HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2019
20. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

438. BVerfG 2 BvR 382/19 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 1. April 2019 (OLG München / LG München I / AG München)

Anordnung und Aufrechterhaltung außer Vollzug gesetzter Untersuchungshaft; Haftbefehl gegen den Vorstand eines Automobilunternehmens im „Abgasskandal“ (Haftgrund der Verdunkelungsgefahr; Einwirkung auf unternehmensangehörige Belastungszeugen durch Ankündigung ihrer Beurlaubung; zulässiger Schutz von Whistleblowern zur wirksamen Verfolgung von Wirtschaftskriminalität; fortbestehende Einwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten auch nach Ausscheiden aus dem Vorstand); Anweisungen im Rahmen der Haftverschonung (Verhältnismäßigkeit eines weitreichenden Kontaktverbots zu Konzernangehörigen; unabweisbare Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung; zeitliche Grenzen und hinreichende Bestimmtheit des Kontaktverbots; ungehinderter Verkehr mit dem Verteidiger; Pflicht zur Meldung von Kontaktaufnahmen; Selbstbelastungsfreiheit); Recht auf rechtliches Gehör (keine Überraschungsentscheidung bei ergänzendem Rückgriff des Beschwerdegerichts auf den Akteninhalt); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (substantiierte Darlegung einer Grundrechtsverletzung).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG, § 92 BVerfGG; § 112 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b StPO; § 116 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. In einem Ermittlungsverfahren gegen den Vorstand eines Automobilunternehmens im sogenannten Abgasskandal ist das Haftgericht verfassungsrechtlich nicht gehindert, die Annahme von Verdunkelungsgefahr darauf zu stützen, dass der Beschuldigte gegenüber einem dem Unternehmen angehörenden Belastungszeugen dessen Beurlaubung in den Raum gestellt hat. Mit Blick auf den Schutz von Whistleblowern kann das Gericht zulässigerweise davon ausgehen, dass mit einer solchen Ankündigung eine Einschüchterung des Zeugen und eine Signalwirkung für andere Mitarbeiter einhergeht, die es zur wirksamen Verfolgung von Wirtschaftskriminalität zu unterbinden gilt.

2. Die Annahme von Verdunkelungsgefahr ist verfassungsrechtlich auch dann nicht zu beanstanden, wenn der Beschuldigte zwar beurlaubt worden und schließlich aus dem Unternehmen ausgeschieden ist, wenn das Gericht jedoch aufgrund konkreter Beweismittel prognostisch von fortbestehenden Beziehungen und Einflussmöglichkeiten des Beschuldigten in dem Konzern ausgeht.

3. Eine Grundrechtsverletzung durch ein im Rahmen einer Haftverschonung ausgesprochenes weitreichendes Kontaktverbot zu Personen aus dem beruflich-sozialen Umfeld des Beschuldigten ist nicht hinreichend dargetan, wenn der Beschuldigte außer Betracht lässt, dass das Ermittlungsverfahren eine Tat aus dem Bereich seiner beruflichen Tätigkeit zum Gegenstand hat und dass insoweit auch den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung Rechnung zu tragen ist. Die Verhältnismäßigkeit eines derartigen Kontaktverbots wird auch dadurch gewahrt, dass eine Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls lediglich bei gröblichen Zuwiderhandlungen droht.

4. Hinsichtlich des betroffenen Personenkreises ist das Kontaktverbot auch ohne eine – im Ermittlungsverfahren unter Umständen noch gar nicht mögliche – abschließende Benennung der relevanten Personen hinreichend bestimmt. Es ist außerdem ohne Weiteres so auszulegen, dass der ungehinderte Verkehr zwischen Beschuldigtem und Verteidiger gewährleistet sein muss. In zeitlicher Hinsicht gelten keine strengeren Grenzen als allgemein für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls.

5. Die Anweisung an den Beschuldigten, Kontaktaufnahmen aktueller oder potentieller Mitbeschuldigter oder Zeugen zu melden, begründet keinen unzulässigen Zwang zur Mitwirkung an der eigenen Überführung, solange nicht der Inhalt der Kommunikation, sondern lediglich der Kontakt als solcher mitgeteilt werden muss.

6. Das Recht eines Beschuldigten auf rechtliches Gehör ist nicht verletzt, wenn sich ein Beschwerdegericht bei der Annahme von Verdunkelungsgefahr ohne expliziten Hinweis auch auf in den Akten dokumentierte Verschleierungshandlungen stützt, die bislang nicht Gegenstand der vorangegangenen Haftentscheidungen oder des Beteiligtenvorbringens waren, von denen die Verteidigung jedoch im Wege der Akteneinsicht Kenntnis erlangen konnte.

7. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist zur Wahrung der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur dann zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.

8. Entscheidungen über die Fortdauer der Untersuchungshaft unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig aktuelle und einzelfallbezogene Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.

9. Die Garantie rechtlichen Gehörs gewährleistet nicht, dass das Gericht der Argumentation des Betroffenen inhaltlich folgt. Auch verpflichtet sie die Gerichte nicht, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden. Allerdings lässt ein Schweigen der Entscheidungsgründe zu zentralen Aspekten, die für den Verfahrensausgang von entscheidender Bedeutung sind, den Schluss zu, dass der Vortrag nicht oder nicht hinreichend beachtet wurde.

10. Eine gerichtliche Entscheidung ist nur dann wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufzuheben, wenn sie auf Tatsachen und Beweismitteln, zu denen der Betroffene sich nicht äußern konnte, beruht. Insoweit hat der Betroffene darzulegen, dass die Umstände, zu denen kein rechtliches Gehör gewährt wurde, für die Entscheidung ursächlich waren, so dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einem abweichenden Ergebnis hätte führen können.


Entscheidung

439. BVerfG 2 BvR 517/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 3. April 2019 (Brandenburgisches OLG)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung (russischer Staatsangehöriger; Rechtsstaatsprinzip; Recht auf ein faires Verfahren; staatliche Repressionsmaßnahmen in Tschetschenien; völkerrechtlich verbindliche Zusicherung; Durchführung des Strafverfahrens außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus; Koppelung der Zulässigkeitsentscheidung an eine nach russischem Recht nicht erfüllbare Bedingung; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 20 Abs. 3 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung an die Russische Föderation zum Zwecke der Strafverfolgung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise das Rechtsstaatsprinzip und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Auslieferung mit Blick auf staatliche Repressionsmaßnahmen in Tschetschenien von der Bedingung abhängig macht, dass das Gerichtsverfahren und eine eventuelle Strafhaft außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus durchgeführt und vollzogen werden, obwohl eine Zusicherung über den Gerichtsstand nach der Verfassung der russischen Föderation ersichtlich nicht erteilt werden kann.