HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2022
23. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zur Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten als Prozessvoraussetzung des Sicherungsverfahrens

Zugleich Anm. zu BGH HRRS 2022 Nr. 717

Von Prof. Dr. Holm Putzke, LL.M. (Krakau)/Prof. Dr. Jörg Scheinfeld[*]

I. Einleitung

In § 413 StPO heißt es: "Führt die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit des Täters nicht", kann – mit dem Ziel der Verhängung einer Maßregel der Besserung und Sicherung – das Sicherungsverfahren durchgeführt werden. Ist für solche Verfahren die Vernehmungsfähigkeit des Verfolgten nötig? In Rechtsprechung und Literatur wird diese Frage zum Teil bejaht.[1] "Nein" zur Vernehmungsfähigkeit als Prozessvoraussetzung des Sicherungsverfahrens sagt jetzt der 5. Strafsenat des BGH.[2]

II. Die Auslegung des 5. Strafsenats

Seine Antwort begründet er aus dem Regelungszusammenhang der §§ 413 ff. StPO, 71 Abs. 1 StGB: Der Zweck des Sicherungsverfahrens, die Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern zu schützen, stehe der Auslegung entgegen, für die im Sicherungsverfahren nötigen

Stellungnahmen des Beschuldigten dessen Vernehmungsfähigkeit zu verlangen (Rz. 7). Daran ändere auch § 415 StPO nichts, der in seinen Absätzen 2 und 3 die Vernehmung des Beschuldigten anordne; denn gemäß Absatz 3 könne (nach der Vernehmung des Beschuldigten) sogar ohne ihn zur Sache verhandelt werden (Rz. 9) und der Wortlaut verlange eben nur diese Vernehmung, die "auf die Besonderheiten des Sicherungsverfahrens zugeschnitten und in dem Sinne zu verstehen" sei, "dass sich das Gericht wenigstens mittelbar einen Eindruck von der Persönlichkeit und dem Zustand des Beschuldigten verschaffen" könne sowie "ihm die Möglichkeit geben" solle, "Gehör zu finden" (Rz. 10). Sähe man es anders und verlangte man die Vernehmungsfähigkeit, liefe das Sicherungsverfahren weitgehend leer, weil sich Verhandlungsfähigkeit und Vernehmungsfähigkeit nicht substantiell unterschieden und die Verhandlungsunfähigkeit nach § 413 StPO gerade einen Anlass für das Sicherungsverfahren biete (Rz. 11, 14). Die Interessen des vernehmungsunfähigen Beschuldigten würden hinreichend geschützt über § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO und die dort bestimmte Anordnung der notwendigen Verteidigung (Rz. 15).

III. Kritik

1. Teleologische und systematische Zirkelschlüsse

Die kompakte Begründung des Senats ist auf den ersten Blick und für sich genommen eingängig. Insbesondere der Hinweis auf das – dem Verfahren nach §§ 413 ff. StPO zugrunde liegende – Sicherungsinteresse, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, scheint die Sicht des Senats als naheliegend auszuweisen. Aber gerade an dieser Stelle offenbart sich eine Lücke in der teleologischen Argumentation, weil der Senat das gefahrenabwehrrechtliche Verfahren nach Landesrecht nicht erwähnt. Es ist ja nicht so, dass die Gegenansicht das Sicherungsinteresse missachtet. Sie sieht es in den Fällen der Vernehmungsunfähigkeit vielmehr gesetzgeberisch geschützt durch die Sicherungsvorschriften der Landesgesetze (zB HessPsychKG).[3] Es geht also, bezogen auf die Bedeutung der Vernehmungsfähigkeit, nicht um die Alternative "Sicherungsverfahren oder keine Sicherung", sondern um die Alternative "Sicherungsverfahren nach StPO oder Sicherung nach Landesrecht". Deshalb ist die Plausibilität des Senatsbeschlusses bei zweitem Blick nur eine scheinbare.

Es ist gerade die Frage, wie weit der Sinn des Sicherungsverfahrens nach §§ 413 ff. StPO im systematischen Zusammenspiel mit der Sicherung nach Landesrecht reicht. Die eigentliche Auslegungsfrage stellt sich daher von vornherein so: Darf das strafprozessuale Sicherungsverfahren auch ohne Vernehmungsfähigkeit durchgeführt werden oder hat die Sicherung der Allgemeinheit dann nach Landesrecht zu erfolgen? Vergleichend kann man sich klarmachen, dass mit dem direkten argumentativen Griff nach dem Zweck des Strafverfahrens (Sicherung und Schutz der Allgemeinheit) sinnwidrig auch andere Verfahrensvoraussetzungen ausgehebelt werden könnten. Ohne eine vorhergehende methodisch korrekte Sinnbestimmung der §§ 413, 415 StPO, bei der auch der Widerstreit bestimmter Verfahrenszwecke einbezogen wird, bleibt der direkte Durchgriff auf den Zweck des Sicherungsverfahrens argumentativ zirkelhaft.

Ähnlich zirkelhaft ist der Verweis auf § 415 Abs. 3 StPO (Rz. 9), der gegebenenfalls die Durchführung der Hauptverhandlung ohne den Beschuldigten gestattet. Die Norm setzt die vorherige Vernehmung des Beschuldigten voraus, weshalb das vom Senat angeführte Argument nur gerade dann greift, wenn (als Ausnahme vom sonst Geltenden) der Beschuldigte bei seiner "Vernehmung" vernehmungsunfähig sein darf. Das aber ist die Auslegungsfrage.

Nichts anderes gilt für die vom OLG Frankfurt verfochtenen Thesen, das landesrechtliche Verfahren sei gegenüber dem Sicherungsverfahren subsidiär (vgl. § 9 Abs. 2 HessPsychKG) und die nach § 415 StPO nötige Vernehmung des Beschuldigten dürfe abgebrochen werden, wenn sie wegen des Zustands des Beschuldigten, also bei Fehlen seiner Vernehmungsfähigkeit, keinen Sinn habe.[4] Auch die Subsidiarität des landesrechtlichen Verfahrens hängt wiederum davon ab, ob die "Vernehmung" des Vernehmungsunfähigen abgebrochen werden und trotz dessen das strafprozessuale Sicherungsverfahren betrieben werden darf. § 9 Abs. 2 HessPsychKG setzt für die Subsidiarität des landesrechtlichen Verfahrens die Durchführbarkeit des strafprozessualen Sicherungsverfahrens voraus.[5] Darf es, was wiederum die Auslegungsfrage ist, nur gegen den vernehmungsfähigen Beschuldigten betrieben werden, steht der Subsidiaritätsgedanke einem landesrechtlichen Verfahren gegen den Vernehmungsunfähigen gerade nicht entgegen.

2. Abweichung von den allgemeinen Regeln?

Gemäß § 414 Abs. 1 StPO gelten die allgemeinen Regeln, es sei denn, in den §§ 413–416 StPO ist Abweichendes bestimmt. Daraus könnte folgen, dass für Vernehmungen iSd § 415 Abs. 2 und 3 die "strafverfahrensrechtlichen Maßstäbe" gelten (s. Rz. 11). Zu ihnen zählt die Vernehmungsfähigkeit.[6] Über sie muss sich die Justiz in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen vergewissern.[7] Wer von diesen allgemeinen Maßstäben abweichen will, trägt die Begründungslast. Zumal der Wortlaut des § 415 StPO in dieselbe Richtung weist, da von einer "Vernehmung", die durchzuführen ist, nicht mehr sinnvoll gesprochen werden kann, wenn der vernehmungsunfähige Beschuldigte lediglich Objekt einer Exploration ist.[8]

a) Verhandlungsfähigkeit und Vernehmungsfähigkeit

Der 5. Strafsenat argumentiert gegen die Geltung der allgemeinen Maßstäbe und für die extensive Deutung des Merkmals "Vernehmung" mit dem Hinweis auf die gesetzliche Alternative der Verhandlungsunfähigkeit: Sie legitimiere gemäß § 413 Abs. 1 StPO das Sicherungsverfahren, dessen Anwendungsbereich aber wegen der weitgehenden Deckungsgleichheit der Anwendungsbereiche, die von den gesetzlichen Voraussetzungen festgelegt werden, kaum vorhanden wäre, wenn das Sicherungsverfahren die Vernehmungsfähigkeit verlangte (Rz. 11, 14).[9] Ein wenig ungenau ist es, mit dieser Begründung sogleich für das gesamte Sicherungsverfahren das Bild eines faktischen Leerlaufs zu zeichnen; denn allemal die zweite Alternative, die Voraussetzung der Schuldunfähigkeit, bliebe vom Erfordernis der Vernehmungsfähigkeit eher ungeschmälert, weil die inhaltliche Überschneidung dieser Begriffe geringer ist. Formal-methodisch lässt sich dem Senat zudem entgegenhalten, dass die Begriffe der Verhandlungsunfähigkeit und der Vernehmungsunfähigkeit anerkanntermaßen nicht vollkommen deckungsgleich sind, sodass die in § 413 Abs. 1 StPO bestimmte gesetzliche Alternative der Verhandlungsunfähigkeit (bei gegebener Vernehmungsfähigkeit) durchaus einen Anwendungsbereich behielte.[10] Und weil das Landesrecht bereitstünde, in den Fällen der Vernehmungsunfähigkeit die Sicherung der Allgemeinheit zu gewährleisten,[11] verschlüge es nichts, den Anwendungsbereich dieser Voraussetzung des strafprozessualen Sicherungsverfahrens faktisch klein zu halten.

b) Gründe für eine Differenzierung

Ein Argument von Gewicht wird der Hinweis auf die Verhandlungsunfähigkeit deshalb überhaupt nur, wenn es im Regelungsbereich des Sicherungsverfahrens keinen sachlichen Grund gibt für eine Unterscheidung von Verhandlungsunfähigkeit und Vernehmungsunfähigkeit. Welche Gesichtspunkte könnten es also legitimieren, eine Differenzierung im Sicherungsverfahren dahingehend zu treffen, dass die Verhandlungsunfähigkeit kein Verfahrenshindernis bildet, die Vernehmungsunfähigkeit aber sehr wohl?

Augenfällig ist der Unterschied, dass die Verhandlungsfähigkeit auch nach dem Senat höhere Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten des Betroffenen stellt, als es die Vernehmungsfähigkeit tut. Verlangt jene die anspruchsvollere Fähigkeit, sich im Verfahren zu orientieren und sich unter Nutzung prozessualer Möglichkeiten zu verteidigen (Rz. 12), erfordert diese lediglich, dass der Betroffene den Tatvorwurf begreift, sein Schweigerecht kennt und wägen kann und er geistig zu erfassen vermag, welche Fragen ihm gestellt werden und welchen Inhalt seine Aussagen haben (Rz. 13). Vor diesem Hintergrund könnte es aus Gesetzgebersicht einen guten Sinn haben, im Sicherungsverfahren zumindest die simple Fähigkeit der Vernehmungsfähigkeit zu fordern. Denn sie ermöglicht dem Betroffenen ein Stück weit, sich in tatsächlicher Hinsicht zu verteidigen.[12] Er hat am ehesten, bezogen auf die Tatvorwürfe, konkretes Faktenwissen, das ihn (teilweise) entlasten kann – beispielsweise zu einem Alibi, zur Vorsatzlosigkeit oder zu rechtfertigenden Umständen. Bei der Vernehmungsfähigkeit im Rahmen des § 415 Abs. 3 StPO geht es also darum, rechtliches Gehör zu erhalten und so das besondere Faktenwissen eines Beschuldigten beizusteuern. Wie aber findet derjenige Gehör, der nichts versteht und sich nicht artikulieren kann?

Anhörungsrechte sind zwar grundsätzlich auch im landesrechtlichen Verfahren zu achten, sodass sich die Unmöglichkeit der Mitwirkung des Vernehmungsunfähigen auch dort auswirkt.[13] Die Möglichkeit zum Beisteuern von entlastendem Faktenwissen hat aber im strafprozessualen Sicherungsverfahren einen höheren Stellenwert als im Verfahren nach Landesrecht. Das Sicherungsverfahren der §§ 413 ff. StPO impliziert mit der nachzuweisenden Anlasstat die Behauptung der Straftatbegehung ("rechtswidrige Tat"), die Verhängung der Maßregel setzt die Straftatbegehung voraus und verlangt den Nachweis. Mit dieser impliziten Behauptung, Strafunrecht begangen zu haben, verbindet sich bekanntlich (auch bei Schuldunfähigkeit) eine besondere sozialethische Missbilligung, nämlich die, sich besonders sozialschädlich verhalten zu haben, also eine schwerwiegende Tat begangen zu haben. Das mag in puncto Sicherungsmaßnahmen am Ende keine Bedeutung haben. Doch ist es sehr wohl bedeutsam für das Persönlichkeitsrecht des "Beschuldigten". Der BGH hat dies früher selbst betont: "Die weniger stigmatisierende und schon deshalb regelmäßig für einen Beschuldigten günstigere Unterbringung nach Landesgesetzen" sei grundsätzlich eine Alternative zur strafrechtlichen Unterbringung.[14] Es ist rechtsstaatlich nicht fair, dem Beschuldigten das Begehen von Strafunrecht zu attestieren, wenn er wegen seiner Vernehmungsunfähigkeit keine Möglichkeit hatte, sich selbst zum Anklagevorwurf zu äußern. Er hatte dann nämlich nie die Möglichkeit, die Verdachtsmomente auszuräumen und die ihm günstigen Tatsachen vorzutragen (vgl. §§ 243 Abs. 5 S. 2, 136 Abs. 2 StPO).[15] Ohne den Beschuldigten zu verhandeln, ist schon generell rechtsstaatlichen Bedenken ausgesetzt, und es ist deshalb als Verfahrensweise restriktiv zu handhaben.[16] Aus diesem Grund ist die Sicht vorzugswürdig, wonach § 415 Abs. 3 StGB das rechtsstaatlich zulässige Minimalprogramm zur Gewährleistung rechtlichen Gehörs nur dann korrekt bestimmt, wenn für die "Vernehmung" – wie sonst auch – die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten verlangt wird.[17] Nur nach Durchführung der Vorvernehmung des Beschuldigten, der dieser Vernehmung folgen und etwas zu ihr

