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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2022
23. Jahrgang
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1. Haben die Ermittlungsbehörden in einem Strafverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung bei einer Durchsuchung zahlreiche Unterlagen zur Durchsicht mitgenommen (§ 110 StPO), so begegnet es unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sie die richterliche Beschlagnahme der Unterlagen ohne erkennbaren sachlichen Grund erst über fünf Jahre später und erst zu einem Zeitpunkt beantragen, zu dem sie bereits mit der Auswertung begonnen haben.
2. Die hierin liegenden Verfahrensverstöße kann der Beschuldigte im Wege eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO einer fachgerichtlichen Klärung zuführen. Unterlässt er dies und bringt er den Einwand einer unzumutbar langen Dauer der vorläufigen Sicherstellung erst gegenüber der Beschlagnahmeanordnung vor, so ist eine insoweit erhobene
Verfassungsbeschwerde wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig.
3. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Durchsicht vorläufig sichergestellter Unterlagen zügig durchgeführt wird, um abhängig von der Menge des Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Belgien für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 Abs. 1 GRCh und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Einhaltung der zwingenden Mindestangaben im Europäischen Haftbefehl hinsichtlich der vorgeworfenen Straftaten und der Beschreibung der diesen zugrundeliegenden Umstände nur unzureichend überprüft hat.
1. Die Aufrechterhaltung der Überwachung von Telefonaten eines Untersuchungsgefangenen mit seinen Eltern mit Blick auf mögliche Verdunkelungshandlungen genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht nicht hinreichend darlegt, inwieweit ungeachtet der bereits eingetretenen Rechtskraft des Schuldspruchs konkret zu erwarten ist, dass der geständige, im Rahmen der Hauptverhandlung durch einen psychiatrischen Sachverständigen begutachtete und in anderer Sache bereits in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Angeklagte in einer Weise auf seine Eltern Einfluss nehmen wird, dass dies anstelle der zuvor angeordneten Sicherungsverwahrung die ungerechtfertigte Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bewirken könnte. 2. Die Beschränkung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen außerdem dann nicht, wenn das Gericht das Gewicht des Eingriffs in den grundrechtlich geschützten persönlichen Lebensbereich und in Art. 6 Abs. 1 GG nicht hinreichend berücksichtigt, sondern die Grundrechte lediglich abstrakt benannt hat, ohne die familiäre Situation des Angeklagten, die Haftbedingungen und insbesondere die Dauer der bereits seit etwa zweieinhalb Jahren währenden Überwachung der Telefonate erkennbar näher zu würdigen.
3. Die akustische Überwachung der Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen stellt einen erheblichen Eingriff in den grundrechtlich geschützten persönlichen Lebensbereich sowohl des Gefangenen als auch seines Gesprächspartners dar. § 119 Abs. 1 StPO bildet grundsätzlich eine zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen und – gemäß § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO – auch des Strafgefangenen, für den die nach § 116b Satz 2 StPO nachrangig zu vollstreckende Untersuchungshaft angeordnet ist.
4. Die Auslegung und Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO hat dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit prägt daher den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße.
5. Die teilweise vertretene Auffassung, an die Verhältnismäßigkeit einer Telekommunikationsüberwachung seien weniger strenge Anforderungen zu stellen als bei der akustischen Überwachung von Besuchen, weil nicht kontrolliert werden könne, mit wem die Telefonate geführt würden, verfängt jedenfalls in Fällen nicht, in denen dem Gefangenen lediglich die Erlaubnis zu Telefonaten mit bestimmten Personen erteilt worden ist.
6. Voraussetzung für Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke, der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Für eine solche Gefahr müssen im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht demgegenüber nicht aus.
7. Betrifft die Beschränkung die Kommunikation mit engen Familienangehörigen, so bedarf es angesichts des damit verbundenen Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG einer eingehenden, auch die Dauer der Untersuchungshaft einbeziehenden und am Kriterium der Zumutbarkeit orientierten Prüfung dahingehend, ob die Maßnahme mit Blick auf den Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung im Vollzug unverzichtbar ist. Dies gilt insbesondere, wenn die eingeschränkte Kommunikation eine der wenigen Möglichkeiten des Betroffen zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit seiner Familie darstellt.
Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Türkei zum Zwecke der Straf-vollstreckung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Grundrecht des Verfolgten aus Art. 19 Abs. 4 GG und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht nicht hinreichend aufgeklärt hat, ob die prozessualen Mindestrechte des in Abwesenheit verurteilten Verfolgten gewahrt worden sind, und wenn es in Bezug auf eine Zusicherung der türkischen Behörden keine eigene Gefahrenprognose vorgenommen hat.