HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2020
21. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

466. BVerfG 2 BvR 103/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 9. März 2020 (OLG München / AG Augsburg)

Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft (verfassungsrechtlich gebotene Begründungstiefe von Haftentscheidungen; dringender Tatverdacht; Willkürverbot; Darlegung einer konkreten Tatbeteiligung des Beschuldigten innerhalb eines Gruppengeschehens; Abweichung des Beschwerdegerichts von der Vorinstanz; einzelfallbezogene Begründung der Fluchtgefahr; Auseinandersetzung mit entgegenstehenden Anhaltspunkten; besondere Anforderungen bei jugendlichen Beschuldigten; Verdunkelungsgefahr; Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 104 GG; § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO; § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO; § 112 Abs. 3 StPO; § 72 JGG; § 212 StGB

1. Eine Haftfortdauerentscheidung ist nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn das Gericht hinsichtlich eines aus einer Gruppe heraus begangenen Totschlags einen dringenden Tatverdacht gegen ein bei dem todesursächlichen Faustschlag des Haupttäters passiv gebliebenes Gruppenmitglied lediglich auf die abstrakte Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse und auf eine rein gruppenbezogene Gesamtbetrachtung

des Tatgeschehens stützt, ohne eine auf eine individuelle Handlung zurückzuführende konkrete Tatbeteiligung des Beschuldigten darzulegen.

2. Will das Beschwerdegericht von der Würdigung der Vorinstanz abweichen, so ist von ihm eine mindestens vergleichbare Begründungstiefe zu verlangen. Hat sich die Vorinstanz anhand der vorhandenen Beweismittel zu einer detaillierten Schilderung der Tatabläufe in der Lage gesehen und ist sie auf dieser Grundlage zu dem Schluss gelangt, es beständen keine Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten des Beschuldigten, so hat sich das Beschwerdegericht mit diesen Argumenten auseinanderzusetzen, wenn es eine abweichende Bewertung des Tatgeschehens zugrunde legen will.

3. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist nicht hinreichend begründet, wenn es an einer Auseinandersetzung mit naheliegenden tatsächlichen Umständen wie dem jungen Alter, den stabilen familiären Verhältnissen und der Berufsausbildung des Beschuldigten fehlt, die im Einzelfall gegen die Annahme sprechen, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen. Dies gilt erst Recht, wenn der Beschuldigte umfangreich zum Fehlen von Haftgründen vorgetragen hatte. Bei Jugendlichen sind zudem Ausführungen zu den besonderen Voraussetzungen des § 72 JGG erforderlich.

4. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

5. Der für die Anordnung von Untersuchungshaft erforderliche dringende Tatverdacht setzt voraus, dass aufgrund bestimmter Tatsachen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat. Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings nur gerechtfertigt, wenn die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts mit Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts nicht zu vereinbaren ist oder sich als objektiv willkürlich erweist.

6. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen dabei die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen einen Haftgrund sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.


Entscheidung

467. BVerfG 2 BvR 225/20 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 1. April 2020 (OLG München)

Fortdauer der Untersuchungshaft über ein Jahr (Beschleunigungsgebot in Haftsachen und Aussetzung der Hauptverhandlung; Rechtfertigung einer Verzögerung durch das Verteidigungsverhalten; unzureichend begründete Erwartung eines umfassenden Geständnisses; keine Bindungswirkung einer im Zwischenverfahren vom Verteidiger ohne Beteiligung des Angeklagten unter Vorbehalt erklärten Verständigungsbereitschaft; Neuterminierung und Verhinderung des Verteidigers; Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung; Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; keine Rechtfertigung von Verfahrensverzögerungen allein durch die Schwere der Tat oder die nicht nur kurzfristige Überlastung des Gerichts; Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 112 StPO; § 121 StPO; § 122 StPO; § 228 StPO

1. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht eine durch eine Aussetzung der Hauptverhandlung und eine Neuterminierung erst auf einen etwa sieben Monate später liegenden Zeitpunkt bedingte Verzögerung unter Hinweis auf das Verteidigungsverhalten des Angeklagten als gerechtfertigt ansieht, obwohl weder erkennbar ist, weshalb die Strafkammer darauf hätte vertrauen können, der Angeklagte werde ein umfassendes Geständnis ablegen, noch, weshalb sie die Hauptverhandlung nach der nur teilgeständigen Einlassung des Angeklagten sogleich ausgesetzt hat, ohne die erschienenen Zeugen zu vernehmen und ohne sich um weitere Fortsetzungstermine zu bemühen.

2. Eine im Zwischenverfahren in Abwesenheit und ohne Zustimmung des Angeklagten zwischen den Berufsrichtern, dem Staatsanwalt und zwei von drei Verteidigern vereinbarte Verfahrensverständigung entfaltet für den Angeklagten keine Bindungswirkung dahingehend, dass er sich daran festhalten lassen muss, es sei ein umfassendes Geständnis in Aussicht gestellt worden. Dies gilt erst recht, wenn die Verteidiger einen Vorbehalt hinsichtlich des angesprochenen Strafrahmens angemeldet haben, der als Bestandteil einer Verständigung in einer synallagmatischen Verknüpfung mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten steht.

