HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2019
20. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Vorzeitige Freigabe von Überbrückungsgeld zum Freikauf vom Militärdienst

Anmerkung zu OLG Celle, Beschl. v. 07.11.2017 – 3 Ws 543/17

Von Akad. Rätin a.Z. Dr. Georgia Stefanopoulou, LL.M.

I. Einleitung

Der dem Strafvollzug inhärente Widerspruch ‒ Vermittlung von "Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung"[1] und "Eingliederung des Verurteilten in die Rechtsgemeinschaft"[2] unter den Bedingungen der totalen Institution ‒ ist aus guten Gründen das meist vorgebrachte Argument gegen die Sanktionsform des Freiheitsentzugs.[3] Aus dieser Paradoxie beziehen auch die Gestaltungsprinzipien des Vollzugs ihre Bedeutung, wonach schädliche Wirkungen des Freiheitsentzugs und Unterschiede zwischen dem Leben in der abgekapselten Institution und der freien Gesellschaft möglichst gering gehalten werden sollen.[4] Es wird immer wieder moniert, dass hier häufig nicht Resozialisierung, sondern Desozialisierung bewirkt wird.[5] Spätestens seit den Studien von Erving Goffman wissen wir, dass die Erfahrungen in einer freiheitsentziehenden Institution mit der Gefahr einer "Diskulturation" einhergehen, d.h. dem Verlernen der Fähigkeit, mit Gegebenheiten der Außenwelt zurechtzukommen.[6]

Wird diese Gefahr bereits durch den Aufenthalt in einer freiheitsentziehenden Institution begründet, liegt die Vermutung nahe, dass der unmittelbare Übergang von einer totalen Institution zu einer zweiten eine Intensivierung der "Diskulturation" bedeuten kann. Vor diesem Hintergrund weckt die Argumentation des 3. Strafsenats des OLG Celle gewisse Zweifel, wenn in seinem Beschluss vom 7.11.2017 pauschal und ohne Auseinandersetzung mit der Person des Inhaftierten und seinen Resozialisierungsperspektiven davon ausgegangen wird, dass die Ableistung des Wehrdienstes unmittelbar nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe einer Eingliederung in die Gesellschaft nicht entgegensteht.[7]

Neben dem zentralen Thema des Ãœbergangs vom Strafvollzug zu einer zweiten totalen Institution wirft der hier behandelte Beschluss weitere Fragen auf, die das Problem unbestimmter Rechtsbegriffe, des Beurteilungsspielraums sowie die Verfahrensprinzipien des vollzuglichen Rechtsschutzes betreffen.

II. Zum Sachverhalt[8]

Der Antragssteller, der eine Haftstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten bei der Antragsgegnerin verbüßte (das Ende seiner Haftzeit war für den 5. April 2018 notiert) und mit einer Abschiebung in die Türkei nach der Verbüßung seiner Strafe rechnete (es lag eine Ausweisungsverfügung

vor, allerdings zum Zeitpunkt des Antrags noch nicht bestandskräftig), begehrte vor seiner Entlassung die Freigabe von Überbrückungsgeld in Höhe von 104 Euro für die Beantragung eines türkischen Reisepasses sowie die Freigabe von Überbrückungsgeld in Höhe von 1000 Euro für eine Ausgleichszahlung zur Befreiung vom türkischen Militärdienst. Während das Überbrückungsgeld in Höhe von 104 Euro für den Reisepass freigegeben wurde, wurde die vorzeitige Freigabe des Überbrückungsgeldes für die Ausgleichzahlung zur Befreiung vom Wehrdienst abgelehnt. Der Begründung der Anstaltsleitung zufolge diene eine solche Ausgleichszahlung nicht der Eingliederung des Inhaftierten. Gegen diese ablehnende behördliche Maßnahme wandte sich der Inhaftierte mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Braunschweig.

Sein Antrag bei der Strafvollstreckungskammer hatte Erfolg. Die Strafvollstreckungskammer wies die JVA an, das Überbrückungsgeld des Antragsstellers in Höhe von 1000 Euro vor der Entlassung freizugeben, da die Ausgleichszahlung der Eingliederung diene und wegen einer Auszahlungsfrist nicht zeitlich verlegt werden könne. Während des Prozesses wies die Kammer den Antragsteller auf Antragsmängel hin. Als Reaktion darauf legte der Antragssteller weitere in türkischer Sprache verfasste Schriftstücke vor. Um den Sachverhalt zu klären, nahm die Vorsitzende der Strafvollstreckungskammer während des Beweisverfahrens telefonisch Kontakt mit dem türkischen Konsulat auf, das die Behauptung des Antragsstellers bestätigte, er werde sofort nach seiner Einreise in die Türkei zu einem zwölfmonatigen Wehrdienst eingezogen, falls die Ausgleichszahlung nicht fristgemäß (Frist vor der Entlassung) erfolge.

Die JVA wandte sich mit dem Mittel der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss. Sie warf vor: a) Die Kammer habe sich nicht darauf beschränkt, die von der JVA vorgetragenen Ablehnungsgründe nachzuprüfen, sondern sie habe eigene, über die behördliche Entscheidung hinausgehende Nachforschungen unternommen;[9] b) Die Kammer habe eine eigene Sachentscheidung getroffen, ohne den Ermessenspielraum der Vollzugsbehörde zu berücksichtigen.[10] Das OLG Celle sah die Rechtsbeschwerde der JVA als begründet an und hob die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer auf.

III. Zum Inhalt

1. Der Beschluss des OLG

Auf die erste Rüge der JVA könnte man erwidern, dass die Kammer bei der Aufnahme des telefonischen Kontakts mit dem türkischen Konsulat nach den Anforderungen des Untersuchungsgrundsatzes agierte. Nach dem Untersuchungsgrundsatz ist das Gericht verpflichtet, den Sachverhalt umfassend aufzuklären und kann dafür eigene Recherche betreiben und selbst Beweise erheben.[11] Auch der Hinweis auf Antragsmängel erfolgte in Erfüllung der allgemeinen prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber dem aufgrund der Vollzugsrealität in seinen Erkundigungsmöglichkeiten eingeschränkten Antragsteller.[12] Solche Überlegungen sind allerdings in dem Beschluss des OLG nicht zu finden. Das Rechtsbeschwerdegericht geht auf die erste Rüge gar nicht ein, es hat sich lediglich mit dem zweiten Vorwurf befasst und eine Überschreitung der bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen gesetzten Grenzen angenommen.[13] Dabei beschränkt es sich allerdings nicht auf diese Feststellung, es hat sich durch den vorliegenden Sachverhalt veranlasst gesehen, eine enge Auslegung des § 47 Abs. 4 NJVollzG durchzuführen, die nicht zu überzeugen vermag.

Hier die Argumentation des Gerichts: Die Norm, auf die es hier ankomme, sei § 47 Abs. 4 NJVollzG (vgl. § 51 Abs. 3 StVollzG)[14], der die Voraussetzungen für die ausnahmsweise Gestattung von Überbrückungsgeld vor der Entlassung des Gefangenen festlegt. Der Regel zufolge wird das Guthaben auf dem Überbrückungskonto der oder des Gefangenen erst bei der Entlassung ausgezahlt (§ 47 Abs. 3 NJVollzG).[15] Gemäß § 47 Abs. Abs. 4 NJVollzG kann das Überbrückungsgeld gleichwohl schon vor der Entlassung gewährt werden, wenn das Überbrückungsgeld für Ausgaben verwendet werden soll, die der Eingliederung des Inhaftierten dienen.[16] Durch die Formulierung "kann gestattet werden", hebt das Gericht insoweit zutreffend hervor, räume der Gesetzgeber der Verwaltung einen Ermessensspielraum ein.[17] Ebenfalls zu Recht stellt das OLG fest, dass im vorliegenden Fall keine Ermessensreduzierung auf Null vorliege und dass die Kammer nicht an Stelle der JVA für die Auszahlung des Überbrückungsgeldes entscheiden dürfe.[18] Nichtsdestotrotz hält sich das OLG für befugt, selbst eine Sachentscheidung zu treffen, da § 47 Abs. 4 NJVollzG schon auf tatbestandlicher Ebene abzulehnen sei, sodass es auf die Frage der Ermessensausübung nicht ankomme.[19] Voraussetzung für die Erfüllung des Tatbestandes sei, dass die vorzeitige Freigabe des Überbrückungsgeldes der Eingliederung diene.[20] Dies sei auf der Grundlage einer engen Ausle-

gung der Vorschrift nicht anzunehmen, wenn die vorzeitige Freigabe von Überbrückungsgeld als Ausgleichszahlung für die Befreiung vom türkischen Wehrdienst verwendet werden soll.[21]

