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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2022
23. Jahrgang
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1. Das Verwertungsverbot des § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO gilt absolut und auch zugunsten von Mitbeschuldigten. (BGHR)
2. Der Senat kann offenlassen, ob die entlastenden Angaben des Beschuldigten im Fall eines Beweisverwertungsverbots gemäß § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO gleichwohl verwertbar sind. Jedenfalls dort, wo es um Angaben geht, die eine mögliche Aufklärungshilfe i.S.d. § 31 BtMG begründen sollen, scheidet eine solche Verwertung angesichts der Wirkung des Verwertungsverbots zugunsten von Mitbeschuldigten aus, sofern dadurch ein Aufklärungserfolg über den eigenen Tatbeitrag hinaus begründet werden soll. (Bearbeiter)
3. Der gesetzliche Milderungsgrund des § 31 BtMG kommt nur zur Anwendung, wenn das Gericht sich die Überzeugung davon verschafft hat, dass die Darstellung des Täters über die Beteiligung anderer an der Tat
zutrifft), er mithin über den eigenen Tatbeitrag hinaus einen erheblichen Aufklärungsbeitrag geleistet hat. Der Zweifelsgrundsatz kommt ihm dabei nicht zugute. (Bearbeiter)
1. Soll im Zusammenhang mit der Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO (erneut) in Erörterungen mit dem Ziel einer Verständigung (§ 257c StPO) eingetreten werden, ist der Vorsitzende nicht verpflichtet, den Angeklagten zunächst über sein Schweigerecht zu belehren (§ 243 Abs. 5 Satz 1 StPO).
2. Die Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten wird nicht berührt, falls im Anschluss an die Mitteilung gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO Erörterungen stattfinden, die in eine Verständigung münden. Denn dabei geht es naturgemäß nur um hypothetische Erwägungen. Der Angeklagte macht in diesem Zusammenhang ebenso wenig Angaben zur Sache wie im Rahmen entsprechender Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO vor der Hauptverhandlung.
3. Das Einverständnis des Angeklagten mit dem Verständigungsvorschlag stellt noch keine Einlassung zur Sache dar, insbesondere kein Geständnis und noch nicht einmal ein Indiz für seine Schuld.
1. Eine den Verfahrensgegenstand betreffende Vortätigkeit eines erkennenden Richters, soweit sie nicht gesetzliche Ausschlussgründe erfüllt, ist regelmäßig nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters im Sinne von § 24 Abs. 2 StPO zu begründen, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, die diese Besorgnis rechtfertigen. Dies gilt auch für die Verurteilung eines Mittäters, selbst wenn die Schilderung des Tatgeschehens auch Handlungen des Ablehnungsberechtigten einschließt. Dabei gelten bei Schöffen grundsätzlich keine anderen Maßgaben für die Unvoreingenommenheit als bei Berufsrichtern. Etwas anderes gilt nach innerstaatlicher Rechtsprechung nur dann, wenn besondere Umstände hinzutreten, die die Besorgnis rechtfertigen, der Richter sei nicht bereit, sich von seiner bei der Vorentscheidung gefassten Meinung zu lösen, etwa wenn er unnötige und sachlich unbegründete Werturteile über den Angeklagten geäußert hat.
2. Auch die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Befangenheit bei Vorbefassung (vgl. EGMR HRRS 2022 Nr. 348) führt nicht zu demgegenüber herabgesetzten Erfordernissen. Denn auch der Gerichtshof betont, dass es für Zweifel an der Unparteilichkeit – die er unter dem Aspekt des Art. 6 Abs. 1 EMRK prüft – nach wie vor nicht ausreiche, dass der Richter frühere Entscheidungen wegen derselben Strafsache erlassen oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen Mitbeschuldigte verhandelt habe. Die objektiv gerechtfertigte Besorgnis der Befangenheit könne aber darin begründet liegen, dass der Richter in einem früheren Urteil umfangreiche Tatsachenfeststellungen getroffen habe, die die Schuld des jetzigen Angeklagten vorwegnehmen, und er mithin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld habe. Dies könne zum Beispiel in Formulierungen zum Ausdruck kommen, die über die zur rechtlichen Einstufung der Tat des Mittäters erforderlichen Feststellungen hinausgingen.
1. Eine Rückgabe der Sache zur Bestellung eines anderen Verteidigers vor der Entscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann in Fällen angeordnet werden, in denen ein – das Verschulden des Angeklagten ausschließender – „offenkundiger Mangel“ der Verteidigung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteile vom 10. Oktober 2002 – 38830/97 – Czekalla/Portugal Tz. 59 ff. und vom 22. März 2007 – 59519/00 – Staroszczyk/Polen Tz. 122, 133) vorliegt.
2. Diese Verfahrensweise scheidet aber aus, wenn dem Angeklagten bereits einen Tag nach Urteilsverkündung und lange vor Beginn der Frist zur Begründung der Revision bekannt war, dass der Pflichtverteidiger die Revision nicht begründen werde und er es unterlassen hat, den Vorsitzenden darüber zu informieren, dass sein Pflichtverteidiger die Begründung der Revision ausdrücklich abgelehnt hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Angeklagte nicht psychisch krank, nicht in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und er keine Probleme hatte, per Post mit der Justiz Kontakt aufzunehmen und selbst Post zu erhalten.
1. Nach Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrfach
bestraft werden. Der Begriff der Tat orientiert sich am prozessualen Tatbegriff des § 264 StPO. Dieser bestimmt sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll und erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet.
2. Im Verhältnis zum materiellen Recht ist der prozessuale Tatbegriff grundsätzlich selbstständig. Dieser und der materiell-rechtliche Tatbegriff stehen indes nicht völlig beziehungslos nebeneinander. Vielmehr stellt ein durch den Rechtsbegriff der Tateinheit (§ 52 StGB) zusammengefasster Sachverhalt in der Regel auch verfahrensrechtlich eine einheitliche Tat dar; umgekehrt bilden mehrere im Sinne von § 53 StGB sachlich-rechtlich selbstständige Handlungen auch mehrere Taten im prozessualen Sinne.
3. Mehrere strafbare Gesetzesverstöße stehen dann zueinander in Tateinheit, wenn die jeweiligen Ausführungshandlungen – über eine bloße Gleichzeitigkeit hinaus – in einem für sämtliche Tatbestandsverwirklichungen notwendigen Teil zumindest teilweise identisch sind und damit eine unlösbare innere Verknüpfung aufweisen
4. Handeltreiben“ im Sinne des BtMG ist jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit. Der Tat des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unterfallen nicht nur Handlungen, die unmittelbar der Beschaffung von Rauschmitteln oder deren Überlassung an Abnehmer dienen, sondern auch sonstige Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Zustandekommen oder der Abwicklung des Geschäfts.
5. Voraussetzung ist stets, dass die jeweilige Tätigkeit auf die Förderung eines bestimmten Betäubungsmittelumsatzes in dem Sinne zielt, dass ein konkretes Geschäft „angebahnt ist“ oder „läuft“. Mehrere auf denselben Umsatz bezogene Handlungen werden dabei als Teilakte des Handeltreibens zu einer Bewertungseinheit zusammengefasst.
1. Nach § 171b Abs. 3 Satz 2 GVG ist die Öffentlichkeit zwingend für die Schlussanträge, zu denen auch das letzte Wort des Angeklagten zählt, auszuschließen, wenn die Verhandlung unter den Voraussetzungen des § 171b Abs. 1 oder Abs. 2 GVG ganz oder zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden hat.
2. Das Tatgericht ist von Rechts wegen nicht gehindert, einem Geständnis des Angeklagten ? ausnahmsweise ? strafmilderndes Gewicht mit der Begründung abzusprechen, es beruhe nicht auf Unrechtseinsicht und Reue, sondern auf „erdrückenden Beweisen“ oder sei rein prozesstaktisch motiviert. Regelmäßig ist ein Geständnis aber als ein bestimmender Strafmilderungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO anzusehen. Dies gilt auch in Fällen, in denen prozesstaktische Überlegungen mitbestimmend waren. Die Würdigung und Bewertung des Geständnisses sowie die Bestimmung seines strafmildernden Gewichts ist dem Tatgericht vorbehalten, das bei seiner Überzeugungsbildung den Zweifelssatz zu beachten hat. Es wäre rechtlich bedenklich, allein aus dem Zeitpunkt der Äußerung des sich zuvor schweigend verteidigenden Angeklagten im Rahmen des letzten Wortes auf eine rein prozesstaktische Motivation zu schließen.
3. Als erheblich im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen. Zur Feststellung der Erheblichkeit bedarf es regelmäßig einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus. Für die Bewertung einer sexuellen Handlung als erheblich in diesem Sinne sind in erster Linie Art, Intensität sowie Dauer der sexualbezogenen Handlung von Bedeutung; weitere Umstände wie der konkrete Handlungsrahmen oder das Verhältnis zwischen Täter und Opfer können Bedeutung gewinnen, wenn sie das Gewicht des Übergriffs erhöhen.
4. Bei Tatbeständen, die ? wie § 176 Abs. 1 StGB ? dem Schutz von Kindern oder Jugendlichen dienen, sind an das Merkmal der Erheblichkeit der sexuellen Handlung zwar geringere Anforderungen zu stellen als bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Erwachsener. Kurze, flüchtige oder aus anderen Gründen für das geschützte Rechtsgut unbedeutende Berührungen genügen jedoch auch im Anwendungsbereich der §§ 174 ff. StGB grundsätzlich nicht.
1. Eine Ermittlungsdurchsuchung, die eine nichtverdächtige Person betrifft, setzt nach § 103 Abs. 1 Satz 1 StPO Tatsachen dahin voraus, dass sich das gesuchte Beweismittel in den zu durchsuchenden Räumen befindet. Es müssen konkrete Gründe dafür sprechen, dass der gesuchte Beweisgegenstand in den Räumlichkeiten des Unverdächtigen gefunden werden kann. Dies unterscheidet die Durchsuchung beim Unverdächtigen nach § 103 StPO von einer Durchsuchung bei einer verdächtigen Person nach § 102 StPO, bei der es bereits nach der Lebenserfahrung in gewissem Grade wahrscheinlich ist, dass Beweisgegenstände zu finden sind, die zur Prüfung des Tatverdachts beitragen können, und bei der durch die Verknüpfung des personenbezogenen Tatverdachts mit einem eher abstrakten Auffindeverdacht ein hinreichender Eingriffsanlass besteht.
2. Die Durchsuchung bei einer nichtverdächtigen Person setzt – anders als im Falle des § 102 StPO für die Durchsuchung beim Tatverdächtigen, bei dem eine allgemeine Aussicht genügt, irgendwelche relevanten Beweismittel zu finden – nach § 103 StPO überdies voraus, dass hinreichend individualisierte (bestimmte) Beweismittel für die aufzuklärende Straftat gesucht werden. Diese Gegenstände müssen im Durchsuchungsbeschluss so weit konkretisiert werden, dass weder bei dem Betroffenen noch bei dem die Durchsuchung vollziehenden Beamten Zweifel über die zu suchenden und zu beschlagnahmenden Gegenstände entstehen können. Ausreichend ist dafür allerdings, dass die Beweismittel der Gattung nach näher bestimmt sind; nicht erforderlich ist, dass sie in allen Einzelheiten bezeichnet werden.
1. Die sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen setzt voraus, dass entweder (auto-)suggestive Einflüsse ausgeschlossen oder weitere Beweise angeführt werden, mit denen die Richtigkeit der Zeugenaussage belegt werden kann.