3. Hat der Angeklagte sich bei dem vorgesehenen (Neu-)Beginn der Hauptverhandlung bereits ein Jahr und fünf Monate in Untersuchungshaft befunden, ist dies verfassungsrechtlich nur ausnahmsweise hinnehmbar, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen. Die Terminslage eines Verteidigers – bei der es sich nicht um einen verfahrensimmanenten Umstand handelt – kann dabei allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Die Strafkammer hat gegebenenfalls die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen.

4. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wur-

zelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

5. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.

6. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

7. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

8. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.

9. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.


Entscheidung

474. BVerfG 2 BvR 2090/19 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. Februar 2020 (Brandenburgisches OLG)

Fortdauer der Untersuchungshaft über ein Jahr (Beschleunigungsgebot in Haftsachen im gerichtlichen Zwischenverfahren; unzureichend begründete Vorlage an das Schwurgericht; vermeidbarer Kompetenzkonflikt; verfassungsrechtlich gebotene Verhandlungsdichte und Verhinderung des Verteidigers; Freiheitsgrundrecht; Unschuldsvermutung; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; keine Rechtfertigung von Verfahrensverzögerungen allein durch die Schwere der Tat oder die nicht nur kurzfristige Überlastung des Gerichts; Komplexität des Verfahrens; Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 GG; § 112 StPO; § 121 StPO; § 122 StPO; § 199 StPO; § 202a StPO; § 74 Abs. 2 GVG; § 212 StGB; § 244a StGB

1. Dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen ist nicht Genüge getan, wenn das Gericht erst fünf Monate nach Erhebung der Anklage über die Entscheidung des Hauptverfahrens entschieden hat, ohne schlüssig zu begründen, weshalb dies ausnahmsweise gerechtfertigt sein könnte. Der zügige Abschluss des Ermittlungsverfahrens trotz dessen hoher Komplexität rechtfertigt dabei keine verzögerte Bearbeitung im Zwischenverfahren.

2. Eine Verzögerung im Zwischenverfahren rechtfertigt die Haftfortdauer nicht, wenn sie Folge eines vermeidbaren Kompetenzkonflikts ist. Dies ist anzunehmen, wenn die zuständige Kammer das Verfahren erst vier Monate nach Anklageerhebung dem Schwurgericht vorlegt, dabei die Annahme eines Tötungsvorsatzes nur defizitär begründet und trotz bereits bestehender Vorlageabsicht zuvor noch einen Erörterungstermin durchführt.

3. Beginnt die Hauptverhandlung erst über acht Monate nach Anklageerhebung und ein Jahr und zwei Monate nachdem der Angeklagte in Untersuchungshaft genommen worden ist, so ist dies nur aus gewichtigen Gründen zu rechtfertigen, die in der Haftfortdauerentscheidung darzulegen sind. Hieran fehlt es, wenn eine bereits in Aussicht gestellte deutlich frühere Terminierung wegen anderer Verfahren der Kammer unterblieben ist, ohne dass dargelegt wird, inwiefern diese vorrangig waren und ob die Kammer deren Verschiebung oder eine Anberaumung weiterer Termine hätte ins Auge fassen müssen.

4. Die Erwartung eines auf eine lange Hauptverhandlung ausgerichteten Verteidigungsverhaltens kann zwar die Anzahl und Dauer der vorgesehenen Hauptverhandlungstermine rechtfertigen, nicht jedoch das Unterlassen einer dichteren Terminierung. Abweichendes kann allenfalls gelten, soweit ein Verteidiger seine Verhinderung ganz offensichtlich nur vorschiebt, um eine Terminierung zu unterbinden.

5. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

6. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund.

7. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der

gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

8. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen beansprucht auch für das gerichtliche Zwischenverfahren Geltung. Im Falle der Entscheidungsreife ist über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen.

9. Bei absehbar umfangreichen Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit durchschnittlich mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.

10. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

11. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.

12. Die Terminslage des Verteidigers – bei der es sich nicht um einen verfahrensimmanenten Umstand handelt – kann in Haftsachen allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Nicht mehr hinzunehmen sind hingegen Verzögerungen von mehreren Monaten bei der Terminierung der Hauptverhandlung.

13. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.


Entscheidung

468. BVerfG 2 BvR 336/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 10. Februar 2020 (OLG Hamm)

Klageerzwingungsverfahren (Unzulässigkeit eines in englischer Sprache eingereichten Antrags auf gerichtliche Entscheidung; Grundsatz der materiellen Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; vorherige Geltendmachung eines Gehörsverstoßes mit einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 170 Abs. 2 StPO; § 172 Abs. 3 StPO; § 184 GVG

1. Der in englischer Sprache verfasste Klagerzwingungsantrag des Vaters eines in einer Klinik in Tansania von deutschen Ärzten behandelten psychisch erkrankten Patienten, der sich das Leben genommen hat, ist von vornherein unzulässig, wenn ihm die erforderlichen beglaubigten deutschen Übersetzungen nicht beigefügt worden sind.

2. Eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Gehörsverletzung geltend gemacht wird, wahrt nicht den Grundsatz der materiellen Subsidiarität, wenn der Beschwerdeführer zuvor zwar einen formal als Anhörungsrüge bezeichneten Rechtsbehelf eingelegt, darin jedoch keinen übergangenen Vortrag aufgezeigt, sondern lediglich eine andere Bewertung vorgenommen hat als das Gericht.


Entscheidung

469. BVerfG 2 BvR 1202/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 17. März 2020 (Saarländisches OLG / LG Saarbrücken)

Strafvollzugsrecht (Fortschreibung des Vollzugsplans als erledigendes Ereignis; Verletzung des Resozialisierungsgrundrechts durch Versagung von Ausführungen).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art 2 Abs. 1 GG; § 11 StVollzG; § 109 StVollzG; § 115 Abs. 3 StVollzG

1. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Fortschreibung eines Vollzugsplans, durch welche die streitgegenständlichen Regelungen abgeändert werden, im Verfahren nach den §§ 109 ff. StVollzG als erledigendes Ereignis angesehen wird.

2. Ein Vollzugsplan berücksichtigt das Resozialisierungsgrundrecht eines langjährig Inhaftierten nicht in angemessener Weise, wenn diesem Ausführungen unter bloßem Verweis auf seinen noch defizitären Behandlungsstand pauschal versagt werden.


Entscheidung

470. BVerfG 2 BvR 1273/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 18. März 2020 (OLG Koblenz / LG Koblenz)

Strafvollzugsrecht (kein Recht von Gefangenen auf Installation eines Sichtschutzvorhangs in einem Einzelhaftraum; Anspruch auf besondere Rücksichtnahme bei Toiletten ohne ausreichenden Sichtschutz).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG

Gefangene, in deren Haftraum die Toilette nicht mit ausreichendem Sichtschutz versehen ist, haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf besondere Rücksichtnahme durch die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt. Allerdings folgt aus der Verfassung kein Anspruch auf Installation eines Sichtschutzvorhangs in einem Einzelhaftraum.


Entscheidung

471. BVerfG 2 BvR 1362/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 24. März 2020 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Verlegung eines Strafgefangenen in eine andere Justizvollzugsanstalt (Resozialisierungsanspruch und Recht auf Schutz intakter Familienbeziehungen; Anspruch des Gefangenen auf fehlerfreie Ermessensausübung).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 GG

Gefangene haben bei Verlegungsentscheidungen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensausübung, die dem verfassungsrechtlichen Gewicht des Resozialisierungsziels Rechnung trägt. Dabei kommt den familiären Beziehungen des Gefangenen wesentliche Bedeutung zu.


Entscheidung

472. BVerfG 2 BvR 1444/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 1. April 2020 (OLG Hamm / LG Arnsberg)

Verfahren nach dem Strafvollzugsgesetz (Verletzung der Rechtsschutzgleichheit bei Versagung von Prozesskostenhilfe nach erfolgreicher Rechtsverfolgung).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 114 Satz 1 ZPO; § 109 StVollzG

Die Versagung von Prozesskostenhilfe in einem strafvollzugsrechtlichen Verfahren verletzt die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgleichheit, wenn sie sich darauf stützt, dass der Antrag des Gefangenen auf gerichtliche Entscheidung gegen eine Regelung in einem Vollzugsplan bereits ohne die Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten erfolgreich gewesen sei und ihm insoweit keine Kosten entstanden seien.


Entscheidung

473. BVerfG 2 BvR 1455/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 1. April 2020 (OLG Rostock / LG Rostock)

Strafvollzugsrecht (unzulässige Beschränkung des Rechtsschutzes bei Forderung einer Fahrtkostenpauschale zur Einlegung der Rechtsbeschwerde; Rechtsstaatsprinzip; Recht auf effektiven Rechtsschutz; Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts für alle Behörden und Gerichte).

Art. 19 Abs. 4 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 31 Abs. 1 BVerfGG; § 118 Abs. 3 StVollzG; § 41 Abs. 1 Satz 3 StVollzG MV

1. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Rechtsschutzgarantie ist nicht genügt, wenn die einzige Möglichkeit für Strafgefangene, in Vollzugssachen eine den formellen Anforderungen entsprechende Rechtsbeschwerde einzulegen, ohne einen Rechtsanwalt einzuschalten, von der Zahlung einer Fahrtkostenpauschale abhängig gemacht wird, die geeignet ist, von der Inanspruchnahme des Rechtsschutzes abzuschrecken.

2. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind für alle Gerichte und Behörden bindend; alle Rechtsvorschriften sind im Einklang mit der Verfassung auszulegen und anzuwenden.