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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 764

Bearbeiter: Holger Mann

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 2061/19, Beschluss v. 05.07.2022, HRRS 2022 Nr. 764


BVerfG 2 BvR 2061/19 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. Juli 2022 (OLG Hamm / LG Essen)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung eines Vollstreckungsaufschubs wegen Vollzugsuntauglichkeit (Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Menschenwürde; Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Strafanspruch und Interesse des Verurteilten an seiner Gesunderhaltung; mögliche Haftunfähigkeit aufgrund einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung; unzureichende gerichtliche Sachaufklärung; widersprüchliche Einschätzungen amtsärztlicher Gutachten und des Anstaltsarztes).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; § 455 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die Versagung eines Vollstreckungsaufschubs verletzt den Verurteilten in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, wenn sie sich in der Frage der Haftfähigkeit ohne weitere Sachaufklärung auf die Bewertung des Anstaltsarztes stützt, die dieser ohne persönlichen Kontakt zu dem Verurteilten nach Aktenlage getroffen hatte und die im Widerspruch zu einem auf der Grundlage einer persönlichen Untersuchung erstellten amtsärztlichen Gutachten steht, in dem der Verurteilte wegen einer schwerwiegenden depressiven Erkrankung für nicht haftfähig erklärt wurde (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 10. Dezember 2019 [= HRRS 2020 Nr. 99]).

2. Rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafen sind grundsätzlich auch zu vollstrecken; dies gebieten die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller im Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten.

3. Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wiegen die Interessen des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßigen Rechte ersichtlich wesentlich schwerer als die Belange der Strafvollstreckung, so verletzt diese den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird.

4. Der staatliche Strafanspruch wird außerdem begrenzt von der Menschenwürde des Verurteilten. Diese erfordert auch bei einem mit besonders schwerer Tatschuld beladenen Verurteilten eine realisierbare Chance, seine Freiheit wiederzuerlangen. Hiermit ist es unvereinbar, wenn die Aussicht auf Freiheit auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduziert wird.

5. § 455 StPO trägt dem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Strafanspruch und dem Interesse des Verurteilten an der Erhaltung seiner Gesundheit und Lebenstüchtigkeit angemessen Rechnung. Bei der Auslegung der Norm sind Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu beachten.

6. Die Entscheidung über einen Vollstreckungsaufschub muss außerdem auf einer zureichenden Sachaufklärung beruhen. Drängen sich Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG einen Strafaufschub gebieten könnte, ist die Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen gehalten, den Gesundheitszustand des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls hat sie insoweit ergänzende ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. November 2019 - III 5 Ws 471/19 -, der Beschluss des Landgerichts Essen vom 15. August 2019 - 32 KLs-302 Js 158/13-6/16 - und der Bescheid der Staatsanwaltschaft Essen vom 12. Juli 2019 - 302 Js 158/13 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz.

Die Beschlüsse und der Bescheid werden aufgehoben. Die Sache wird an die Staatsanwaltschaft Essen zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 (in Worten: zehntausend) Euro festgesetzt.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gemäß § 455 StPO wegen Vollzugsuntauglichkeit.

I.

1. a) Der am 12. Februar 1944 geborene Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landgerichts Essen vom 8. Juni 2017 wegen Untreue in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

Das Landgericht Essen führte aus, dass der Beschwerdeführer seit Bekanntwerden der gegen ihn gerichteten Untreuevorwürfe psychisch beeinträchtigt sei. Im Mai 2014 habe er sich einer vierwöchigen stationären Behandlung unterzogen. Bei ihm sei damals eine depressive Erkrankung diagnostiziert worden. Nach Ende der stationären Therapie sei er ambulant von einer Ärztin betreut worden, die ihn regelmäßig medikamentös behandele. Eine Besserung sei bisher nicht eingetreten.

b) Auf die Revision des Beschwerdeführers hin stellte der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 20. Juni 2018 das Verfahren teilweise ein. Zugleich wies er darauf hin, dass der Wegfall der von der Einstellung betroffenen Einzelstrafe von sechs Monaten den Ausspruch über die Gesamtstrafe unberührt lasse. Im Übrigen verwarf der Bundesgerichtshof die Revision als unbegründet.

