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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2022
23. Jahrgang
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1. Die Frage, ob die durch das Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit mit Wirkung vom 30. Dezember 2021 als neuer Wiederaufnahmegrund eingefügte Vorschrift des § 362 Nr. 5 StPO verfassungskonform ist und damit Grundlage für ein Wiederaufnahmeverfahren wie auch für eine aus diesem Anlass angeordnete Untersuchungshaft sein kann, ist offen. In Betracht kommt insbesondere ein Verstoß gegen das verfahrensgrundrechtliche Verbot der doppelten Strafverfolgung.
2. Die Verfassungsbeschwerde eines vor 40 Jahren von den Vorwürfen des Mordes und der Vergewaltigung Freigesprochenen, der nach der zwischenzeitlich durchgeführten molekulargenetischen Untersuchung einer Spermaspur als Täter in Betracht kommt und gegenüber dem auf der Grundlage des § 362 Nr. 5 StPO die Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig erklärt und die Untersuchungshaft angeordnet worden ist, ist nicht wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, wenn der Angeklagte die Entscheidung über die Zulassung des Wiederaufnahmeantrags (Aditionsentscheidung) erfolglos angefochten hat. Insbesondere ist er nicht gehalten, zunächst auch die abschließende fachgerichtliche Entscheidung über die Begründetheit des Wiederaufnahmeantrags (Probationsentscheidung) abzuwarten.
3. Auf den im Verfassungsbeschwerdeverfahrung gestellten Antrag des Angeklagten auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist der gegen ihn ergangene Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen, weil die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen sind und bei der gebotenen Folgenabwägung die grundrechtlich geschützten Interessen des Angeklagten am Unterbleiben einer möglicherweise ungerechtfertigten Doppelverfolgung und sein Freiheitsgrundrecht das wenngleich gewichtige Allgemeininteresse an der Wiederaufnahme und der anschließenden Durchführung des Strafverfahrens wegen Mordes überwiegen.
4. Art. 103 Abs. 3 GG garantiert als Prozessgrundrecht dem verurteilten Straftäter Schutz nicht nur gegen erneute Bestrafung, sondern bereits gegen erneute Verfolgung wegen derselben Tat. Verfahrensrechtlich errichtet Art. 103 Abs. 3 GG ein Prozesshindernis und begründet zugleich die Verfassungswidrigkeit der erneuten Einleitung eines Strafverfahrens. Gleiches gilt, wenn zuvor in einem Verfahren wegen derselben Tat ein Freispruch erfolgt ist. Eine Maßnahme der erneuten Strafverfolgung wegen derselben Tat stellt auch die im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens angeordnete Untersuchungshaft dar.
1. Die Untersagung des Besuchs eines Journalisten bei einem Strafgefangenen zur Durchführung eines Interviews zum Thema „Alternativen zur Strafhaft“ verletzt den Gefangenen in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG, wenn die Strafvollstreckungskammer bei der Auslegung und Anwendung der Tatbestandsmerkmale der herangezogenen Versagungsnorm und bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung der Vollzugsanstalt Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit nicht erkennbar berücksichtigt.
2. Der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung des Äußernden unterliegt grundsätzlich auch die gewählte Form einer Meinungsäußerung.
3. Eine strafvollzugsrechtliche Regelung, die eine Besuchsuntersagung ermöglicht, wenn zu befürchten ist, dass der Kontakt die Eingliederung des Gefangenen behindern kann (hier: § 25 Nr. 2 StVollzG NRW), ist im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
4. Mit Blick auf den hohen Stellenwert der Meinungsfreiheit kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein Presseinterview mit einem Strafgefangenen regelmäßig dessen Eingliederung behindert. Vielmehr müssen konkrete, objektiv fassbare Anhaltspunkte für eine derartige Befürchtung dargelegt werden. Dabei reicht es grundsätzlich nicht aus, wenn lediglich allgemein auf eine Persönlichkeitsstörung des Gefangenen sowie darauf abgestellt wird, dass dieser derzeit nicht bereit sei, an dem für ihn im Strafvollzug vorgesehenen Behandlungssetting teilzunehmen.
5. Ob die Untersagung eines einzelnen Interviews – wie in der fachgerichtlichen Rechtsprechung angenommen – zum Schutze des Strafgefangenen vor einer seiner Resozialisierung abträglichen Persönlichkeitsentwicklung in Betracht kommen kann, wenn der Gefangene sich durch die Situation des konkreten Interviews herausgefordert fühlt, seine Straftat zu erklären oder zu rechtfertigen, kann im hier zu entscheidenden Fall offen bleiben.