beitragen kann, ist es überhaupt angemessen, ohne ihn wegen der angeklagten Begehung einer Straftat zu verhandeln.[18]

Bezogen auf die faktische Verteidigungsmöglichkeit nützt es dem Beschuldigten auch nichts, wenn über § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO die notwendige Verteidigung angeordnet wird. Der Verteidiger kann zwar die Verhandlungsunfähigkeit kompensieren und im Prozess sinnvoll agieren. Er hat aber keinen Zugriff auf das Faktenwissen des Vernehmungsunfähigen, der ja definitionsgemäß nicht in der Lage ist, den Tatvorwurf zu begreifen oder sein Schweigerecht zu wägen oder die gestellten Fragen richtig zu erfassen oder den Inhalt seiner Aussage zu verstehen – und dann naheliegenderweise auch nicht in der Lage ist, sich mit seinem Verteidiger überhaupt verständig auszutauschen. Anders als der Senat meint (Rz. 15), ist der vernehmungsunfähige Beschuldigte deshalb nicht hinreichend geschützt durch das Zur-Seite-Stellen eines Verteidigers.

In diesem Sinn lässt sich auch die Entstehungsgeschichte deuten. Die Gesetzesbegründung des § 429c StPO a.F., der sachlich mit § 415 Abs. 2, 3 StPO übereinstimmte, weist aus, was es mit dem Vernehmungserfordernis des Beschuldigten auf sich hat: Soll der Beschuldigte von der Verhandlung ausgeschlossen bleiben, will das Gesetz "ihm aber wenigstens Gelegenheit geben, das, was er vorzubringen hat, einem Mitglied des mit der Sache befaßten Gerichts vorzutragen".[19] Dies setzt ersichtlich die Fähigkeit zum Vortragen voraus.[20] Und dieses Verständnis findet eine Bestätigung im geltenden § 415 Abs. 4 S. 2 StPO, wonach das Protokoll einer solchen Vorvernehmung zu verlesen "ist".[21] Wenn das Protokoll zu verlesen "ist", muss die Vernehmung stattgefunden haben und darf nicht von vornherein an einer Vernehmungsunfähigkeit des Beschuldigten gescheitert sein. Ein sachlicher Grund für eine Differenzierung zwischen der Durchführbarkeit des Sicherungsverfahrens bei bloßer Verhandlungsunfähigkeit und der Annahme eines Prozesshindernisses bei Vernehmungsunfähigkeit liegt also vor.

3. Sicherungsverfahren als für den Beschuldigten günstigeres Verfahren?

In seinem Praxiskommentar zu einer Entscheidung des OLG Frankfurt hatte Müller-Metz dahin argumentiert, dass nicht einzusehen sei, den vernehmungsunfähigen Beschuldigten dem landesrechtlichen Unterbringungsverfahren zu überantworten, sei dieses doch "mit geringeren verfahrensrechtlichen Garantien" ausgestattet.[22] Die dort angeführten Aspekte hat indes das Landgericht Aachen in einer sorgfältig begründeten Entscheidung entkräftet.[23] Insbesondere besteht auch im landesrechtlichen Unterbringungsverfahren die Notwendigkeit einer persönlichen Anhörung auf Grundlage eines ärztlichen Gutachtens, bei fehlender Anhörungsfähigkeit die Bestellung eines Verfahrenspflegers und die Möglichkeit der Durchführung des Beschwerdeverfahrens. Zudem sieht § 30 Abs. 2 FamFG "eine förmliche Beweisaufnahme über die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung" vor, "wenn das Gericht seine Entscheidung maßgeblich auf die Feststellung dieser Tatsache stützen will und die Richtigkeit von einem Beteiligten ausdrücklich bestritten wird".

Es ist auch nicht erkennbar, warum die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Betroffenen qualitativ besser sein soll als die Bestellung eines Verfahrenspflegers, zumal Verfahrenspfleger nur dafür geeignete Personen sein dürfen und sie nach §§ 303 Abs. 3, 317 FamFG selber beschwerdebefugt sind.

Zu Recht bekundet das Landgericht Aachen auch Unverständnis über den Einwand von Müller-Metz, dass die Entlassung aus dem Maßregelvollzug mit höheren verfahrensrechtlichen Garantien für den Betroffenen ausgestattet sei. So sieht § 330 S. 1 FamFG von Amts wegen eine Beendigung der Unterbringung vor, wenn dafür die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Auch ist eine Überprüfung durch Sachverständige in regelmäßigen Abständen gewährleistet, wobei § 329 Abs. 2 S. 2 FamFG etwaigen Routinebeurteilungen vorbeugt. Bei einer Abweichung von der Soll-Vorschrift sind die Gründe in der Entscheidung darzulegen.[24] Bei jeder Verlängerung der Genehmigung oder Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme gelten nach § 329 Abs. 2 S. 1 FamFG uneingeschränkt die Vorschriften für die erstmalige Unterbringung.[25] Vor allem aber erfolgen zu Beginn der Unterbringung die Überprüfungen der Gefährlichkeit sogar in kürzeren Abständen als bei strafrechtlicher Sicherung (vgl. § 329 Abs. 1 S. 1 FamFG; § 463 Abs. 4 S. 2 StPO).

IV. Fazit

Es gibt durchaus einen sachlichen Grund, im Sicherungsverfahren die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten zu verlangen und damit die üblichen "strafverfahrensrechtlichen Maßstäbe" anzuwenden (§ 414 Abs. 1 StPO): Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs und also eines fairen Verfahrens, wo es um das Verfahrensziel geht, im Urteil die Begehung von Strafunrecht festzustellen und darauf schwerste Grundrechtseingriffe zu stützen. Faktische Einwände gegen die Anklage wird vielfach nur der Beschuldigte selbst artikulieren können. Dies ist ihm aber nur möglich, wenn er im Prozess aktuell die kognitiven Fähigkeiten hat, die mit der Vernehmungsfähigkeit niedrigschwellig verlangt werden. Ihr Fehlen kann auch der notwendige Verteidiger nicht hinreichend kompensieren, das heißt, nicht mit der nötigen Sicherheit, wie sie wegen der drohenden erheblichen Rechtsfolgen aus Gründen der Fairness zu fordern ist. Da der Verteidiger insbesondere an manches Wissen, das im Lager der Verteidigung nur der Beschuldigte selbst haben kann (man denke etwa an

Aussage gegen Aussage-Konstellationen), im Falle von dessen Vernehmungsunfähigkeit nicht herankommt, fehlt dem Beschuldigten die faktische Basis für eine angemessene Verteidigung. Es ist deshalb richtig, die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten zur Voraussetzung des Sicherungsverfahrens zu machen.

Dass der Anwendungsbereich des § 413 Abs. 1 Alt. 1 StPO (Verhandlungsunfähigkeit) bei dieser Lesart gering bleibt, ist aufs gesamte Recht gesehen kein Schaden. Das Sicherungsinteresse der Allgemeinheit ist – im Falle der das Sicherungsverfahren hindernden Vernehmungsunfähigkeit – über landesrechtliche Regelungen der Gefahrenabwehr zu verfolgen. In diesem Verfahren kann der Vernehmungsunfähige zwar ebenfalls nicht sehr viel zur Verhinderung der Rechtsfolge beitragen. Doch geht die gefahrenabwehrrechtliche Sicherung immerhin nicht mit dem (weiteren) Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen einher, der im strafprozessualen Sicherungsverfahren vorliegt und der in der Feststellung liegt, der Beschuldigte habe sich besonders sozialschädlich verhalten und das (erhebliche) Unrecht einer Straftat begangen. Obendrein ist das landesrechtliche Sicherungsverfahren insoweit milder, als es zu Anfang der Unterbringung kürzere Prüfintervalle vorsieht und somit die Feststellung der Ungefährlichkeit und die Entlassung aus der Unterbringung früher ermöglicht.


* Der Verfasser Prof. Dr. Holm Putzke ist Professor für Strafrecht an der Universität Passau sowie Inhaber einer außerplanmäßigen Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden. Prof. Dr. Jörg Scheinfeld ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinstrafrecht, Wirtschaftsstrafrecht, Rechtsphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.

[1] LG Kassel, Beschluss vom 20.09.2017 - 10 KLs 4710 Js 17180/14; LG Aachen, Urteil 11.12.2020 – 60 KLs 15/19 (BeckRS 2020, 41860); Börner, in: Radtke/Hohmann (Hrsg), Strafprozessordnung, 2011, § 415 Rn. 6; Keller, in: Alternativkommentar zur StPO, 1996, § 415 Rn. 6; Maur, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 415 Rn. 6; Metzger, in: von Heintschel-Heinegg/Bockemühl (Hrsg), KMR – Kommentar zur Strafprozessordnung, 96. Lfg., § 415 Rn. 12; Putzke/Scheinfeld, in: Münchener Kommentar zur StPO, 1. Aufl. 2019, § 413 Rn. 14.

[2] Zuvor schon OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148; ebenso etwa Gaede, in: Becker u.a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 27. Aufl. 2022, § 415 Rn. 7; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 65. Aufl. 2022, § 416 Rn. 1; Temming, in: Beck’scher OnlineKommentar zur StPO, 45. Edition 10/2022, § 415 Rn. 2.

[3] Metzger (Fn. 1), § 415 Rn. 12; Putzke/Scheinfeld (Fn. 1), § 413 Rn. 14.

[4] OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148, 149.

[5] LG Aachen (Fn. 1), Rz. 42; Maur (Fn. 1), § 415 Rn. 6.

[6] Vgl. nur bei Schuhr, in: Münchener Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2023, § 136a Rn. 34; zur Entscheidung des 5. Strafsenats auch Graeber NStZ 2022, 574, 575.

[7] Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2016, § 136 Rn. 35; unter Verweis auf Gleß, in: Becker u.a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 27. Aufl. 2019, § 136 Rn. 15.

[8] Metzger (Fn. 1), § 415 Rn. 12.

[9] Ähnlich schon OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148 f.

[10] Siehe auch LG Aachen (Fn. 1), Rz. 41; Degener, in: Systematischer Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2020, § 415 Rn. 5; Graeber NStZ 2022, 574, 575.

[11] Nach hM kann das Landesrecht auch bei Anlasstaten einschlägig sein (BGH, NStZ 2007, 465 f.; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148, 149).

[12] In diese Richtung auch LG Aachen (Fn. 1), Rz. 42.

[13] OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 149.

[14] BGH, NStZ 2007, 465 f.

[15] Betont auch vom LG Aachen (Fn. 1), Rz. 42.

[16] Vgl. bei Gaede (Fn. 2), § 415 Rn. 2: ""zwingt ... zu einer vorsichtigen Normanwendung"; auch Koch, in: Dölling/Duttge/König/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2022, § 415 Rn. 2: "eng auszulegen"; schärfer noch Pollähne, in: Gercke/Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2019, § 415 Rn. 1: Prozessieren ohne den Beschuldigten "sollte sich verbieten".

[17] Keller (Fn. 1), § 415 Rn. 6.

[18] LG Aachen (Fn. 1), Rz. 42.

[19] BGH, NJW 1952,  478 , 479 .

[20] Graeber NStZ 2022, 574, 575 f.

[21] Graeber NStZ 2022, 574, 576 – zumal der unmittelbar voraufgehende Abs. 4 S. 1 nur davon spricht, dass sonstige richterliche Protokolle über Erklärungen des Beschuldigten verlesen werden "können".

[22] Müller-Metz NStZ-RR 2018, 149.

[23] LG Aachen (Fn. 1), Rz. 44 – dort auch zum Folgenden.

[24] BGH, NZFam 2020, 1031 Rn. 21.

[25] Siehe auch BeckOK-FamFG/Günter, 44. Edition, § 329 Rn. 4.