2. Mit angegriffenem Schreiben vom 28. August 2018 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Beschwerdeführer zum Strafantritt binnen eines Monats nach Zustellung in der Justizvollzugsanstalt (…).

a) Am 14. September 2018 bat der Beschwerdeführer um einen dreimonatigen Aufschub der Strafvollstreckung aufgrund einer notwendigen psychologischen Behandlung. Mit Schreiben vom 19. September 2018 gab die Staatsanwaltschaft Essen dem Beschwerdeführer daraufhin auf, sich einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterziehen.

b) aa) Ein unter dem 13. Februar 2019 erstelltes psychiatrisches Gutachten des Gesundheitsamts (…) kam zu dem Ergebnis, dass sich beim Beschwerdeführer psychopathologisch alle Symptome einer mittelgradigen depressiven Störung gefunden hätten. Ob zusätzlich ein demenzieller Abbau stattfinde oder eine depressive Pseudo-Demenz vorliege, könne derzeit nicht entschieden werden. Nach Ansicht des Gutachters sei der Beschwerdeführer nicht haftfähig.

bb) Das Gesundheitsamt (…) teilte der Staatsanwaltschaft Essen daraufhin unter dem 26. Februar 2019 als Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung unter anderem mit, dass beim Beschwerdeführer eine psychiatrische Erkrankung vorliege. Der Unterzeichner des Schreibens schloss sich der Auffassung des psychiatrischen Gutachters an, dass der Beschwerdeführer wegen dieser Erkrankung nicht haftfähig sei. Außerdem befinde sich der Beschwerdeführer in einem körperlichen Zustand, der mit einer sofortigen Vollstreckung in einer Vollzugsanstalt unverträglich sei. Beim Beschwerdeführer lägen Erkrankungen vor, die eine dauerhafte Behandlung mit der Notwendigkeit einer jederzeitigen Behandlungsmöglichkeit, insbesondere im Bereich der kardialen Erkrankungen, notwendig machen könnte.

c) Unter dem 5. April 2019 gab der psychiatrische Gutachter des Gesundheitsamts (…) eine erneute Stellungnahme ab und wies darauf hin, dass seines Erachtens ein Verfall in Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO vorliege, da Depressionen, auch in leichterer Form, mit einem veränderten Zeiterleben einhergingen, das als psychosenah anzusehen sei. Was letztlich beim Beschwerdeführer vorliege, eine depressive Störung mit depressiver Pseudodemenz oder eine demenzielle Störung mit depressiver Symptomatik, sei im Rahmen der ambulanten Begutachtung nicht entscheidbar, sondern sollte im Rahmen eines stationären fachklinischen Aufenthaltes abgeklärt werden. Dessen Ergebnisse sollten vor einer definitiven diagnostischen Zuordnung abgewartet werden. Dabei helfe der Verweis auf das Justizvollzugskrankenhaus (…) wenig, dessen diagnostische und therapeutische Kapazitäten für den vorliegenden Fall zu limitiert seien.

d) Der Beschwerdeführer legte mehrere Stellungnahmen des SRH Gesundheitszentrums (…) vor. In einem Befund vom 12. April 2019 geht das Gesundheitszentrum von einer schweren depressiven Störung mit Hinweisen einer dementiven Entwicklung aus und beschreibt erbrachte Therapieleistungen. Mit Schreiben vom 23. Mai 2019 beschreibt das Gesundheitszentrum eine beginnende generalisierte kognitive Störung mit Schwerpunkten im Bereich Konzentration, Arbeitsgedächtnis und deklarativem Gedächtnis und verneint aufgrund der Schwere der Symptomatik die Haftfähigkeit. Nach einer Stellungnahme vom 3. Juni 2019 bestehe eine unmittelbare Korrelation von kardiologischer (schwerer koronarer Herzerkrankung) und psychiatrischer (beginnende Demenz, hochgradige partiell psychotische Depression) Problematik im Sinne einer wechselseitigen Aggravation. Die Haftunfähigkeit wird bekräftigt.

e) aa) Mit Schreiben vom 13. Mai 2019 übermittelte die Justizvollzugsanstalt (…) der Staatsanwaltschaft Essen eine Stellungnahme ihres Anstaltsarztes, nach der die psychiatrischen Diagnosen aus den amtsärztlichen Stellungnahmen nicht von dem Gewicht zu sein schienen, dass der Beschwerdeführer dauerhaft haftunfähig sei. Allerdings könnten die Auswirkungen der vorhandenen Demenz auf die Alltagsfähigkeiten des Beschwerdeführers allein aus dem Gutachten und den beiliegenden Befunden nicht sicher abgeschätzt werden. In der Tat mache es keinen Sinn, jemanden in ein Gefängnis zu schicken, der die gesamte Situation nicht mehr erfassen könne und nicht mehr wisse, wo er sei. Schlimmstenfalls müsse der Beschwerdeführer wieder aus der Haft entlassen werden, wenn sich das Bild im Sinne einer tatsächlichen dauerhaften Haftunfähigkeit darstelle.

bb) Mit Schreiben vom 19. Juni 2019 wurde eine Stellungnahme des Anstaltsarztes übermittelt, wonach der Beschwerdeführer zwar schwer krank, auf der Basis der gegenwärtigen Datenlage aber als haftfähig einzuschätzen sei. Er habe den Beschwerdeführer nicht untersucht, sondern müsse aus den ihm vorgelegten Befunden Schlüsse ziehen und eine Stellungnahme abgeben. Es sei nicht auszuschließen, dass sich bei einer Inaugenscheinnahme des Beschwerdeführers ein anderes Bild ergebe.

cc) Unter dem 3. Juli 2019 übersandte die Justizvollzugsanstalt erneut eine Stellungnahme des Anstaltsarztes. Ein Rehabilitationsbericht des SRH Gesundheitszentrums (…) vom 12. April 2019 liste einen neurologischen Untersuchungsbefund auf, der insbesondere zeige, dass der Beschwerdeführer vollorientiert gewesen sei. Überdies finde sich dort eine Auflistung diverser Therapieleistungen, die sich an den Intellekt des Beschwerdeführers und an seine soziale Integrationsfähigkeit richteten und darauf schließen ließen, dass die Demenz nicht so ausgeprägt sein dürfte. Offensichtlich hätten die Ärzte, die diese Therapieformen veranlasst hätten, den Beschwerdeführer als hinreichend aufnahmefähig und geeignet für die Teilnahme eingeschätzt.

3. Mit angegriffener Ladung vom 17. Mai 2019 lud die Staatsanwaltschaft Essen den Beschwerdeführer zum Strafantritt bis zum 29. Mai 2019.

4. Mit angegriffener Entscheidung vom 12. Juli 2019 teilte die Staatsanwaltschaft Essen dem Beschwerdeführer mit, dass kein Anlass bestehe, den beantragten Strafaufschub zu gewähren. Die Voraussetzungen des § 455 StPO lägen vor dem Hintergrund der Ausführungen des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt (…) nicht vor. Diesem hätten sämtliche medizinischen Unterlagen vorgelegen. Als Experte für die Beurteilung sowohl der medizinischen Aspekte als auch der Behandlungsmöglichkeiten im Strafvollzug sei er zu der Einschätzung gelangt, dass der Beschwerdeführer haftfähig sei. Die Voraussetzungen des § 455 StPO lägen demnach nicht vor, da der Beschwerdeführer sich nicht in einem körperlichen Zustand befinde, bei dem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung einer Strafanstalt unverträglich sei; die Erkrankungen des Beschwerdeführers seien bekannt und auch im Strafvollzug behandelbar. Eine Geisteskrankheit im Sinne des § 455 StPO liege ebenfalls nicht vor. Zu einem Strafaufschub zwinge nur eine geistige Erkrankung, die so schwer sei, dass der Beschwerdeführer für einen Behandlungsvollzug nicht geeignet erscheine.

5. Die hiergegen mit Schreiben vom 17. Juli 2019 erhobenen Einwendungen des Beschwerdeführers wies das Landgericht Essen mit angegriffenem Beschluss vom 15. August 2019 zurück.

a) Es liege keine Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO beim Beschwerdeführer vor. Dies sei nur der Fall, wenn der Verurteilte für einen Strafvollzug nicht mehr ansprechbar sei; im Übrigen könne eine Einweisung in eine Vollzugsanstalt mit entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten erfolgen. Die Kammer schließe sich der Bewertung des Anstaltsarztes an. Es sei nicht ersichtlich, dass die festgestellte Depression oder die in Anfängen bestehende Demenz dazu führten, dass der Beschwerdeführer für einen Behandlungsvollzug nicht mehr ansprechbar wäre. Dass der Anstaltsarzt den Beschwerdeführer nicht persönlich untersucht habe, sei unschädlich, da er sich auf die seitens der Verteidigung eingereichten Befunde gestützt habe. Die abweichende Bewertung dieser Befunde durch den Amtsarzt stehe dem ebenfalls nicht entgegen, da sie im Ausgangspunkt nicht überzeuge und mit den strengen Maßstäben, die an eine Geisteskrankheit zu stellen seien, nicht übereinstimme.

b) Ein Aufschub sei auch nicht nach § 455 Abs. 2 StPO zu gewähren.

aa) Weder die bestehende Herzerkrankung noch die psychische Erkrankung begründeten die Besorgnis naher Lebensgefahr durch die Vollstreckung. Soweit der behandelnde Arzt des Rehabilitationszentrums ausgeführt habe, Depression und Demenz könnten sich durch die Haftumstände weiter verschlechtern, zeige er keine hinreichende Wahrscheinlichkeit drohender schwerwiegender und irreparabler Schäden auf, sondern lediglich eine nicht näher begründete Möglichkeit.

bb) Die Herzerkrankung des Beschwerdeführers begründe eine Besorgnis naher Lebensgefahr durch die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nicht. Eine solche Gefahr werde in dem amtsärztlichen Gutachten vom 26. Februar 2019 nicht festgestellt. Dass sich der Gesundheitszustand durch die Haft signifikant und insbesondere zu einer Lebensgefahr verschlechtern könnte, sei nicht ausgeführt und auch sonst nicht ersichtlich. Ausweislich der Stellungnahmen des Anstaltsarztes könnten die kardialen Erkrankungen auch in der Haft untersucht und weiterhin medikamentös behandelt werden.

cc) Auch bei einer Zusammenschau der psychischen Erkrankung und der Herzerkrankung unter Berücksichtigung der übrigen Erkrankungen des Beschwerdeführers bestehe derzeit keine Besorgnis einer nahen Lebensgefahr oder drohender schwerwiegender Schäden an der Gesundheit des Beschwerdeführers. Soweit sich die Verteidigung auf die Stellungnahme des SRH Gesundheitszentrums (…) vom 23. Mai 2019 berufe, vermöge diese eine solche mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht festzustellen. Darin werde ausgeführt, dass die Herzerkrankung durch die bestehende psychopathologische Symptomatik zugespitzt werden könne. Dies begründe weder die nach dem Vorstehenden erforderliche hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Verschlechterung noch sei insoweit ersichtlich, dass eine etwaige Verschlechterung ursächlich durch den Vollzug eintreten würde.

6. Die gegen den Beschluss des Landgerichts Essen erhobene sofortige Beschwerde vom 26. August 2019 verwarf das Oberlandesgericht Hamm mit Beschluss vom 5. November 2019 als unbegründet.

Unter dem 13. November 2019 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge gegen diesen Beschluss. Mit Beschluss vom 27. Dezember 2019 verwarf das Oberlandesgericht Hamm diese als unbegründet.

7. Mit Schreiben vom 18. November 2019 wurde der Beschwerdeführer von der Staatsanwaltschaft aufgefordert, der Ladung zum Strafantritt vom 17. Mai 2019 sofort Folge zu leisten. Um eine Verhaftung zu vermeiden, stellte er sich am 21. November 2019 zum Strafantritt.

II.

Mit seiner zusammen mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt er vor, dass die angegriffenen Entscheidungen auf die verfassungsrechtlich gebotene zureichende Sachaufklärung verzichteten. Sie stützten sich maßgeblich auf die - den amtsärztlichen Einschätzungen der Haftunfähigkeit zuwiderlaufenden - Stellungnahmen des Anstaltsarztes. Dieser vermute aber nur, dass der Beschwerdeführer haftfähig sei, und behalte sich eine weitere Prüfung zum Haftantritt vor. Diese Stellungnahme habe daher nicht ohne weitere Sachaufklärung den angegriffenen Entscheidungen zugrunde gelegt werden können.

Im Übrigen verstießen die angegriffenen Entscheidungen gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abzuleitende Gebot einer Abwägung der wesentlichen Aspekte, die bei einer Entscheidung über die Haftfähigkeit eines Verurteilten zu berücksichtigen seien.

III.

1. Das Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.

2. Der Generalbundesanwalt hält die Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Ladung zum Strafantritt vom 17. Mai 2019 für unzulässig und im Übrigen für unbegründet.

a) Die Staatsanwaltschaft habe die amtsärztliche Untersuchung des Beschwerdeführers veranlasst, die Untersuchungsergebnisse sowohl der behandelnden wie auch der Amtsärzte dem Anstaltsarzt vorgelegt und gestützt auf sämtliche vorliegenden Unterlagen und Befunde der Einschätzung des Anstaltsarztes folgend ihre Entscheidungen getroffen. Ein Aufklärungsmangel sei auch nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht allein in dem Umstand zu sehen, dass seitens des Anstaltsarztes keine eigene körperliche Untersuchung des Beschwerdeführers durchgeführt wurde, da der Anstaltsarzt die Diagnosen und medizinischen Befunde der behandelnden Ärzte nicht bezweifele, sondern seiner eigenen Beurteilung zugrunde gelegt habe.

b) Auslegung und Anwendung von § 455 StPO seien insgesamt nicht zu beanstanden.

aa) Keiner der vom Beschwerdeführer vorgelegten Befunde stütze eine psychische Erkrankung von dem zu fordernden Schweregrad. Dem stehe nicht entgegen, dass der Amtsarzt in seiner Stellungnahme vom 5. April 2019 davon ausgehe, der Tatbestand des Verfalls in Geisteskrankheit sei erfüllt. Die Aufgabe des Amtsarztes sei nicht die Subsumtion unter diesen Rechtsbegriff, sondern die Vermittlung der hierfür notwendigen Anknüpfungstatsachen.

bb) Hinsichtlich der schweren Herzerkrankung des Beschwerdeführers sei eine Lebensgefahr oder eine schwere Gesundheitsgefahr aufgrund des Vollzugs nicht erkennbar. Zwar kämen die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte teilweise zu diesem Ergebnis. Die fortbestehende Behandlungsbedürftigkeit des Beschwerdeführers sei jedoch nicht geeignet, seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen ein Gewicht beizulegen, das sein Interesse an einer Haftverschonung gegenüber dem Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs überwiegen könnte. Zumindest die organischen Beschwerden und die Depression des Beschwerdeführers könnten auch innerhalb des Vollzugs behandelt werden, was der Anstaltsarzt im Einzelnen erläutert habe.

3. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft vorgelegen.

IV.

Mit Beschluss vom 10. Dezember 2019 erließ die 1. Kammer des Zweiten Senats die beantragte einstweilige Anordnung und ordnete an, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache ausgesetzt wird. Die Kammer wiederholte diese Anordnung zuletzt mit Beschluss vom 28. April 2022.

V.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Zu dieser Entscheidung ist sie berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Davon ausgehend verletzen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft vom 12. Juli 2019, mit welcher der beantragte Strafaufschub abgelehnt wurde, und die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer vom 15. August 2019 und des Oberlandesgerichts vom 5. November 2019 das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

1. Die sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an eine Entscheidung über die Ablehnung des Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gemäß § 455 StPO hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung bereits konkretisiert.

a) Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen, und die Gleichbehandlung aller im Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten gebieten grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>). Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte Freiheitsstrafen zu vollstrecken sind (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09 -, Rn. 24 und vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 8).

b) Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Bei Gesundheitsgefährdungen eines Strafgefangenen entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte ein Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang. Ein Konflikt ist nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der bei der Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Beachtung erfordert, durch Abwägung der widerstreitenden Interessen aufzulösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Verurteilten ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die Strafvollstreckung dienen soll, verletzt der Eingriff den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09 -, Rn. 25). Dies ist jedenfalls der Fall, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei der Durchführung der Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird (vgl. BVerfGE 51, 324 <345 ff.>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003 - 2 BvR 1007/03 -, Rn. 2 und vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 9).

c) Darüber hinaus verpflichtet Art. 1 Abs. 1 GG die Strafvollstreckungsbehörde dazu, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>). Der Strafvollzug steht unter dem Gebot, schädlichen Auswirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen im Rahmen seiner Möglichkeiten entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 109, 133 <150 f.>; 117, 71 <91>) und die Gefangenen lebenstüchtig zu halten (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 117, 71 <91>). Ein menschenwürdiger Vollzug der Strafe wäre nicht mehr sichergestellt, wenn dem Verurteilten von vornherein jegliche Hoffnung genommen würde, seine Freiheit wiederzuerlangen. Deshalb muss auch der mit besonders schwerer Tatschuld beladene Verurteilte die grundsätzlich realisierbare Chance haben, seine Freiheit wiederzugewinnen (vgl. BVerfGE 45, 187 <245, 258, 259>; 64, 261 <272>; 72, 105 <116 f.>). Zwar ist der Vollzug der Strafe auch im hohen Lebensalter nicht ausgeschlossen. Fallgestaltungen, die den Verurteilten von vornherein zum Versterben in der Haft verurteilen oder seine Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden, auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest reduzieren, sind dem Strafvollzug unter der Herrschaft des Grundgesetzes grundsätzlich fremd (vgl. BVerfGE 64, 261 <272>; 72, 105 <116 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 10).

d) § 455 StPO trägt diesem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung seines Strafanspruchs einerseits und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner Gesundheit und der Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit andererseits Rechnung. Bei der Auslegung von § 455 StPO hat die Vollstreckungsbehörde die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Rechnung zu stellen. § 455 StPO verbietet einen Vollzug, von dem eine nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahren drohen. Stehen hingegen ausreichende Mittel zur medizinischen Betreuung und zur Abwehr vorhandener Gesundheitsgefahren zur Verfügung, bedarf es eines Zurücktretens des staatlichen Strafanspruchs nicht (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09 -, Rn. 27, 28 und vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 11).

e) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch verfahrensrechtliche Bedeutung. Unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208 <230>; vgl. zum Maßstab insgesamt BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 21. Dezember 2017 - 2 BvR 2772/17 -, Rn. 12). Drängen sich Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG einen Strafaufschub gebieten könnte, ist die Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen gehalten, den Gesundheitszustand des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls hat sie insoweit ergänzende ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. März 2010 - 2 BvR 3012/09 -, Rn. 30).

2. Gemessen hieran genügen die angegriffenen Entscheidungen den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zureichende Sachaufklärung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht.

a) Sowohl die Staatsanwaltschaft Essen als auch das Landgericht Essen stützen ihre Entscheidung im Wesentlichen auf die Stellungnahmen des Anstaltsarztes vom 13. Mai 2019, vom 19. Juni 2019 sowie vom 3. Juli 2019. Die unter dem Vorbehalt abweichender Erkenntnisse im Falle einer Inaugenscheinnahme getroffenen Bewertungen des Anstaltsarztes stehen aber im Widerspruch zu den Ergebnissen und Bewertungen der amtsärztlichen Begutachtungen und der vorgelegten Stellungnahmen des Gesundheitszentrums (…), die auf der Grundlage persönlicher Untersuchungen des Beschwerdeführers erstellt wurden. Angesichts dessen stellen sie keine ausreichende tatsächliche Grundlage für die angegriffenen Entscheidungen dar.

aa) Die Stellungnahme des Gesundheitsamts (…) sowie die dazugehörigen psychiatrischen Gutachten diagnostizieren eine mittelgradige depressive Störung des Beschwerdeführers mit langdauerndem Verlauf sowie eine entweder bestehende Pseudodemenz aufgrund der depressiven Störung oder eine demenzielle Störung mit depressiver Symptomatik. Sowohl vom Gesundheitsamt als auch von dem herangezogenen Psychiater wird der Beschwerdeführer als haftunfähig angesehen, von letzterem unter ausdrücklichem Bezug auf § 455 Abs. 1 StPO und verbunden mit dem Hinweis, dass es hinsichtlich des Vorliegens einer Demenz weiterer Aufklärung bedürfe. Der Verweis auf das Justizvollzugskrankenhaus helfe nicht weiter, da dessen Kapazitäten zu limitiert seien.

bb) Auch die Stellungnahme des SRH Gesundheitszentrums (…) vom 12. April 2019 attestiert - trotz der vollen Orientierung des Beschwerdeführers - eine Depression (ICD-10 F32.9) in Form zunehmender Vergesslichkeit und Halluzinationen. In der Stellungnahme vom 23. Mai 2019 wird auf eine ausgeprägte Angst- und Depressionssymptomatik mit einzelnen psychotischen Elementen im Sinne von Halluzinationen und gedanklich inhaltlicher Einengung sowie auf eine beginnende generalisierte kognitive Störung mit Schwerpunkten im Bereich von Konzentration, Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis und deklarativem Gedächtnis verwiesen. Zudem wird unter dem 3. Juni 2019 darauf hingewiesen, dass die internistische Erkrankung die psychiatrische Problematik im Sinne wechselseitiger Aggravation deutlicher hervortreten lassen könne und der Patient wegen der Schwere der neuropsychiatrischen Symptomatik nicht haftfähig sei.

cc) Demgegenüber führt der Anstaltsarzt unter dem 13. Mai 2019 in Bezug auf die Depression und die demenzielle Erkrankung aus, dass die psychiatrischen Diagnosen ihm nicht von einem Gewicht „scheinen“, dass der Beschwerdeführer dauerhaft haftunfähig sei. Allerdings könne er die Auswirkungen der vorhandenen Demenz auf die Alltagsfähigkeiten des Beschwerdeführers allein aus den Gutachten und den beiliegenden Befunden „nicht sicher abschätzen“. In seiner Stellungnahme vom 19. Juni 2019 gibt der Anstaltsarzt an, dass er den Beschwerdeführer nicht untersucht habe und nicht ausschließe, dass sich nach Inaugenscheinnahme ein anderes Bild ergebe sowie dass die noch ausstehenden Arztbriefe noch neue Gesichtspunkte zeigten. Unter dem 3. Juli 2019 führt er schließlich aus, dass er angesichts der Teilnahme des Beschwerdeführers an den vom Gesundheitszentrum (…) angegebenen Therapiemaßnahmen davon ausgehe, dass die Demenz nicht so ausgeprägt sein dürfte.

b) aa) Damit fehlte es vorliegend aber an einer ausreichenden Aufklärung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers. Diese ist jedoch unerlässlich, um eine Abwägung im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und den Grundrechten des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vornehmen zu können.

Anhand der vorgelegten Unterlagen lässt sich nicht abschließend beurteilen, von welchem Schweregrad die vorgetragenen physischen und psychischen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers sind und inwieweit diese den Anforderungen an einen Haftaufschub gemäß § 455 Abs. 1 StPO genügen. Dies gilt bereits für die amtsärztlichen Begutachtungen, die sich neben der Anamnese im Wesentlichen darauf beschränken, die - juristisch unverbindliche - Bewertung einer Haftunfähigkeit auszusprechen, wobei überdies noch auf zusätzlichen Aufklärungsbedarf verwiesen wird. Auch die Stellungnahmen des SRH Gesundheitszentrums (…) ermöglichen nicht hinreichend, die gesundheitlichen Einschränkungen des Beschwerdeführers abschließend nachzuvollziehen und am Maßstab des § 455 Abs. 1 StPO zu messen.