1. Eine Durchsuchungsanordnung beruht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung des Wohnungsgrundrechts, wenn der Anfangsverdacht einer Unterstützung des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im Wesentlichen nur darauf gestützt wird, dass der mutmaßliche Händler, für den der Beschuldigte Betäubungsmittel verwahrt haben soll, sein Fahrzeug zur Nachtzeit teilweise in Wohnortnähe des
Beschuldigten abgestellt hatte, ohne dass jedoch irgendwelche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er die Wohnung des Beschwerdeführers aufgesucht oder zu diesem Kontakt aufgenommen hätte.
2. Der mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen setzt zu seiner Rechtfertigung einen Anfangsverdacht voraus, der über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen und auf konkreten Tatsachen beruhen muss. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind.
1. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das Bundesverfassungsgericht gegen ein vorläufiges Berufsverbot sind regelmäßig nicht erfüllt, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft und weder die amtsgerichtliche (Nicht-)Abhilfeentscheidung noch eine eventuelle Beschwerdeentscheidung des Landgerichts noch eine Entscheidung über seinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgewartet hat.
2. Ein vorläufiges Berufsverbot begründet einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheit der Berufswahl, weil es während seiner Dauer ähnlich folgenschwere und irreparable Wirkungen für die berufliche Existenz des Betroffenen entfaltet wie ein endgültiges Berufsverbot, während es aufgrund einer nur summarischen Prüfung ohne erschöpfende Aufklärung der Pflichtwidrigkeit vor Rechtskraft einer Verurteilung ergeht.
3. Das Zuwarten auf die fachgerichtlichen Entscheidungen kann für den Beschwerdeführer daher mit zunehmender Dauer des Verfahrens unzumutbar werden, weil ihm ein schwerer und unabwendbarer Nachteil droht. Insoweit ist zu beachten, dass der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz eine Entscheidung in angemessener Zeit gebietet und dass fachgerichtlicher Rechtsschutz in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat. Nach der Sollvorschrift des § 306 Abs. 2 StPO ist grundsätzlich binnen drei Tagen über eine Abhilfe zu entscheiden. Eine Verfahrensdauer von mehreren Wochen kann daher auch dann nicht mehr hinzunehmen sein, wenn der Beschwerdeführer ein Ablehnungsgesuch gegen den Richter am Amtsgericht angebracht hat und dieser sich an einer Abhilfeentscheidung gehindert sieht, weil er sie nicht als unaufschiebbare Handlung erachtet.
1. Die Versagung eines Vollstreckungsaufschubs verletzt den Verurteilten in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, wenn sie sich in der Frage der Haftfähigkeit ohne weitere Sachaufklärung auf die Bewertung des Anstaltsarztes stützt, die dieser ohne persönlichen Kontakt zu dem Verurteilten nach Aktenlage getroffen hatte und die im Widerspruch zu einem auf der Grundlage einer persönlichen Untersuchung erstellten amtsärztlichen Gutachten steht, in dem der Verurteilte wegen einer schwerwiegenden depressiven Erkrankung für nicht haftfähig erklärt wurde (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 10. Dezember 2019 [= HRRS 2020 Nr. 99]).
2. Rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafen sind grundsätzlich auch zu vollstrecken; dies gebieten die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller im Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten.
3. Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wiegen die Interessen des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßigen Rechte ersichtlich wesentlich schwerer als die Belange der Strafvollstreckung, so verletzt diese den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird.
4. Der staatliche Strafanspruch wird außerdem begrenzt von der Menschenwürde des Verurteilten. Diese erfordert auch bei einem mit besonders schwerer Tatschuld beladenen Verurteilten eine realisierbare Chance, seine Freiheit wiederzuerlangen. Hiermit ist es unvereinbar, wenn die Aussicht auf Freiheit auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert wird.
5. § 455 StPO trägt dem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Strafanspruch und dem Interesse des Verurteilten an der Erhaltung seiner Gesundheit und Lebenstüchtigkeit angemessen Rechnung. Bei der Auslegung der Norm sind Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten.
6. Die Entscheidung über einen Vollstreckungsaufschub muss außerdem auf einer zureichenden Sachaufklärung beruhen. Drängen sich Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG einen Strafaufschub gebieten könnte, ist die Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen gehalten, den Gesundheitszustand des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls hat sie insoweit ergänzende ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen.