloßen Hinweis, der Angeklagte sei geständig gewesen, genügt insbesondere dann nicht, wenn aufgrund der Komplexität und der zahlreichen Details des festgestellten Sachverhalts Zweifel bestehen können, dass der Angeklagte an das Tatgeschehen eine auch in den Einzelheiten genügende Erinnerung hat. Auch genügt es nicht, das Geständnis des Angeklagten durch bloßen Abgleich des Erklärungsinhalts mit der Aktenlage zu überprüfen, weil dies keine hinreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung darstellt.
Nach § 257c Abs. 5 StPO ist ein Angeklagter vor der Verständigung über die Voraussetzungen und Folgen der nach
§ 257c Abs. 4 StPO möglichen Abweichung des Gerichts von dem in Aussicht gestellten Ergebnis zu belehren. Es kann die Revision insoweit auch begründen, wenn der Vorsitzende der Strafkammer den Angeklagten ausschließlich darüber belehrt, unter welchen Voraussetzungen sich das Gericht von seiner Verständigungszusage lösen darf (§ 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO), sowie über die Pflicht, ein Abweichen unverzüglich mitzuteilen (§ 257c Abs. 4 Satz 4 StPO).
Der Verzicht des Angeklagten auf sämtliche weitere Prozessanträge gegen die Zusicherung eines Strafrahmens im Rahmen einer Verständigung ist unzulässig. Allenfalls einzelne Anträge können zum Gegenstand der Verständigung gemacht werden.
1. Die dreimonatige Antragsfrist (§ 77b Abs. 1 Satz 1 StGB) beginnt zu laufen, sobald der Vater oder die Mutter von der Tat oder dem Täter Kenntnis erlangt haben.
2. Auch Gesetzesverletzungen, die wegen des Fehlens einer Prozessvoraussetzung oder wegen eines Prozesshindernisses nicht verfolgt werden können, können bei der Strafzumessung zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden.
1. Wenn sich das Tatgericht darauf beschränkt, sich der Beurteilung eines Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit anzuschließen, muss es dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.).
2. Nimmt das Tatgericht an, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Tatbegehung erheblich vermindert war (§ 21 StGB), so hat es zu berücksichtigen, dass eine Tatintensität („extreme Vernichtungsabsicht“; „Overkill“) einem Täter nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden darf, wenn sie in vollem Umfang vorwerfbar ist, nicht aber, wenn ihre Ursache in einer von ihm nicht oder nur eingeschränkt zu vertretenen geistig-seelischen Beeinträchtigung liegt.
3. Es erschwert die Lesbarkeit eines Strafurteils, wenn der (einzige) Angeklagte durchgehend mit seinen Vor- und Zunamen und nicht mit seiner korrekten gesetzlichen Bezeichnung (vgl. § 157 StPO) benannt wird.
1. Schließt sich das Tatgericht bei seiner Beurteilung der Schuldfähigkeit oder der Voraussetzungen einer Maßregelentscheidung den Ausführungen des Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Fall der Mitwirkung eines aktuellen Substanzkonsums an dem bei der Tatbegehung bestehenden psychotischen Zustand dann in Betracht, wenn der Täter in krankhafter Weise alkohol- oder betäubungsmittelüberempfindlich ist, an einer krankhaften Sucht leidet oder aufgrund eines psychischen Defektes süchtig ist, der,
ohne pathologisch zu sein, in seinem Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gleichsteht. Einer Überempfindlichkeit in diesem Sinne kann im Einzelfall auch eine wiederholt auftretende massive psychotische Überreaktion auf den Substanzkonsum gleichstehen.
3. Gemäß § 64 Satz 2 StGB darf die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur angeordnet werden, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Angeklagten innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf seinen Hang zurückgehen. Sofern sich dies nicht von selbst versteht, ist es dazu erforderlich, unter Berücksichtigung der Art und des Stadiums der Sucht sowie bereits eingetretener physischer und psychischer Veränderungen und Schädigungen in der Persönlichkeit und den Lebensumständen des Beschuldigten konkrete Anhaltspunkte zu benennen, die dafür sprechen, dass es innerhalb eines zumindest erheblichen Zeitraums nicht (mehr) zu einem Rückfall kommen wird. Die bloße Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung vermag die Prognose eines hinreichend konkreten Therapieerfolgs nicht zu stützen. Notwendig, aber auch ausreichend, ist eine durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit des Behandlungserfolgs; einer sicheren oder unbedingten Gewähr bedarf es nicht.
Eine Inkonstanz in den Bekundungen eines Zeugen stellt einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit der Angaben insgesamt dar, wenn sie nicht mehr mit natürlichen Gedächtnisunsicherheiten erklärt werden kann. Bei der Schilderung von körpernahen Ereignissen ist im Allgemeinen zu erwarten, dass der Zeuge insbesondere Körperpositionen bei der Haupthandlung auch über längere Intervalle in Erinnerung behält.
Das Erreichen des Termins des § 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB („Zweidrittel-Zeitpunkt“) hat für sich genommen nicht zur Folge, dass der weitere Vollzug der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wäre.
Für einen ordnungsgemäßen Revisionsvortrag (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) genügt es nicht, die für unterschiedliche Beanstandungen möglicherweise relevanten Verfahrenstatsachen im Sinne einer Nacherzählung der Hauptverhandlung zu referieren, denn es ist nicht die Aufgabe des Revisionsgerichts, sich aus einem umfangreichen Konvolut von Unterlagen das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen und dabei den Sachzusammenhang selbst herzustellen; stattdessen wäre es erforderlich, bezogen auf die konkrete Rüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen.