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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2019
20. Jahrgang
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1. Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn das Fachgericht nachvollziehbar darlegt, dass es bei seiner anstehenden Entscheidung auf die Gültigkeit der Norm ankommt, und aus welchen Gründen es von der Unvereinbarkeit der Norm mit der Verfassung überzeugt ist. Zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit muss das Gericht darlegen, dass und aus welchen Gründen es im Falle der Gültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtsvorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle der Ungültigkeit.
2. Stellt ein Gericht im Wege der konkreten Normenkontrolle eine landesrechtliche Regelung zur Fixierung Straf-
gefangener (hier: § 83 SächsStVollzG) mangels eines gesetzlichen Richtervorbehalts zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung, so ist die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nicht hinreichend dargetan, wenn sich dem Vorlagebeschluss nicht entnehmen lässt, dass die in Rede stehende konkrete Fixierungsmaßnahme den materiell-rechtlichen Voraussetzungen genügt, die aus der Verfassung für freiheitsentziehende Fixierungen abzuleiten sind und die bei verfassungskonformer Auslegung auch der Landesnorm entnommen werden können.
3. An der Entscheidungserheblichkeit fehlt es auch dann, wenn das Prozessrecht kein Hauptsacheverfahren eröffnet, in welchem das vorlegende Gericht zur Entscheidung über die Vorlagefrage berufen wäre. Dies ist der Fall, wenn ein Ermittlungsrichter sich aus verfassungsrechtlichen Erwägungen von Amts wegen einer Entscheidung über eine Fixierung annimmt und dabei übergeht, dass dem Gefangenen die – von Verfassungs wegen ausreichende – Möglichkeit offen steht, die Fixierung über einen Feststellungsantrag nach dem Strafvollzugsgesetz durch die Strafvollstreckungskammer überprüfen zu lassen.
4. Fixierungen von Strafgefangenen oder Untergebrachten von nicht lediglich kurzfristiger Dauer unterliegen von Verfassungs wegen einer hohen Eingriffsschwelle und sind nur zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr zulässig und müssen sich hinsichtlich ihrer Dauer auf das absolut Notwendige beschränken (Bezugnahme auf BVerfG, Urteil vom 24. Juli 2018 – 2 BvR 309/15 –).
5. Die Anordnung einer Fixierung für die Dauer von acht Tagen ist hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit nicht ausreichend begründet, wenn das Gericht lediglich ausführt, der Strafgefangene habe alkoholbedingte Ausfallerscheinungen gezeigt und sei gegenüber dem Anstaltspersonal handgreiflich geworden, ohne Art, Intensität und Hintergründe der Übergriffe darzulegen und ohne zu berücksichtigen, dass der Betroffene sich bereits in seiner richterlichen Anhörung kurz nach Beginn der Fixierung wieder kooperativ gezeigt hatte.
1. Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft ist – ebenso wie bei der Untersuchungshaft – stets das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den Bedürfnissen einer funktionierenden Strafrechtspflege sowie eines funktionierenden zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs zu beachten.
2. Die Auslieferungshaft unterliegt von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Für die Beurteilung ihrer Dauer kann es nicht allein auf das Gewicht des Tatvorwurfs und der verwirkten oder drohenden Sanktion ankommen. Vielmehr bedarf es ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige und technische Abwicklung unabdingbaren Mindestdauer von etwa sechs Monaten besonderer, das Auslieferungsverfahren selbst betreffender Gründe, um die Fortdauer der Auslieferungshaft zu rechtfertigen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt deren Dauer Grenzen.
3. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern schlüssige und nachvollziehbare aktuelle Ausführungen zum Fortbestehen der rechtlichen Voraussetzungen der Haft, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und den hierzu in Widerstreit stehenden Interessen sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit – einschließlich der Möglichkeit einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls als milderem Mittel.
4. Die Verhältnismäßigkeit einer bereits über ein Jahr andauernden Auslieferungshaft aufgrund eines Auslieferungsersuchens der USA zur Strafverfolgung wegen unrechtmäßiger Ausfuhr von Gütern in den Iran bei einer Straferwartung von etwa sechs Jahren ist zumindest zweifelhaft, wenn die Klärung eines Auslieferungshindernisses ohne nachvollziehbaren Grund über sieben Monate in Anspruch genommen und sich der Gesundheitszustand des Verfolgten während der Haft massiv verschlechtert hat.
5. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Auslieferungshaft genügt im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen, wenn das Oberlandesgericht im Wesentlichen auf die Schwere des Tatvorwurfs und die Dauer der zu erwartenden Strafe abstellt, jedoch keine explizite Abwägungsentscheidung vornimmt und nicht deutlich macht, aufgrund welcher Gesichtspunkte es von einem das Freiheitsgrundrecht des Verfolgten überwiegenden Interesse an der Sicherung der Auslieferung ausgeht und aus welchen Gründen es die von dem Verfolgten angebotenen milderen Maßnahmen wie die Einbehaltung seines Passes und die Stellung einer Sicherheit nicht für ausreichend erachtet.
1. Ein Strafverfahren, in dem der Beschuldigte sich in Untersuchungshaft befindet, ist auch im Stadium des gerichtlichen Zwischenverfahrens mit der gebotenen Zügigkeit zu fördern, um im Falle der Entscheidungsreife über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung zu beschließen und anschließend im Regelfall innerhalb von weiteren drei Monaten mit der Hauptverhandlung zu beginnen.
2. Zwar ist mit dem Erlass oder der Aufrechterhaltung des (einen dringenden Tatverdacht voraussetzenden) Haftbefehls regelmäßig zugleich über die Eröffnung des Hauptverfahrens zu entscheiden (für die ein hinreichender Tatverdacht genügt). Dies gilt allerdings nicht, wenn das Verfahren nicht eröffnungsreif ist, etwa weil dem Haftbefehl ein Vorwurf des Totschlags zugrunde liegt, während die Anklage auf den schwerwiegenderen Vorwurf des Mordes lautet und das angenommene Mordmerkmal der Habgier ergänzende Ermittlungen erfordert.
3. Bei einer aktuellen und nicht nur kurzfristigen Überlastung der erkennenden Strafkammer verlangt das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot, dass das Gericht und die Justizverwaltung auch gerichtsorganisatorische Möglichkeiten ergreifen, um die Bewältigung eröffnungsreifer Verfahren innerhalb angemessener Frist sicherzustellen.
1. Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Vereinigten Staaten von Amerika zum Zwecke der Strafverfolgung wegen Mordes für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise die Menschenwürdegarantie und das Freiheitsgrundrecht des Verfolgten und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn nicht hinreichend aufgeklärt ist, ob dem Verfolgten die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Bewährungsmöglichkeit droht, unter welchen Umständen gegebenenfalls eine Aussetzung der Strafe möglich ist und ob das Verfahren den insoweit zu stellenden Anforderungen genügt.
2. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zudem dann geboten, wenn der Verfolgte substantiiert geltend macht, die zu erwartenden Haftbedingungen in Kalifornien genügten wegen der langanhaltenden starken Überbelegung der Haftanstalten und der defizitären Gesundheitsversorgung nicht den menschenrechtlichen Mindeststandards, das Oberlandesgericht sich jedoch ohne eigene Gefahrenprognose lediglich auf eine abstrakte Erklärung der U.S.-amerikanischen Behörden stützt, von der nicht ersichtlich ist, dass sie die verfassungs- und konventionsrechtlichen Anforderungen an eine einzelfallbezogene Zusicherung erfüllt.
1. Auf der Grundlage des § 102 StPO können alle Räumlichkeiten durchsucht werden, die der Verdächtige tatsächlich innehat, gleichgültig, ob er sie befugt oder unbefugt nutzt, ob er Allein- oder Mitinhaber ist und ob ihm das Hausrecht zusteht. Die Vorschrift gilt auch bei Mitbenutzung oder Mitgewahrsam mehrerer Personen, von denen nur ein Teil verdächtig ist. Eine Durchsuchung nach § 102 StPO scheidet hingegen aus, wenn Räume ausschließlich einem unverdächtigen Mitbewohner zuzuordnen sind oder wenn eine eindeutige Zuordnung zum verdächtigen Mitbewohner unmöglich ist.
2. Die Durchsuchung einer von mehreren innerhalb eines Gutshauses gelegenen Wohnungen auf der Grundlage einer auf § 102 StPO gestützten richterlichen Anordnung verletzt das Wohnungsgrundrecht der nicht verdächtigen alleinigen Wohnungsinhaberin nicht, wenn die Durchsuchungsbeamten aus ex ante-Sicht aufgrund konkreter Anhaltspunkte davon ausgehen konnten, dass der Beschuldigte die Wohnung zumindest mitbenutzt.