Soweit das Gesundheitsamt (…) ausdrücklich das Vorliegen einer Geisteskrankheit im Sinne des § 455 Abs. 1 StPO feststellt, ist dies aufgrund der erhobenen medizinischen Befunde nicht nachvollziehbar. Unter den Begriff der Geisteskrankheit fallen nur geistige Erkrankungen, die so schwer sind, dass der Verurteilte für einen Behandlungsvollzug nicht mehr ansprechbar ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 18. Juni 2012 - 2 Ws 522/12 -, NStZ 2013, S. 127 <128>; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., StPO, 65. Aufl. 2022, § 455 Rn. 4). Dass dieser Zustand vorliegend gegeben ist, kann weder dem amtsärztlichen Gutachten noch den Stellungnahmen des SRH Gesundheitszentrums (…) zweifelsfrei entnommen werden.

bb) (1) Die Ausführungen des Anstaltsarztes, der den Beschwerdeführer selbst nicht untersucht hat, vermögen die bestehenden Zweifel an dessen Haftfähigkeit nicht zu beseitigen. Zwar geht er von der Haftfähigkeit des Beschwerdeführers aus, räumt zugleich aber ausdrücklich ein, keine endgültige Einschätzung vornehmen zu können. Auch seine Darlegungen schaffen daher angesichts der entgegenstehenden Stellungnahmen und Begutachtungen keine ausreichende tatsächliche Grundlage für die Entscheidung über einen Haftaufschub gemäß § 455 Abs. 1 StPO.

(2) Zu keinem anderen Ergebnis führt der Verweis des Anstaltsarztes auf die durch das SRH Gesundheitszentrum (…) durchgeführten Therapien, da sich daraus nicht ergibt, dass der Beschwerdeführer tatsächlich hinreichend ansprechbar für den Strafvollzug ist. Der Befund des SRH Gesundheitszentrums (…) vom 12. April 2019 listet die Therapieleistungen nur auf und gibt keine Auskunft über die konkrete Art und Weise ihrer Bewältigung durch den Beschwerdeführer.

(3) Außerdem hat der Anstaltsarzt die Frage einer wechselseitigen Aggravation von kardiologischer und psychiatrischer Erkrankung keiner näheren Betrachtung unterzogen, so dass seine Stellungnahmen auch unter diesem Gesichtspunkt keine tragfähige Grundlage für die zu treffende Entscheidung bilden.

cc) Vor diesem Hintergrund war es vorliegend verfassungsrechtlich geboten, im Interesse bestmöglicher Sachaufklärung weitere Maßnahmen zur Ermittlung des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers durchzuführen. Denkbar gewesen wären beispielsweise die Einholung einer Stellungnahme des zuständigen Justizvollzugskrankenhauses oder eines Sachverständigengutachtens sowie die Anordnung einer persönlichen Exploration des Beschwerdeführers durch den Anstaltsarzt.

c) Demgegenüber kann - auch vor dem Hintergrund, dass es sich bei § 455 Abs. 1 StPO um eine gebundene Entscheidung über den Strafaufschub handelt (Schmitt, in: Meyer-Goßner/ders., StPO, 65. Aufl. 2022, § 455 Rn. 3) - nicht darauf verwiesen werden, dass nach Haftantritt gegebenenfalls adäquat auf den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers reagiert und dieser gegebenenfalls wieder entlassen werden könnte. Das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, aber auch das Interesse an einer effektiven Strafvollstreckung und einer angemessenen und ressourcenadäquaten Behandlung im Vollzug erfordern vielmehr eine Aufklärung der Haftfähigkeit des Beschwerdeführers im Vorfeld des Haftantritts.

d) Ob darüber hinaus die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommenen Würdigungen zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 455 Abs. 1 bis 3 StPO auch hiervon losgelöst aus verfassungsrechtlicher Perspektive zu beanstanden sind oder gegen diese - wie es der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in der Sache annimmt - von Verfassungs wegen nichts zu erinnern ist, bedarf vor dem Hintergrund der Verfassungswidrigkeit schon aus den oben genannten Gründen keiner Entscheidung.

3. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG, die Entscheidung über die Auslagenerstattung auf § 34a Abs. 2 BVerfGG und die Entscheidung zur Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 764

Bearbeiter: Holger Mann