HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2019
20. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

231. BVerfG 2 BvR 2136/17 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. Februar 2019 (LG Aachen / AG Düren)

Keine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach einer gütlichen Einigung vor dem EGMR (Zielkonflikt zwischen Rechtssicherheit und materialer Gerechtigkeit; Wiederaufnahme nur in eng begrenzten Ausnahmefällen; Recht auf effektiven Rechtsschutz; keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Wiederaufnahme nach Feststellung einer Verletzung der EMRK durch den EGMR; Beschränkung des § 359 Nr. 6 StPO auf Entscheidungen inter partes; Verweis auf Neziraj v. Deutschland; keine Gleichbehandlung eines festgestellten Konventionsverstoßes mit einem einvernehmlich beendeten Individualbeschwerdeverfahren).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK; Art. 39 EMRK; § 329 Abs. 1 StPO a.F.; § 359 Nr. 6 StPO

1. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens durchbricht das Prinzip der Rechtssicherheit um der materialen Gerechtigkeit willen und ist daher an eng begrenzte Ausnahmetatbestände gebunden. Bei deren Anwendung ist allerdings das Recht auf effektiven Rechtsschutz verletzt, wenn das Wiederaufnahmegericht die Chancen eines Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs derart verschlechtert, dass das Wiederaufnahmeverfahren ineffektiv wird.

2. Das Grundgesetz verpflichtet bereits nicht dazu, einem Verurteilten eine Wiederaufnahme zu ermöglichen, nach-

dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, dass die Verurteilung unter Verletzung der EMRK zustande gekommen ist. Abweichendes gilt auch nicht nach Einführung des § 359 Nr. 6 StPO, der lediglich dem Prinzip konventionsfreundlicher Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts Rechnung tragen soll.

3. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 6 StPO beruht auf der grundsätzlichen Erwartung, dass das innerstaatliche Gericht seine ursprüngliche Entscheidung ändert, soweit diese auf einer Konventionsverletzung beruht. Voraussetzung ist jedoch, dass der Verurteilte in eigener Person die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR erstritten hat.

4. An einer derartigen Feststellung fehlt es, wenn der EGMR auf die Individualbeschwerde eines Verurteilten eine Verletzung der EMRK nicht ausdrücklich festgestellt, sondern unter Bezugnahme auf eine im Wesentlichen gleich gelagerte Rechtssache (Neziraj v. Deutschland, EGMR Nr. 30804/2007, Urteil vom 8. November 2012 [= HRRS 2013 Nr. 69]) eine gütliche Einigung nach Art. 39 EMRK vorgeschlagen und das Verfahren nach deren Zustandekommen formlos beendet hat.

5. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, eine derartige Einigung mit der Feststellung einer Konventionsverletzung im Sinne des § 359 Nr. 6 StPO gleich zu behandeln, besteht nicht. Auch eine konventionsfreundliche Rechtsauslegung gebietet eine derartige Gleichstellung nicht, weil es den Vertragsstaaten überlassen bleibt, auf welchem Wege sie eine Konventionsverletzung beseitigen.


Entscheidung

233. BVerfG 2 BvR 2627/18 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 16. Januar 2019 (OLG Frankfurt am Main)

Einstweilige Anordnung gegen eine Auslieferung an Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (Menschenwürdegarantie; Recht auf den gesetzlichen Richter und Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof; Mindestanforderungen an die Haftbedingungen im ersuchenden Staat; Beschränkung der Prüfung auf die Quarantäne- und die erste Haftanstalt, in der der Verfolgte inhaftiert sein wird; Bewilligung unter dem Vorbehalt einer Wahrung der Anforderungen der EMRK und der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze; Folgenabwägung zugunsten des Verfolgten).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 32 Abs. 1 BVerfGG; Art. 267 Abs. 3 AEUV; Art. 3 EMRK; Art. 4 GRCh

Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig erklärt wird, verletzt möglicherweise die Menschenwürde des Verfolgten und sein Recht auf den gesetzlichen Richter und ist daher einstweilen auszusetzen, wenn das Gericht die Überprüfung der Haftbedingungen trotz allgemeiner Anhaltspunkte für eine Verletzung der konventions- und unionsgrundrechtlichen Mindeststandards im rumänischen Strafvollzug unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lediglich auf die Quarantäne- und die erste Haftanstalt beschränkt, in der der Verfolgte inhaftiert sein wird, und sich im Übrigen ohne Vorlage an den EuGH damit begnügt, dass die Auslieferung unter dem Vorbehalt bewilligt wird, dass die Freiheitsstrafe durchgehend in einer den Anforderungen der EMRK und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen entsprechenden Haftanstalt vollstreckt wird.


Entscheidung

229. BVerfG 2 BvR 93/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 22. Januar 2019 (AG Potsdam)

Frist zur Begründung eines Antrags an den Ermittlungsrichter (Anspruch auf rechtliches Gehör; Abwarten eines von dem Antragsteller selbst benannten Zeitpunkts; hinreichende Bestimmbarkeit der „Monatsmitte“).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 192 BGB

1. Hat sich ein Antragsteller oder Beschwerdeführer ausdrücklich die Begründung seines Rechtsschutzbegehrens vorbehalten, so hat das Gericht – hier: der Ermittlungsrichter – zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör entweder eine Frist für die Begründung zu setzen oder mit einer nicht stattgebenden Entscheidung eine angemessene Zeit zu warten.

2. Hatte der Antragsteller eine Begründung bis zu einem konkret bestimmbaren Zeitpunkt angekündigt, so kann das Gericht nach dessen Verstreichen ohne Nachfrage eine Sachentscheidung treffen, sofern der verfügbare Zeitraum objektiv angemessen war und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Antragsteller aus von ihm nicht zu vertretenden Umständen eine rechtzeitige Erklärung nicht möglich war.

3. Die Ankündigung einer Erklärung bis zur „Monatsmitte“ ist zeitlich hinreichend bestimmbar und verpflichtet das Gericht nicht, mit seiner Entscheidung länger als bis zum Ablauf des 15. des betreffenden Monats zuzuwarten.


Entscheidung

230. BVerfG 2 BvR 280/19 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. Februar 2019 (OLG Stuttgart)

Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Beiordnung eines weiteren Verteidigers (Anfechtbarkeit strafprozessualer Zwischenentscheidungen; ausnahmsweise Statthaftigkeit der Beschwerde; Überprüfung durch das Revisionsgericht; Zumutbarkeit der Rechtswegerschöpfung; Notwendigkeit arbeitsteiliger Verteidigung; unzureichende Substantiierung der Verfassungsbeschwerde).

§ 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 140 StPO; § 304 StPO; § 305 Satz 1 StPO; § 336 Satz 2 StPO

1. Ist gegen die Versagung der Beiordnung eines weiteren Verteidigers ausnahmsweise die (einfache) Beschwerde statthaft, so ist die strafprozessuale Zwischenentscheidung im Falle einer Verurteilung auch im Revisionsverfahren überprüfbar; der unmittelbaren Anfechtung mit der Verfassungsbeschwerde ist sie daher entzogen.

2. Die Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs ist einem Angeklagten nicht deshalb unzumutbar, weil sie die

– systemimmanente – abstrakte Gefahr einer Wiederholung der Hauptverhandlung mit sich bringt. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet.

3. Eine auf die Beiordnung eines weiteren Verteidigers gerichtete Verfassungsbeschwerde ist nicht hinreichend substantiiert, wenn sie sich auf die Notwendigkeit arbeitsteiliger Verteidigung stützt, zu dem ins Feld geführten Umfang der Akten und der zu erwartenden Beweisaufnahme jedoch keine näheren Darlegungen enthält.


Entscheidung

232. BVerfG 2 BvR 2406/16 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. Februar 2019 (OLG Celle / LG Lüneburg)

Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; verfassungsgerichtliche Kontrolldichte; steigende Begründungsanforderungen mit zunehmender Unterbringungsdauer); Gefährlichkeitsprognose (Konkretisierung der zu erwartenden Taten; Grad der Wahrscheinlichkeit strafbaren Verhaltens); Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (über 16 Jahre andauernde Unterbringung; erweiterte einfachrechtliche Verhältnismäßigkeitsanforderungen nach neuem Recht; fehlende Erörterung von Umständen des Einzelfalls; Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht als mildere Maßnahmen); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Feststellungsinteresse nach prozessualer Überholung einer Fortdauerentscheidung; tiefgreifender Grundrechtseingriff).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 63 StGB; § 67d Abs. 6 StGB

1. Eine Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus ist nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise begründet, wenn das Vollstreckungsgericht lediglich der Einschätzung der behandelnden Ärztin folgt, wonach weiterhin die Gefahr massiver Aggressionsdurchbrüche und Tötungsdelikte bestehe, ohne den Grad der Wahrscheinlichkeit derartiger Taten zu konkretisieren.

2. Eine Fortdauerentscheidung genügt im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit nicht den Darlegungsanforderungen, wenn das Gewicht der Dauer der über 16 Jahre vollzogenen Unterbringung ebenso unerörtert bleibt wie der Behandlungs- und Vollzugsverlauf, der zu erwartende soziale Empfangsraum und der Lockerungsstatus, den der bereits in einer offenen therapeutischen Wohngemeinschaft erprobte Betroffene erreicht hat.

3. Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts - einschließlich der Unterbringung eines nicht oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen Krankenhaus.

4. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsanspruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des erlittenen Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen.

5. Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten sind zu bestimmen. Abzustellen ist dabei auf das frühere Verhalten des Untergebrachten, die von ihm bislang begangenen Taten und die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände.

6. Je länger der Freiheitsentzug andauert, desto strenger werden die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründungstiefe einer negativen Prognoseentscheidung. Zugleich wächst mit dem stärker werdenden Freiheitseingriff die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte.

7. Mit dem Gesetz zur Novellierung des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sind einfachrechtlich weitere Verhältnismäßigkeitsanforderungen festgelegt worden. Dabei sind die materiell-rechtlichen Anforderungen an die Fortdauer der Unterbringung im Hinblick auf die drohenden Rechtsgutsverletzungen abhängig von der Dauer der Unterbringung angehoben worden.

8. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch zu erörtern, inwieweit etwaigen Gefahren durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht begegnet werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Unterbringung bereits erhebliche Zeit andauert und wenn der Betroffene zu unbegleiteten Ausgängen zugelassen ist.

9. Das Feststellungsinteresse für die verfassungsgerichtliche Überprüfung einer Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus besteht angesichts des damit verbundenen tiefgreifenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch dann fort, wenn zwischenzeitlich eine weitere Fortdauerentscheidung ergangen ist.