3. Mit der Fortführung der Durchsuchung verkennen die Beamten Bedeutung und Reichweite des Wohnungsgrundrechts nicht, wenn in der Wohnung zwar Gegenstände vorhanden sind, die darauf hindeuten, dass sie von einer weiblichen Person bewohnt wird, wenn sich dort jedoch auch Schreiben befinden, die aus ex ante-Sicht dem Beschuldigten zuzuordnen sind.
1. Die Entscheidung eines Strafgerichts, auch den „faktischen“ Leiter einer nicht angemeldeten öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel als tauglichen Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG anzusehen, verstößt weder gegen das Verbot strafbegründender Analogie noch gegen das Schuldprinzip und verletzt auch nicht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit.
2. Der fachgerichtliche Auslegungsspielraum ist nicht überschritten, wenn unter den Rechtsbegriff des Versammlungsleiters nicht nur die bei der Anmeldung förmlich als Leiter benannte Person, sondern auch ein Verhandlungsteilnehmer subsumiert wird, der innerhalb des Versammlungsgeschehens eine herausgehobene Stellung übernommen hat und mit Einverständnis der anderen Teilnehmer die Ordnung der Veranstaltung handhabt und deren äußeren Ablauf bestimmt.
3. Die Strafnorm des § 26 Nr. 2 VersammlG sanktioniert nicht die unterlassene Versammlungsanmeldung, sondern die – auch dem faktischen Versammlungsleiter vorwerfbare – Durchführung einer anmeldepflichtigen Versammlung ohne Anmeldung, so dass eine Verurteilung des faktischen Leiters nicht den Schuldgrundsatz verletzt.
4. Angesichts der von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für die Annahme einer faktischen Versammlungsleitung birgt die Rechtsfigur nicht die Gefahr einer Sanktionierung der bloßen Teilnahme an einer nicht angemeldeten Versammlung und schränkt die Versammlungsfreiheit daher nicht unangemessen ein.
1. Die Festsetzung einer Pauschgebühr in – lediglich – der gesetzlich vorgesehenen Höhe von 200,– Euro für einen auswärtigen Rechtsanwalt, der einem Zeugen in einem umfangreichen Strafverfahren als Beistand beigeordnet wurde und der an drei Tagen in der Hauptverhandlung aufgetreten ist, stellt keinen unangemessenen Eingriff in die Berufsfreiheit dar.
2. Der mit der Bestellung eines Rechtsanwalts als Zeugenbeistand verbundene Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung lässt sich grundsätzlich durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls rechtfertigen. Dies gilt auch für die damit verbundenen kostenrechtlichen Folgen.
3. Die Begrenzung des anwaltlichen Vergütungsanspruchs durch einen vom Gesetzgeber im Sinne des Gemeinwohls vorgenommenen Interessenausgleich, der auch das Interesse an einer Einschränkung des Kostenrisikos berücksichtigt, ist gerechtfertigt, sofern die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist.
4. In Strafsachen besonderen Umfangs, die die Arbeitskraft eines Rechtsanwalts für längere Zeit (fast) ausschließlich binden, gebietet das Grundrecht auf freie Berufsausübung eine Vergütungsregelung, die – wie § 51 RVG – sicherstellt, dass dem Rechtsanwalt im Einzelfall kein unzumutbares Opfer abverlangt wird, wie es insbesondere bei einer wirtschaftlichen Existenzbedrohung der Fall wäre.
1. Eine weitere Beschwerde, mit welcher der Betroffene den Erlass eines gegen sich selbst gerichteten Vorführungsbefehls erstrebt, um seine Überstellung aus Spanien nach Deutschland zu erreichen, ist von vornherein aussichtslos und daher nicht geeignet, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten.
2. Wenngleich eine übermäßig restriktive Auslegung des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO die Rechtsschutzgarantie verletzen kann, führt dies nicht dazu, dass eine weitere Beschwerde auch dann zuzulassen wäre, wenn sie sich auf einen Vorführungsbefehl bezieht und von einem nicht unmittelbar beschwerten Betroffenen erhoben wird.
3. Ob die Ablehnung des Erlasses eines Vorführungsbefehls in der genannten Konstellation gegen eine aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht verstößt, muss daher offen bleiben.
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist einstweilen auszusetzen, wenn das Berufungsgericht in dem zugrunde-
liegenden Erkenntnisverfahren gegen die Mitteilungspflicht über eine Verständigung verstoßen hatte, so dass der Verurteilte möglicherweise in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist.