HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 766
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 277/21, Urteil v. 30.06.2022, HRRS 2022 Nr. 766
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 25. März 2021 wird verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels, die durch das Adhäsionsverfahren insoweit entstandenen besonderen Kosten und die dem Adhäsions- und Nebenkläger M. sowie dem Nebenkläger D. im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und neun Monaten verurteilt, den Anrechnungsmaßstab für die erlittene Auslieferungshaft bestimmt und den Angeklagten verurteilt, an den Adhäsionskläger immateriellen und materiellen Schadensersatz in Höhe von insgesamt 3.030,00 € nebst Zinsen zu leisten. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:
1. Die auf § 338 Nr. 5, § 404 Abs. 5, § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte Verfahrensrüge ist bereits nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise erhoben und daher unzulässig.
a) Mit seiner Verfahrensrüge beanstandet der Angeklagte, die Strafkammer habe seinen Antrag auf Erstreckung der Pflichtverteidigerbeiordnung auf das Adhäsionsverfahren zu Unrecht abgelehnt und ihm auch keine Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verteidigers für das Adhäsionsverfahren bewilligt. Er macht demnach sinngemäß geltend, die Hauptverhandlung sei in Bezug auf das Adhäsionsverfahren wegen der Verweigerung der Erstreckung der Beiordnung seines Pflichtverteidigers darauf beziehungsweise mangels Beiordnung seines Verteidigers auf Prozesskostenhilfebasis trotz notwendiger Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO) in Abwesenheit seines Pflichtverteidigers durchgeführt worden.
b) Der Verfahrensrüge bleibt der Erfolg versagt, weil sie bereits den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht genügt. Es fehlt - neben der Vorlage der Prozesskostenhilfeanträge und eines Ablehnungsbeschlusses - insbesondere an Vorbringen dazu, dass der physisch, geistig und aufgrund der Beiordnung als Pflichtverteidiger auch im Rechtssinne in der Hauptverhandlung einschließlich des Adhäsionsverfahrens anwesende und nach zutreffender Auffassung umfassend bestellte Verteidiger des Angeklagten (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juli 2021 - 6 StR 307/21 Rn. 2 ff. mwN) - ausnahmsweise - als abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO zu behandeln ist, etwa weil er eine Tätigkeit zur Verteidigung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren wegen der Differenzen hinsichtlich seiner Beiordnung generell verweigert oder sich die Strafkammer geweigert hätte, ihn insoweit als anwesenden Verteidiger zu behandeln. Solcher Vortrag ist bereits deswegen unerlässlich, weil sich die Verteidigung gegen den Anklagevorwurf und diejenige gegen den vom Geschädigten M. geltend gemachten Adhäsionsanspruch jedenfalls dem Grunde nach nicht voneinander trennen lassen, der Verteidiger mithin nicht jedenfalls insoweit zugegen und zugleich abwesend sein kann.
aa) Als abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO ist nicht nur der körperlich abwesende Verteidiger anzusehen, sondern auch ein physisch anwesender Verteidiger, wenn er erkennbar verhandlungsunfähig ist (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 24. November 1999 - 3 StR 390/99 Rn. 10, BGHR StPO § 338 Nr. 5 Verteidiger 5; Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 4 StR 519/19 Rn. 16; je mwN). An der notwendigen Verteidigung fehlt es allerdings auch, wenn der Pflichtverteidiger gegen den Willen des Angeklagten vollständig untätig ist, er etwa seine Tätigkeit gänzlich verweigert (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Mai 1992 - 4 StR 202/92 Rn. 5 ff., BGHR StPO § 145 Abs. 1 Weigerung 1).
Auch der körperlich in der Hauptverhandlung anwesende, nicht verhandlungsunfähige Pflichtverteidiger, der seine Mitwirkung in einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung generell erkennbar verweigert, muss als abwesend im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO angesehen werden, weil dem Schutzzweck der §§ 140 ff., 338 Nr. 5 StPO, die notwendige Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten, nicht anders Rechnung getragen werden kann. Gleiches muss in dem - freilich wenig wahrscheinlichen - Fall gelten, dass das Gericht den anwesenden Pflichtverteidiger als abwesend behandelt, es dessen Mitwirkung in einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung also generell nicht zulässt oder diese nicht zur Kenntnis nimmt. In beiden Fällen fehlt es - ungeachtet der Gründe für die Verweigerung des Pflichtverteidigers beziehungsweise die Weigerung des Gerichts, dessen Verteidigungsmaßnahmen zuzulassen oder zur Kenntnis zu nehmen - an der gesetzlich vorgeschriebenen Mitwirkung des notwendigen Verteidigers an der Hauptverhandlung und geht es gerade nicht nur um die Art und Weise der Verteidigung, die dem Verteidiger überlassen ist, oder die Verfahrensführung durch das Gericht.
Demgemäß wäre für eine den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechende Begründung der auf § 338 Nr. 5 StPO gestützten Verfahrensrüge konkreter Vortrag dazu, an welchen Hauptverhandlungstagen die Strafkammer zum Adhäsionsantrag verhandelt hat sowie dass der Pflichtverteidiger hieran in wesentlichen Teilen nicht mitgewirkt hat, unverzichtbar gewesen.
bb) Dass der Pflichtverteidiger des Angeklagten sich wegen der streitigen Frage der Erstreckung der Beiordnung als Pflichtverteidiger auf das Adhäsionsverfahren generell geweigert hätte, an wesentlichen Teilen der Hauptverhandlung hinsichtlich des Adhäsionsverfahrens mitzuwirken, oder dass das Gericht eine solche Mitwirkung generell unterbunden oder nicht zur Kenntnis genommen hätte, ergibt sich aus der Revisionsbegründung nicht. Hieraus lässt sich insbesondere nicht erkennen, dass der Pflichtverteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung zum Adhäsionsverfahren - anders als von ihm im Schriftsatz vom 8. März 2021 angekündigt - nicht vertreten hat. An welchen Tagen die Strafkammer im Adhäsionsverfahren verhandelt sowie ob und in welcher Form der Pflichtverteidiger hieran gegebenenfalls mitgewirkt hat, bleibt nach der Revisionsbegründung offen; Ausführungen zum Verhalten des Pflichtverteidigers in der Hauptverhandlung zum Adhäsionsantrag fehlen gänzlich.
2. Eine Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 8 StPO, also mit der Angriffsrichtung einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt, ist nicht erhoben.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 766
Bearbeiter: Christoph Henckel