HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2020
21. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Widrigkeiten der Sittenwidrigkeitsformel des § 228 StGB

Zugleich Besprechung von BGH HRRS 2019 Nr. 1006

Von Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski, Köln

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich einmal mehr mit den Grundsätzen der Einwilligung und deren Schranke in § 228 StGB befasst. Die Entscheidung vermeidet zumindest einige der früheren Fehler. Sie als Stärkung des individuellen Selbstbestimmungsrechts zu begreifen, wäre gleichwohl ein sachlich ungerechtfertigter Euphemismus. So verpasst das Gericht neuerlich die Chance, der verfassungsrechtlich unhaltbaren Sittenwidrigkeitsformel des § 228 StGB eine Absage zu erteilen. Aufgrund dieser zögerlichen Haltung gelingt dem Selbstbestimmungsrecht allenfalls ein Etappensieg, der seinerseits droht, im kasuistischen Dschungel der höchstrichterlichen Rechtsprechung unterzugehen.

A. Der Fall des Landgerichts Darmstadt

Der Entscheidung des BGH liegt ein Urteil des LG Darmstadt zugrunde.[1] Eine Pflegekraft hatte einem 84-Jährigen zur Abwendung von darmkrebsbedingten Schmerzen in der finalen Sterbephase eine Morphininjektion verabreicht. Die Dosis wich von der konkreten ärztlichen Verordnung um das Doppelte ab, bewegte sich dabei allerdings noch innerhalb der für die Schmerzbehandlung bei Krebspatienten üblichen Menge. Die angeklagte Pflegekraft handelte mit dem Motiv, die Schmerzen des Sterbenden zu lindern, zumal sie die ärztlich verordnete Dosis als zu gering einschätzte. Wenig später verstarb der Patient. Ob dafür die Morphingabe ursächlich war, ließ sich tatsächlich nicht feststellen.

Der Patient hatte vor seinem Tod eine Patientenverfügung abgegeben, deren genauen Inhalt die Angeklagte nicht kannte. Darin äußerte der Verstorbene den Wunsch, "bei Schmerzen, Erstickungsängsten und Atemnot, Übelkeit, Angst sowie anderen qualvollen Zuständen und belastenden Symptomen Medikamente verabreicht" zu bekommen, die ihn "von Schmerzen und größeren Belastungen befreien, selbst wenn dadurch" sein "Tod voraussichtlich früher eintreten" werde. Nach der Aufnahme in die Seniorenresidenz, in der er unter anderem von der Angeklagten gepflegt wurde, lehnte er trotz starker Schmerzen Medikamente, Schmerzmittel und Nahrungsaufnahmen häufig ab. Die Angeklagte bat ihn regelmäßig darum, die Verabreichung von Schmerzmitteln zu dulden. Weitere Anhaltspunkte liefert das Urteil des LG Darmstadt zur Beurteilung der Frage nach der ausdrücklichen oder mutmaßlichen Einwilligung des Verstorbenen in die letzte Morphingabe nicht.

Der BGH beanstandet, dass sich so keine zweifelsfreie Aussage über den Willen des Patienten treffen lasse.[2] Das LG Darmstadt konnte von entsprechenden Feststellungen freilich absehen: Weil die Angeklagte gegen eine klare ärztliche Anordnung verstieß, sei eine Einwilligung ohnehin nicht möglich gewesen. Das Gericht verurteilte die Pflegekraft daher wegen Körperverletzung gemäß § 223 StGB.[3]

B. Die Entscheidung des BGH

Der BGH widerspricht den Ausführungen des LG Darmstadt zur Rechtfertigung der Angeklagten und stellt demgegenüber klar, dass selbst bei dem Abweichen von einer ärztlichen Anordnung Raum für eine Einwilligung des Patienten besteht. Dies gelte im "Ausnahmefall" auch für einen "Nichtarzt".[4] Dabei berechtige ein Verstoß gegen das BtMG (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 – Verabreichung von Betäubungsmitteln ohne ärztliche Approbation) für sich genommen nicht zur Annahme von Sittenwidrigkeit im Sinne des § 228 StGB.[5] Der Konsum illegaler Drogen sei "heute nicht mehr nach allgemein anerkannten Wertvorstellungen als unvereinbar mit den guten Sitten anzusehen". Dies habe auch für Körperverletzungen durch die Gabe von Betäubungsmitteln zu gelten. Selbst die Verabreichung "harter" Drogen könne den guten Sitten entsprechen, wenn die "damit verbundenen Gefahren (…) im Einzelfall durch einen billigenswerten Zweck der Handlung, wie der Bekämpfung von Vernichtungsschmerzen eines Sterbenden, kompensiert werden."

Der BGH betont, dass er sich auf diese Weise nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des 3. Senats in Bezug auf die Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen bei verabredeten Schlägereien setze.[6] Denn in diesem Kontext sei von medizinisch indizierten Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit keine Rede gewesen, sodass die dortige Herleitung der Sittenwidrigkeit aus einem Verstoß gegen § 231 StGB dem nunmehr getroffenen Judikat nicht entgegenstünde.[7] Der BGH geht insofern mitnichten soweit, die Rechtsprechung des 3. Senats zu korrigieren. Vielmehr zieht er sich darauf zurück, dass die noch vor der "Schlägerei-Judikatur" hinsichtlich des Zusammenspiels der Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen und des Verstoßes gegen Universalrechtsgüter schützende Vorschriften geltende Rechtsprechung[8] für den Bereich der "indirekten Sterbehilfe" weiterhin maßgebend sei: "Hier hat die Freiheit zur Disposition über das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit besondere Bedeutung." Im Klartext: Der BGH vollzieht für eine spezifische Fallgruppe eine Rolle rückwärts, ohne zu klären, ob die "Schlägerei-Rechtsprechung" damit ausschließlich auf diese Konstellation begrenzt zu verstehen sei. Was wir nunmehr (ausschließlich) wissen, ist, wie Fälle der verabredeten Schlägerei und solche der "indirekten Sterbehilfe" unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit bei Verstoß gegen sonstige Vorschriften, die für den Einwilligenden indisponible Güter schützen, zu behandeln sind. Hinsichtlich all der anderen zahlreichen Konstellationen, in denen eben jenes Spannungsverhältnis auftreten kann, lässt das Gericht uns im Dunkeln.

C. Kategorie der Sittenwidrigkeit (§ 228 StGB) als Geburtsfehler der höchstrichterlichen Judikatur

Das Urteil ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund eine Enttäuschung. Es genügt nicht, eine für sich genommen mehr als fragwürdige Rechtsprechung kasuistisch in ihrem Anwendungsbereich zu begrenzen; vor allem dann nicht, wenn unklar bleibt, ob diese Begrenzung für sämtliche anderen Konstellationen außer verabredeten Schlägereien gilt oder nicht. Damit lässt sich zwar positiv anmerken, dass der BGH zumindest eine Fallgruppe im Kontext der Einwilligung in eine Körperverletzung im Ergebnis richtig löst. Der Weg dahin unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts der Rechtsprechung zu § 228 StGB erweist sich jedoch als nicht gangbar. Dies wiegt besonders schwer, weil gerade die Entscheidungsbegründung die Lösung für eine Vielzahl ähnlich gelagerter Fälle hätte liefern können. Demgegenüber hat sich der BGH dazu entschieden, seine Rechtsauffassung auf den (besonders engen) Kreis an Körperverletzungshandlungen durch Betäubungsmittelgabe mit dem Ziel einer vom Willen des Opfers getragenen Schmerzlinderung in der finalen Sterbensphase zu begrenzen. Dies kann nicht zufriedenstellen.

I. Sittenwidrigkeit und die Verletzung anderer, für den Einwilligenden indisponibler Güter

Zur Sittenwidrigkeitsbegründung bei verabredeten Schlägereien nur so viel: Es widerspricht jedweder Logik, die Einwilligungsmöglichkeit in eine Körperverletzung aus dem Grund zu begrenzen, weil das Verhalten des Täters zugleich gegen andere Vorschriften verstößt, denen für den Einwilligenden indisponible Rechtsgüter zugrunde liegen. Bereits in BGHSt 60, 166 konnte diese Argumentation das Ergebnis nicht tragen.[9] § 228 StGB begrenzt die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung auf solche Taten, die nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Ob dieser Formel eine Berechtigung eingeräumt wird oder nicht[10] – in jedem Fall steht fest, dass sich die Sittenwidrigkeit allein auf das Körperverletzungsverhalten bezieht. Es geht also darum, ob die konkrete Tat aus Schutzgesichtspunkten die Körperintegrität betreffend gegen gute Sitten verstößt. Alles andere liefe (endgültig) darauf hinaus, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zugunsten von Drittinteressen aufzulösen. Die Sittenwidrigkeitsformel verkommt daher in der "Schlägerei-Rechtsprechung" zum Einfallstor sachfremder Erwägungen, die in verfassungsrechtlich nicht haltbarer Weise die Freiheit des Einzelnen aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG verletzen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den folgenschweren Konsequenzen des Judikats:[11] Wer meint, der Verstoß gegen Universalrechtsgüter schützende Normen ziehe die Sittenwidrigkeit der gleichzeitig verwirklichten Körperverletzung nach sich, muss dies letztlich für jedes Rechtsgut annehmen, das für den Einwilligenden nicht disponibel ist. Eine sittenwidrige Körperverletzung wäre es also auch, wenn F den R ersucht, ihr die Haare zu schneiden und R dies während seiner Arbeitszeit als Rechtsanwalt im Homeoffice erledigt und somit seine Pflichten gegenüber seinem Arbeitgeber und Kanzleiinhaber K verletzt. Durch das Haareschneiden tritt eine Verzögerung im betrieblichen Ablauf ein, die dazu führt, dass eine für die Haftentlassung des Mandanten M relevante Frist nicht gewahrt wird. M muss eine Woche länger im Gefängnis bleiben. Oder: Der während seiner

Arbeitszeit Haare schneidende R ist nicht als Rechtsanwalt tätig, sondern als Feuerwehrmann und ignoriert zugunsten der F und der Aussicht auf einen kleinen Nebenverdienst einen Notruf, weshalb mehrere Personen in einem Haus verbrennen. Selbstverständlich ist R in beiden Varianten für sein die Rechtsgüter Dritter schädigendes Verhalten verantwortlich. Aber hebt dies die rechtfertigende Wirkung der Einwilligung der F in das Haareschneiden aufgrund von Sittenwidrigkeit auf? Mit Sicherheit: Nein! Und dies, obwohl durch die Körperverletzung Rechte Dritter tangiert sind, über die F nicht disponieren darf. Weiß F jeweils von den Umständen der Beschäftigung des R bzw. von dem Notruf, kann dies insoweit auch ihre Verantwortlichkeit für eingetretene Verletzungsfolgen begründen. Doch selbst dies ändert nichts daran, dass sie wirksam in das Abschneiden ihrer Haare durch R eingewilligt hat. Nichts anderes gilt für einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Wer einen anderen dazu veranlasst, gegen dessen Vorschriften zu verstoßen, kann sich unter Umständen selbst in spezifischer Weise unerlaubt und strafbar verhalten haben. Für das Innenverhältnis zwischen ihm und demjenigen, der durch dieses Verhalten zugleich in seine Körperintegrität eingreift, ändert das aber nichts: Wenn er hierin einwilligt, handelt der andere gerechtfertigt.

Daran vorbei geht auch das Argument des BGH, "ein und dasselbe Täterverhalten" könne nicht "einerseits ausdrücklich verboten, andererseits aber infolge der erteilten Einwilligung erlaubt" sein.[12] In Orientierung an für das Recht in Gänze irrelevanten naturalistischen Umständen verkennt der BGH hier, dass es sich normativ gerade nicht um dasselbe Verhalten handelt, wenn der Einzelne mehrere Straftaten durch ein und dieselbe äußerliche Bewegung begeht. Denn: Rein rechtlich (und allein dies ist ausschlaggebend!) entscheidet die Anzahl der Verhaltensnormverstöße darüber, wie viele Straftaten der Täter begeht. Wenn B den A also durch die unerlaubte Verabreichung von Betäubungsmitteln in seiner Körperintegrität verletzt, liegen hierin zwei Straftaten: Eine Körperverletzung (falls A nicht eingewilligt hat) und ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Schießt B mit einer Waffe auf A und trifft diesen an der Schulter, erfüllt er ggf. eine Körperverletzung, einen versuchten Totschlag und eine Sachbeschädigung an der Kleidung seines Opfers. Zudem kann er gegen das Waffengesetz verstoßen haben. Die Bewertung dieser unterschiedlichen Taten ist nicht voneinander abhängig, was eine Variante deutlich macht, in der A im Moment des Getroffenwerdens die Jacke des C am Körper trägt und dieser mit der Schussabgabe durch B einverstanden ist. Zwar entfällt dann die Strafbarkeit wegen Sachbeschädigung im Hinblick auf die durchlöcherte Jacke – die übrigen Taten bleiben aber unerlaubt und strafbar: weil sie schlicht jeweils einer eigenständigen rechtlichen Bewertung unterliegen.

II. Sittenwidrigkeit und "billigenswerte" Motive

Der BGH betont eine weitere Besonderheit des Falls der "indirekten Sterbehilfe" nicht nur gegenüber der "Schlägerei-Judikatur", sondern auch in Bezug auf seine sonstige Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen, indem er in besonderer Weise auf den "billigenswerten Zweck" abstellt, den die Angeklagte mit ihrem Verhalten verfolgte.[13] Gemeint ist, dass sie den Verstorbenen von erheblichen körperlichen Leiden ("Vernichtungsschmerzen") befreien wollte. Diese Motivation soll nach Auffassung des BGH den Ausschlag dafür geben, von der allgemeinen Regel abzuweichen, dass die Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen sich üblicherweise aus dem Gewicht des Rechtsgutsangriffs ableiten lässt, der wiederum daran zu bemessen ist, ob eine Todesgefahr oder eine schwere Gesundheitsschädigung verursacht wurde.[14] Indessen kann auch diese Argumentation nicht überzeugen. Sachlich lässt sich kein Grund benennen, weshalb die Reichweite der Einwilligung des Einzelnen davon begrenzt sein soll, welche Handlungsmotive der von ihm zum Eingriff in die Körperintegrität Ermächtigte aufweist. In ihrer Grundstruktur verweist die Rechtsfigur der rechtfertigenden Einwilligung auf eine Verschiebung von Verantwortungssphären, die freiverantwortliche Personen qua Verfassung vornehmen können.[15] Danach verfügt jeder Einzelne über ein spezifisches Quantum an Freiheit, das traditionell durch Individualinteressen bzw. Individualrechtsgüter näher definiert wird. In diesen Freiheitskreis darf prinzipiell kein Dritter eingreifen, da er allein dem Rechtsgutsträger zusteht. Jedoch gehört es zur Essenz eines jeden individuellen Freiheitsinteresses, dass sein Inhaber eine Verfügungsmacht darüber ausübt.[16] Diese ermöglicht es ihm, sich selbst Freiheitsbeeinträchtigungen zu unterziehen – auch und gerade durch die Ermächtigung anderer Personen, in seine Güter einzugreifen. Dies geschieht etwa bei dem Öffnen des eigenen Portemonnaie, aus dem sich ein anderer Geld herausnehmen darf, der Nutzung von Google Maps (durch Hingabe von Ortungsdaten) oder der Entfernung eines Muttermals durch den Hautarzt. In all diesen Fällen käme wohl niemand (sicher auch nicht der BGH) auf den Gedanken, zu fragen, welche Motivation der jeweils andere bei der konsentierten Freiheitsbeeinträchtigung aufweist. In der Folge ist der das Muttermal entfernende Hautarzt selbstverständlich auch dann in seinem Verhalten gerechtfertigt, wenn er überzeugt ist, auf diese Weise eine ästhetische Verschlechterung des Erscheinungsbilds des Patienten herbeizuführen, und sich darüber sogar freut.

Der Grund hierfür liegt darin, dass wir den Einzelnen in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht vor den (bösen) Gedanken anderer schützen. Gedanken, Absichten oder Motive, die nicht in ein schädigendes Verhalten umgesetzt werden, gehören dem Internum der Person an und

sind daher prinzipiell frei. Sie verletzen niemanden, weshalb sie auch nicht verboten werden dürfen.[17] Wer also dem Wunsch eines anderen nachkommt und dabei in dessen individuelle Freiheit eingreift (zum Beispiel bei einer Operation oder dem Tätowieren der Haut), handelt auch dann rechtlich erlaubt, wenn er (moralisch) besonders verwerfliche Gedanken hegt. Hiervor besteht kein rechtlicher Schutz des jeweils anderen, im Gegenteil: Es kann sich in spezifischen Situation als für den Einzelnen besonders bedeutsam herausstellen, eine Person zu einem Eingriff zu ermächtigen, selbst wenn diese dabei keine moralisch hochwertigen Zwecke verfolgt. Zu denken ist etwa an die gewünschte Operation durch den international für seine medizinischen Fähigkeiten gerühmten, wenngleich heillos misanthropen Kniespezialisten K. Es besteht kein sachlicher Grund, weshalb die Freiheit des Einzelnen, Dritten Rechtsgutseingriffe zu erlauben, begrenzt sein sollte auf die Verpflichtung moralisch tadelloser Persönlichkeiten. Nichts anderes gilt im Kontext einer Morphingabe: Ein rechtsfeindliches oder anders verwerfliches Motiv des Handelnden ändert nichts daran, dass der Rechtsgutsinhaber die Freiheit besitzt, ihm den Rechtsgutseingriff zu erlauben. Die Begrenzung dieser Freiheit auf Personen, die aus "billigenswerten" Zwecken handeln, lässt sich sachlich nicht rechtfertigen.

III. Sittenwidrigkeit und das Gewicht des Rechtsgutsangriffs

Damit bleibt es bei dem seitens des BGH grundsätzlich als maßgeblich erachteten Kriterium des Gewichts der konkreten Rechtsgutsverletzung. Weil es nach dem Gesagten für die Reichweite der rechtfertigenden Einwilligung nicht darauf ankommt, welches Handlungsmotiv der Ermächtigte verfolgt, stellt sich die Frage, ob der BGH bei seiner Annahme bleiben kann, dass zumindest bei besonders gewichtigen Rechtsgutseingriffen, die eigentlich die Sittenwidrigkeit der Körperverletzung begründen, ein "billigenswerter" Zweck das Ruder herumzureißen vermag – ob also ein per se sittenwidriges Verhalten so doch noch in den sicheren Hafen der Erlaubtheit einzufahren vermag.

Doch auch diese Einschätzung ist abzulehnen. Grund dafür ist der Umstand, dass die für die Sittenwidrigkeit nach Auffassung des BGH ausschlaggebende objektive Gefährlichkeit nicht durch ein kategorial ganz anderes Kriterium in Gestalt der subjektiven Motivation des Täters für sein Verhalten aufgewogen werden kann. Es bleibt vielmehr selbst bei noch so lobenswertem Zweck des Handelnden dabei, dass sein Verhalten erheblich gefährlich ist – bei Gabe hoher Dosen Morphin lebensgefährlich, womit die Grenze zur Sittenwidrigkeit, wie sie der BGH zieht, überschritten ist. Das apodiktische Festhalten an der Aussage, medizinisch indizierte Maßnahmen verstießen "grundsätzlich" nicht gegen die guten Sitten, da bei ihnen die "Verfolgung eines anerkennenswerten Zwecks im Vordergrund" stehe, weist für sich keinen Erklärungswert auf.

Die Brüche in der Argumentation des BGH können dabei letztlich wenig überraschen. Sie sind logische Konsequenz eines im Ausgangspunkt falsch gewählten Ansatzes, dessen problematische Konsequenzen das Gericht in kasuistischer Manier punktuell wieder abzuwenden versucht. Die Rede ist von der Kategorie des schwerwiegenden Rechtsgutseingriffs als maßgeblichem Bestimmungskriterium für die Sittenwidrigkeit einer Körperverletzung. Und noch weiter: Der Geburtsfehler der inkonsistenten Rechtsprechung des BGH in Sachen Sittenwidrigkeit der Einwilligung liegt im Festhalten an der Sittenwidrigkeitsformel selbst. Letztere hat in einem rechtsstaatlichen Strafrecht nichts zu suchen.[18] Als Einfallstor von Moralisierungen, paternalistischen sowie kollektivistischen Tendenzen sollte sie bestenfalls gestrichen, zumindest aber seitens der Praxis ignoriert werden.

Im Einzelnen: Die (rechtfertigende) Einwilligung ist als Rechtsfigur Ausdruck der verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsfreiheit. Diese besteht in Bezug auf den Eingriff in eigene Rechtsgüter der Person schrankenlos.[19] Insbesondere paternalistische Einschränkungen haben in einem freiheitlichen Gemeinwesen zu unterbleiben, weshalb sich etwa eine Korrektur der Einwilligung anhand von Vernunftmaßstäben verbietet.[20] Dem Einzelnen steht gerade auch die Freiheit zu, Verhaltensweisen durchzuführen bzw. andere hierzu zu ermächtigen, die von einer Mehrzahl der übrigen Gesellschaftsmitglieder als "unvernünftig" qualifiziert werden. Damit ist auch die Eingehung von erheblichen Risiken für die eigenen Güter und Interessen rechtlich erlaubt. Ein Abstellen etwa auf das Gewicht des Rechtsgutsangriffs gemessen an den durch ihn herbeigeführten Folgen fügt sich daher nicht in das verfassungsrechtliche Bild eines freien Bürgers, der uneingeschränkt über die Reichweite der ihm zur Verfügung stehenden Rechte befinden kann.

Der Sache nach kann das Gewicht des Rechtsgutsangriffs allenfalls ein Indiz dafür sein, dass der Einwilligende nicht vollumfänglich freiverantwortlich über sein Interesse verfügt hat. Stehen besonders schwerwiegende Folgen im Raum, kann dies ein Anhaltspunkt dafür sein, dass sich der Betreffende nicht uneingeschränkt frei für die Beeinträchtigung seiner Interessen entschieden hat,

sondern vielmehr einem relevanten Willensmangel unterlag.[21] Indessen ist dies in jedem Einzelfall gesondert zu prüfen und hängt von den individuellen Verhältnissen des Einzelnen ab. Auch insoweit erweist sich die Orientierung am Gewicht des Rechtsgutsangriffs als gefährlich für das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, ist sie doch dazu geeignet, das eigentlich maßgebliche Kriterium – die Freiverantwortlichkeit des Rechtsgutsinhabers im Zeitpunkt der Verfügung – zu verdecken. Wer allein auf die objektiv mit einem Verhalten einhergehenden, schwerwiegenden Gefahren abstellt, fragt gerade nicht danach, ob sich der Rechtsgutsinhaber nicht dennoch vollumfänglich frei für diese Risiken entschieden hat. Dies ist alles andere als ausgeschlossen. Wie bereits dargelegt, können Personen selbst mehrheitlich als "unvernünftig" beurteilte Eingriffe in ihre Rechte frei von Willensmängeln zulassen. Dies entspricht ihrem verfassungsrechtlich garantierten "Recht auf Unvernunft" im Hinblick auf die eigenen Güter und Interessen. Ein pauschales Ablehnen dieser Freiheit durch Abstellen auf objektive Gefährlichkeitsmaßstäbe versperrt den Blick auf den Einzelnen und tritt damit in Widerspruch zu Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG.

D. Zur Strafbarkeit der Akteure im Fall des Landgerichts Darmstadt

Für die Lösung des der Entscheidung des LG Darmstadt zugrundeliegenden Falls lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen: Bereits auf der Basis der Feststellungen des LG Darmstadt hat sich die Angeklagte erlaubt verhalten. Dies gilt zum einen in Bezug auf § 223 StGB. Die Morphingabe war von dem Willen des Verstorbenen gedeckt, was sich aus seiner Patientenverfügung ergibt. Dem steht nicht entgegen, dass er zwischenzeitlich sowohl die Gabe von Schmerzmitteln als auch die Nahrungsaufnahme verweigert hat. Hierin liegt keine zweifelsfreie Abkehr von der früheren Patientenverfügung. Letztere wird aber gerade für Zweifelsfälle abgegeben und muss daher in solchen Situationen vorrangig berücksichtigt werden. Zum anderen kommt keine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Verstoßes gegen Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes in Betracht. Die Feststellungen des LG Darmstadt lassen darauf schließen, dass der Angeklagte mit einer Dosis von fünf Milligramm Morphin zu gering versorgt war, um seine Schmerzen für vier Stunden (bis zur nächsten Gabe) zu unterbinden. So wurde er bereits zwei Stunden nach der ersten Morphingabe unruhiger, stöhnte und "hatte Schmerzen". Unter dieser Voraussetzung haben die Schutzzwecke des Betäubungsmittelgesetzes zurückzustehen.[22] Insbesondere berechtigt das mehr als fragwürdige "Rechtsgut" der Volksgesundheit nicht dazu, Personen die Abgabe von Betäubungsmitteln zu verbieten, die einziges Mittel zur Abwehr von erheblichen Schmerzen sind. In jedem Fall handelte die Angeklagte vor diesem Hintergrund aber insoweit gerechtfertigt. Fragen wirft demgegenüber das Verhalten der behandelnden Ärztin auf. Die verordnete Morphindosis erscheint angesichts der Entwicklung des Patienten nach der ersten Gabe unter Berücksichtigung seines speziellen Krankheitsbildes (Darmkrebs im Endstadium) und des in seiner Patientenverfügung getroffenen Willens mehr als problematisch in Bezug auf eine Verantwortung nach § 229 StGB.

E. Schluss

Die Zeichen stehen nicht erst nach der begrüßenswerten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Suizidbeihilfe[23] auf eine Stärkung des individuellen Selbstbestimmungsrechts.[24] Dem sollte gerade auch in der Einwilligungsdogmatik seitens der höchsten deutschen Gerichte (endlich) nachgekommen werden. Ein pauschales Negieren der Möglichkeit einer freien Entscheidung für die Eingehung selbst besonders schwerwiegender Risiken wird den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Die Rechtsprechung des BGH in Bezug auf die Sittenwidrigkeit der Einwilligung ist nach wie vor durch einen problematischen Paternalismus geprägt. Der dabei eingeschlagene Zick-Zack-Kurs durch die Welt potentieller Fallgestalten verspricht alles andere als Rechtssicherheit. Es bleibt zu hoffen, dass der BGH künftig den Weg zu einer geraden Linie findet und sich dabei an dem allein maßgeblichen Kriterium orientiert: der Freiverantwortlichkeit des Einzelnen im Hinblick auf die Verfügung über ihm zustehende Güter und Interessen.


[1] S. zur Sachverhaltsschilderung BGH HRRS 2019 Nr. 1006.

[2] BGH HRRS 2019 Nr. 1006, II. 2. c) cc), 3.

[3] Unklar bleibt, weshalb das LG Darmstadt keine Strafbarkeit wegen versuchten Tötungsdelikts geprüft hat. Nach dessen Feststellungen wusste die Angeklagte, dass die Morphingabe zu Atemaussetzern führen würde. Zudem stellt das Gericht fest, der Angeklagten sei bekannt gewesen, dass dies nicht von der Einwilligung des Verstorbenen gedeckt gewesen sei. Auf dieser Basis hätte das Gericht aber in bloßer Ermangelung des Kausalitätsnachweises zwischen Morphingabe und Todeseintritt wegen Versuchs bestrafen müssen.

[4] BGH HRRS 2019 Nr. 1006, II. 2. c) cc) (1).

[5] BGH HRRS 2019 Nr. 1006, II. 2. c) aa).

[6] Gemeint ist die Entscheidung BGH NJW 2015, 1540 ff. = BGH HRRS 2015 Nr. 285. S. dazu noch unten III. 1.

[7] BGH HRRS 2019 Nr. 1006, II. 2. c) bb).

[8] BGHSt 49, 34, 43 = BGH HRRS 2004 Nr. 88.

[9] So auch Mitsch NJW 2015, 1545 f.

[10] S. sogleich III. 3. dazu, dass die Sittenwidrigkeitsformel in einem rechtsstaatlichen Strafrecht keine Berechtigung aufweist.

[11] Der BGH NJW 2015, 1540, 1544 = BGH HRRS 2015 Nr. 285 versucht die widersinnigen Folgen der eigenen Rechtsprechung zumindest teilweise zu umgehen, indem er meint, es könne "offenbleiben", ob jede Erfüllung des § 231 StGB zur Unbeachtlichkeit der Einwilligung im Kontext des § 223 StGB führe – also selbst dann, wenn "lediglich Bagatellverletzungen zu erwarten sind." Überzeugen kann dieser Teilrückzug nicht, da das Gewicht des Rechtsgutsangriffs doch gerade nichts damit zu tun hat, dass neben § 223 StGB in den vom BGH betrachteten Fällen zugleich eine andere Straftat (§ 231 StGB) verwirklicht wird. Wenn dies aber der Grund für die Annahme einer sittenwidrigen Körperverletzung ist, ändert sich hieran nichts, nur weil die Erwartung im Hinblick auf potentielle Verletzungen geringer ausfällt – zumal § 231 StGB lediglich Anwendung findet, wenn der Tod oder eine schwere Körperverletzung eines anderen Menschen eingetreten ist. Dass sich diese Gefährlichkeit nicht von vornherein abzeichnet, dürfte nur selten vorkommen.

[12] BGH NJW 2015, 1540, 1544 = BGH HRRS 2015 Nr. 285. S. auch Sternberg-Lieben JZ 2013, 953, 956.

[13] In der Vergangenheit war der BGHSt 58, 140, 144 = = HRRS 2013 Nr. 342 bereits bei ärztlichen Heileingriffen davon ausgegangen, dass selbst lebensgefährliche Körpereingriffe von der Einwilligung gedeckt sein können.

[14] BGH NJW 2015, 1542 = BGH HRRS 2015 Nr. 285 m.w.N., der darauf verweist, dass in der ständigen Rechtsprechung keine Entscheidung gegen eine Herleitung der Sittenwidrigkeit aus der Zweckrichtung der Tatbegehung abzuleiten ist. S. auch BGHSt 49, 166 ff.; 58, 140, 143.

[15] Zum Maßstab der Freiverantwortlichkeit s. Freund/Rostalski, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2019, § 5 Rn. 77 m. w. N.

[16] Weigend ZStW 98 (1986), 44, 63.

[17] Timm, Gesinnung und Straftat, 2012, S. 157 ff.

[18] Die Verfassungswidrigkeit von § 228 StGB betonen etwa auch Mitsch NJW 2015, 1540, 1545; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Paeffgen/Zabel, StGB, 5. Aufl., 2017, § 228 Rn. 33 ff.; Sternberg-Lieben JZ 2013, 953, 954. S. zur Empfehlung des Arbeitskreises von Strafrechtslehrern zum Entwurf eines 6. Gesetzes zur Reform des Strafrechts, die Sittenformel als "Einfallstor für rechtsgutsfremde Erwägungen" zu streichen, Freund ZStW 109 (1997), 455, 473. Vgl. zur Gegenauffassung Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 228 Rn. 8; MünchKommStGB/Hardtung, 3. Aufl. 2017, § 228 Rn. 32.

[19] Eine Ausnahme bildet de lege lata § 216 StGB, der die Entscheidungsfreiheit in Bezug auf die Ermächtigung Dritter zur Tötung der eigenen Person begrenzt. Aufgrund des hierin liegenden, paternalistisch motivierten Verstoßes gegen das Selbstbestimmungsrecht verdient die Vorschrift ihrerseits Kritik und sollte – gerade auch nach Aufhebung des verfassungswidrigen § 217 StGB – de lege ferenda neu gefasst werden. S. zur Argumentation sowie einem konkreten Vorschlag NK-Medizinstrafrecht/Rostalski, § 216 (im Erscheinen). Vgl. auch Hoven ZIS 2016, 1, 3.

[20] Köhler ZStW 104 (1992), 3, 18 f.; Rostalski, Der Tatbegriff im Strafrecht, 2019, S. 385. S. im Kontext des § 216 StGB MünchKommStGB/Schneider, § 216 Rn. 20.

[21] Sternberg-Lieben JZ 2013, 953, 955.

[22] Vgl. zum Erwerb von Betäubungsmitteln zur Durchführung einer Selbsttötung BVerwG NJW 2017, 2215 ff.

[23] BVerfG, Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26. Februar 2020 = HRRS 2020 Nr. 343.

[24] Eine solche bedeutet etwa auch die Entscheidung des BVerwG NJW 2017, 2215 ff.