2. Eine an Realkennzeichen orientierte Analyse ist bei Pseudoerinnerungen hingegen nicht veranlasst. Zwar handelt es sich hierbei grundsätzlich um ein wesentliches Kriterium zur Bestimmung der Aussagequalität. Scheinbare Realkennzeichen sind bei Pseudoerinnerungen in ähnlicher Weise anzutreffen wie bei realen Erlebnisbeschreibungen; eine Inhaltsanalyse ist daher nicht geeignet, suggestive Einflüsse auszuschließen.
Zwar ist das Tatgericht grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in Einzelheiten wiederzugeben; erforderlich ist dies aber, wenn bei einem im Übrigen nicht eindeutigen Beweisergebnis einer Aussage entscheidende Bedeutung zukommen könnte und dem Revisionsgericht ohne Kenntnis ihres wesentlichen Inhalts die Prüfung verwehrt ist, ob im Rahmen der Beweiswürdigung alle wesentlichen Gesichtspunkte beachtet worden sind.
1. Als abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO ist nicht nur der körperlich abwesende Verteidiger anzusehen, sondern auch ein physisch anwesender Verteidiger, wenn er erkennbar verhandlungsunfähig ist. An der notwendigen Verteidigung fehlt es allerdings auch, wenn der Pflichtverteidiger gegen den Willen des Angeklagten vollständig untätig ist, er etwa seine Tätigkeit gänzlich verweigert.
2. Auch der körperlich in der Hauptverhandlung anwesende, nicht verhandlungsunfähige Pflichtverteidiger, der seine Mitwirkung in einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung generell erkennbar verweigert, muss als abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO angesehen werden, weil dem Schutzzweck der §§ 140 ff., 338 Nr. 5 StPO, die notwendige Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten, nicht anders Rechnung getragen werden kann. Gleiches muss in dem – freilich wenig wahrscheinlichen – Fall gelten, dass das Gericht den anwesenden Pflichtverteidiger als abwesend behandelt, es dessen Mitwirkung in einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung also generell nicht zulässt oder diese nicht zur Kenntnis nimmt.
1. Zwar stellt die Verletzung des § 258 Abs. 2 und Abs. 3 StPO keinen absoluten Revisionsgrund dar. Allerdings kann bei Versagung des letzten Wortes, dessen Sinn es ist, dass der Angeklagte noch im letzten Augenblick entlastende Umstände vorbringen kann, ein Beruhen nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden.
2. Eine festgestellte Sexualdevianz kann im Einzelfall eine andere seelische Störung und eine hierdurch erheblich beeinträchtigte Steuerungsfähigkeit begründen, wenn die abweichenden Sexualpraktiken zu einer eingeschliffenen Verhaltensschablone geworden sind, die sich durch abnehmende Befriedigung, zunehmende Frequenz, durch Ausbau von Raffinements und durch gedankliche Einengung auf diese Praktiken auszeichnet.
In entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Schwere des Vollstreckungsfalls für den Verurteilten oder besondere Schwierigkeiten
der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren dies gebieten oder der Verurteilte unfähig ist, seine Rechte sachgerecht selbst wahrzunehmen. Zwar hat der Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung der Fälle notwendiger Verteidigung im Sinne des § 140 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 weiterhin keine ausdrückliche Bestimmung für das Vollstreckungsverfahren getroffen. Dies bedeutet je doch nicht, dass er eine analoge Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO insoweit ausschließen wollte.
Jedenfalls in den Fällen, in denen die Wahrung der Frist des § 45 Abs. 1 StPO nicht offensichtlich ist, gehört zur formgerechten Anbringung des Wiedereinsetzungsantrags, dass der Antragsteller mitteilt, wann das Hindernis, das der Fristwahrung entgegenstand, weggefallen ist. Dies gilt selbst dann, wenn der Verteidiger ein eigenes Verschulden geltend macht, das dem Angeklagten nicht zuzurechnen wäre.