HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Januar 2022
23. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

3. BVerfG 2 BvR 2038/18 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 30. November 2021 (LG Münster / AG Münster)

Vorläufige Sicherstellung von Datenträgern und Unterlagen zum Zwecke der Durchsicht bei einem Berufsgeheimnisträger (Beschlagnahmeverbot beim Steuerberater des Beschuldigten; Rückausnahme bei Tatverdacht gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten; Sichtungsverfahren als Teil der Durchsuchung; Erfüllung der Durchsuchungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchsicht; Begründung eines Anfangsverdachts nicht erst durch eine den Verdacht bereits voraussetzende Ermittlungsmaßnahme).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO; § 97 Abs. 1 StPO; § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 102 StPO; § 103 StPO; § 110 StPO; § 160a Abs. 4 StPO; § 370 Abs. 1 AO

1. Die gerichtliche Anordnung der vorläufigen Sicherstellung von bei dem – selbst nicht verdächtigen – Steuerberater eines der Steuerhinterziehung Beschuldigten aufgefundenen Datenträgern und Unterlagen zum Zwecke der Durchsicht (§ 110 StPO) ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und daher objektiv willkürlich, wenn sie dazu dient, erst durch die Auswertung der dabei gewonnenen Erkenntnisse möglicherweise einen Tatverdacht auch gegen den Steuerberater zu begründen und sich so auf die Rückausnahme nach § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO zum Beschlagnahmeverbot bei Berufsgeheimnis-trägern berufen zu können. Ein solches Vorgehen ist mit dem Schutzzweck des § 97 Abs. 1 StPO unvereinbar und ließe diesen leerlaufen.

2. Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO, bei dem die im Rahmen einer Durchsuchung aufgefundenen

Gegenstände auf ihre Beweiseignung und Beschlagnahmefähigkeit überprüft werden, bewegt sich zwischen Durchsuchung und Beschlagnahme, bildet jedoch noch einen Teil der Durchsuchung. Für die Rechtmäßigkeit der richterlichen Bestätigung einer vorläufigen Sicherstellung kommt es deshalb darauf an, ob die Voraussetzungen einer Durchsuchung zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchsicht erfüllt sind.

3. Es muss deshalb zum Entscheidungszeitpunkt ein Anfangsverdacht bestehen und die Durchsicht zur Auffindung von Beweismitteln geeignet und verhältnismäßig sein. Ungeeignet ist die Durchsicht insbesondere, wenn Beweismittel aufgespürt werden sollen, die einem Beschlagnahmeverbot oder einem sonstigen Verwertungsverbot unterliegen.

4. Ein Beschlagnahmeverbot nach § 97 Abs. 1 StPO – welches nach herrschender Ansicht der Regelung in § 160a StPO vorgeht (vgl. § 160a Abs. 5 StPO) – scheidet zwar gemäß § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO aus, wenn der Zeugnisverweigerungsberechtigte selbst Beschuldigter ist. Diese Rückausnahme erfordert jedoch bereits ihrem Wortlaut nach einen durch bestimmte Tatsachen konkretisierten Verdacht gegen den Zeugnisverweigerungsberechtigten.

5. Zwar kann sich ein Tatverdacht auch erst nachträglich nach Durchführung (gegebenenfalls rechtswidriger) vorheriger Ermittlungsmaßnahmen ergeben. Auch dann ist es jedoch zwingende Voraussetzung der Rechtmäßigkeit einer weiteren richterlich angeordneten Ermittlungsmaßnahme, dass der – gerade auch gegen einen Zeugnisverweigerungsberechtigten gerichtete – Tatverdacht zum Entscheidungszeitpunkt besteht. Nicht ausreichend ist es, dass der Verdacht erst durch das (unzulässig) sichergestellte beziehungsweise beschlagnahmte Beweismittel entsteht.

6. Durchsuchung, Durchsicht oder Beschlagnahme dürfen nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Anfangsverdachts erst erforderlich sind; denn sie setzen einen Verdacht bereits voraus.


Entscheidung

2. BVerfG 2 BvR 1282/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 8. Dezember 2021 (OLG Düsseldorf)

Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze; verbindlicher völkerrechtlicher Mindeststandard; Recht auf effektiven Rechtsschutz; hinreichende gerichtlich Sachverhaltsaufklärung; Gefahr der politischen Verfolgung im Zielstaat; inszenierte Vorwürfe; Gesamtwürdigung der zu erwartenden Haftbedingungen; Haftraumgröße; verfügbare Fläche in einer Gemeinschaftszelle; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; Erschütterung des Vertrauens bei systemischen Defiziten im Zielstaat; völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen; Zweifel an der Belastbarkeit; eigene gerichtliche Gefahrprognose).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 16a Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 GG; Art. 25 GG; Art. 79 Abs. 3 GG; Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbk; § 6 Abs. 2 IRG

1. Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt das Recht des Verfolgten auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Gericht die substantiiert dargelegte Gefahr, dass die Vorwürfe der Steuerhinterziehung und der Gläubigerbenachteiligung unter Mitwirkung staatlicher Hoheitsträger bewusst inszeniert worden sind, nicht hinreichend aufgeklärt, sondern sich mit der allgemein gehaltenen Zusicherung der russischen Behörden begnügt hat, der Beschwerdeführer werde im Zielstaat nicht politisch verfolgt (Hauptsachenentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 28. Juli 2021 [= HRRS 2021 Nr. 916]).

2. Im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung sind die Gerichte zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren. Letzteres gilt insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind.

3. In Auslieferungssachen folgt aus dem Recht des Verfolgten auf effektiven Rechtsschutz eine Verpflichtung der zuständigen Stellen, bei entsprechenden Anhaltspunkten eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Falle seiner Auslieferung politische Verfolgung droht. Dies gilt auch dann, wenn im konkreten Fall ein Asylanspruch nicht besteht.

4. Bestehen konkrete Anhaltspunkte für systemische oder allgemeine Mängel der Haftbedingungen im ersuchenden Staat, so ist das Gericht verpflichtet, genau zu prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Verfolgte im Zielstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m2, zwischen 3 m2 und 4 m2 oder über 4 m2 liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen.

5. Auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr mit Staaten außerhalb der Europäischen Union ist dem ersuchenden Staat grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen, solange dieses nicht im Einzelfall durch entgegenstehende Tatsachen, etwa systemische Defizite im Zielstaat, erschüttert wird.

6. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung

nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet das Gericht allerdings nicht von der Pflicht, eine eigene Gefahrenprognose hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat anzustellen und die Belastbarkeit der Zusicherung im Einzelfall nachzuprüfen.


Entscheidung

1. BVerfG 2 BvQ 101/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 10. Dezember 2021 (LG Hannover)

Einstweilige Anordnung gegen die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach Einbeziehung in eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe (Freiheitsgrundrecht; unzulässiger Entscheidungsdruck zur Rücknahme eines Rechtsmittels gegen die Gesamtstrafenentscheidung; Verschlechterungsverbot).

Art. 2 Abs. 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 104 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 331 StPO; § 358 StPO; § 458 Abs. 1 StPO

Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe verletzt den Verurteilten möglicherweise in seinem Freiheitsgrundrecht und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn die Strafe zwischenzeitlich in eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen worden ist, wobei das Gesamtstrafenurteil allein von dem Verurteilten angefochten worden ist, so dass die Verhängung einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Strafe wegen des Verschlechterungsverbots nicht mehr in Betracht kommt. Der Verurteilte kann sich in dieser Situation einem grundrechtswidrigen Entscheidungsdruck ausgesetzt sehen, sein Rechtsmittel gegen das Gesamtstrafenurteil zurückzunehmen, um die Strafvollstreckung zu beenden.


Entscheidung

4. BVerfG 2 BvR 2080/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 1. Dezember 2021 (LG Koblenz)

Lockerungen im Strafvollzug zur Erhaltung der Lebenstüchtigkeit langjährig Inhaftierter (Resozialisierungsgrundrecht; Vollzugslockerungen auch ohne konkrete Entlassungsperspektive und nicht erst bei Anzeichen einer haftbedingten Deprivation; Erforderlichkeit zumindest von Ausführungen; keine Versagung unter bloßem Hinweis auf den personellen Aufwand; Grundrechtsrelevanz der Personalausstattung von Justizvollzugsanstalten).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; § 109 StVollzG; § 113 Abs. 1 StVollzG

1. Die Ablehnung der Ausführung eines Strafgefangenen zum Erhalt seiner Lebenstüchtigkeit begegnet unter dem Gesichtspunkt des Resozialisierungsgrundrechts erheblichen Bedenken, wenn sie allein damit begründet wird, dass die Personallage der Justizvollzugsanstalt die Ausführung nicht zulasse.

2. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung des Gefangenen auszurichten. Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es erforderlich, aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Lebenstüchtigkeit des Betroffenen in Freiheit zu erhalten und zu festigen. Dies gilt nicht erst dann, wenn der Gefangene bereits Anzeichen einer haftbedingten Depravation aufweist.

3. Gerade bei langjährig Inhaftierten können auch ohne Bestehen einer konkreten Entlassungsperspektive zumindest Lockerungen in Form von Ausführungen verfassungsrechtlich geboten sein, bei denen die Justizvollzugsanstalt einer angenommenen Flucht- oder Missbrauchsgefahr durch geeignete Sicherheitsvorkehrungen entgegenwirkt. Der damit verbundene personelle Aufwand ist grundsätzlich hinzunehmen. Wenngleich der Strafgefangene nicht verlangen kann, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden, setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die Beschaffenheit und Ausstattung von Vollzugsanstalten.