2. Kritik

Verfahrensweise und Begründung des Gerichts sind mit Nachdruck zu widersprechen. Erstens handelt es sich bei § 47 Abs. 4 NJVollzG um eine sog. "Koppelungsvorschrift" oder einen sog. "Mischtatbestand", d.h. die Norm enthält einen unbestimmten Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite ("Eingliederung") und räumt auch noch einen Ermessensspielraum ("kann") auf der Rechtsfolgenseite ein.[22] Während die Ermessensermächtigung auf der Rechtsfolgenseite von der Strafvollstreckungskammer außer Acht gelassen wurde, als sie die JVA anwies, das Überbrückungsgeld des Antragsstellers vor der Entlassung freizugeben, da die Ausgleichzahlung der Resozialisierung diene, wurde der unbestimmte Rechtsbegriff auf der Tatbestandsseite vom OLG fehlerhaft behandelt. Anders gesagt: Während die Strafvollstreckungskammer den Ermessenspielraum der JVA verletzte, verletzte das OLG den ihr zugewiesenen Beurteilungsspielraum.

Das OLG lehnt, ohne jegliche Auseinandersetzung mit der Natur des Begriffs der Eingliederung, § 47 Abs. 4 NJVollzG bereits tatbestandlich ab. Eine Geldzahlung zur Befreiung von der Wehrpflicht diene nicht der Eingliederung des Antragsstellers, wird vom OLG behauptet. Hier vermisst man eine konkrete Befassung mit der Person des Antragstellers und seinen individuellen Eingliederungsperspektiven. Es wird übersehen, dass es sich bei der "Eingliederung" um einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum handelt, der der Anstaltsleitung wegen der Sachnähe zusteht.[23] Die Frage, ob der Verwendungszweck der Eingliederung dient, ist mit einem persönlichkeitsbezogenen Wertungsurteil verbunden.[24] Ähnlich wie bei der Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug nach § 10 Abs. 2 StVollzG aus Gründen der Behandlung des Gefangenen geht es bei der "Eingliederungsfrage" im Rahmen des § 47 Abs. 4 NJVollzG um personenabhängige, vorausblickende und prognoserelevante Wertungen.[25] Was der sozialen Integration eines Inhaftierten dient, kann nicht nur auf der Basis von generalisierenden Kriterien entschieden werden, sondern auf der Grundlage von konkreten Anhaltspunkten, die in der Person des Inhaftierten verdeutlicht werden müssen.[26] Während es durchaus nicht von vornherein undenkbar ist, dass die Ableistung der Wehrpflicht gleich nach der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dem einen oder anderen Gefangenen beim Übergang von der Unfreiheit zu den Bedingungen der freien Gesellschaft helfen kann, ist sehr gut vorstellbar, dass für andere Gefangene diese zeitliche Aneinanderreihung von totalen Institutionen sozialvernichtende Folgen hat.

Hinsichtlich dieser Gefahr fehlt es seitens des Gerichts an Sensibilisierung. Exemplarisch für dieses mangelnde Problembewusstsein ist folgende notdürftige Argumentation: "Bei der Ableistung der Wehrpflicht handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche, mit den staatsbürgerlichen Rechten verknüpfte Pflicht. Sollte der Antragssteller, der t. Staatsangehöriger ist, diese Pflicht nicht erfüllen, droht ihm möglicherweise für den Fall, dass er sich in die T. begibt, auch die Sanktionierung einer evt. Pflichtverletzung bis hin zu einer Freiheitsstrafe. Es ist jedoch bereits umstritten, ob die zusätzliche Verbüßung von Freiheitsstrafe der Eingliederung zwingend entgegensteht. Dies könnte hier angesichts der Tatsache, dass der Antragsteller bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt hat nur ins Gewicht fallen, wenn sie im Vergleich zu dieser gewisse Erheblichkeit aufweisen würde. Dies kann vorliegend indes dahingestellt bleiben, da eine Inhaftierung des Antragstellers, die seine Wiedereingliederung infrage stellen könnte, nicht zwangsläufig droht. Der Antragssteller kann seine Wehrpflicht nicht nur durch Leistung der Ausgleichszahlung abbedingen, er könnte auch den Wehrdienst ableisten."[27]

Die Sichtweise des Gerichts ist hier nur auf das Problem einer möglichen Sanktionierung des Betroffenen für den Fall der Nichtableistung des Militärdienstes oder der Nichtentrichtung der Ausgleichszahlung reduziert. Das Problem der Auswirkung einer zusätzlichen Freiheitsstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) auf die Wiedereingliederung des Betroffenen wird lediglich gestreift,[28] die möglichen Folgen der Ableistung des Militärdienstes für die Reintegrationsfähigkeit des Gefangenen werden überhaupt nicht zum Gegenstand gemacht. Offenbar fehlt das Bewusstsein für Reintegrationsrisiken, die sich aus der strukturellen Ähnlichkeit zweier Institutionen ergeben, deren Zweck gerade darin besteht, die Institutionsunterworfenen den normalen sozialen Alltagsinteraktionen zu entziehen. In diesem Zusammenhang müsste auch die Dauer der bereits verbüßten Freiheitsstrafe sowie die Dauer des Militärdienstes mitberücksichtigt werden. In die Überlegungen sollte ferner der auch vom EGMR gerügte Umstand einfließen, dass es nach dem türkischen Recht bislang keinen Ersatzdienst als anerkannte Alternative zur Wehrpflicht gibt[29], womit die Option einer freistellenden Ausgleichszahlung in bestimmten Fällen die einzige Möglichkeit bleibt, der Institution des Militärs fernzubleiben. All diese Aspekte werden in der Entscheidung des OLG schlicht ignoriert. Durch die pauschale Ablehnung des § 47 Abs. 4 NJVollzG hat das Gericht nicht nur den Beurteilungsspielraum der JVA verletzt, sondern es hat auch versäumt, die Möglichkeit zu nutzen, allgemeine Kriterien für die Anwendung der einschlägigen Norm zu formulieren, die von der Verwaltung ihren Ermessenerwägungen zugrunde gelegt werden könnten.

Was nun die Ausübung des Beurteilungsspielraums seitens der JVA betrifft, ist letztere zu einer persönlichkeitsbezogenen, individuellen Wertung der Bedürfnisse und der konkreten Reintegrationsperspektiven des Antragstellers verpflichtet.[30] Käme man zum Ergebnis, dass für den konkreten Inhaftierten die Befreiung von der Wehrpflicht der Integration dient, wäre der Tatbestand erfüllt und die JVA könnte ihr Ermessen ausüben. Hier ist zu beachten, dass dafür keineswegs eine positive Reintegrationsprognose erfolgen muss, es reicht aus, dass durch das Eingebundenwerden in die Institution des Militärs für den Gefangenen die Gefahr einer desintegrierenden Wirkung nicht auszuschließen ist.

Der Ermessenspielraum der Behörde wäre allerdings von dem Angleichungsgrundsatz besonders beschränkt.[31] Der Angleichungsgrundsatz gemäß § 2 NJVollzG bzw. § 3 StVollzG besagt, dass "Unterschiede zwischen dem Leben im Vollzug und dem in der freien Gesellschaft, welche die Selbstachtung sowie die Eigenverantwortlichkeit des Inhaftierten beeinträchtigen können, auf ein Mindestmaß reduziert werden."[32] Daher betrifft eine Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse nicht nur die Gestaltung der praktischen und aktuellen Bedingungen des alltäglichen Lebens des Inhaftierten (z.B. Unterbringung, Verpflegung, Kontakt mit der Außenwelt)[33], dies wäre ein zu enges Verständnis von Angleichung. Darüber hinaus erfasst das Prinzip richtigerweise auch die Möglichkeit der Person, in der Gegenwart ihre zukünftigen Lebensbedingungen zu gestalten. Diese Möglichkeit stellt ein wesentliches Moment der Persönlichkeitsentfaltung und der selbstverantwortlichen Lebensführung in der freien Gesellschaft dar und sollte nicht mehr als nötig eingeschränkt werden. Ausdruck dieser Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, ist die Entscheidung für die Ableistung des Wehrdienstes oder für den fristgemäßen Freikauf von ihr. Wird dem Gefangenen das Überbrückungsgeld zum Freikauf vom Militärdienst nicht gewährt, wird ihm eine Alternative verwehrt, die andere Wehrdienstpflichtige außerhalb des Vollzuges besitzen. Eine solche Ungleichbehandlung des Gefangenen würde einen besonderen argumentativen Aufwand seitens der Anstaltsleitung verlangen.[34] Den Weg zu diesen Überlegungen versperrt das OLG schon auf der Tatbestandsebene mit seiner pauschalen und stereotypen Antwort auf eine im Grunde personenabhängige Frage.[35] Die Bedeutung, die der Angleichungsgrundsatz bei solchen Sachverhalten erlangen kann, wird nicht erkannt.

Aus verfassungsrechtlichem Blickwinkel ergibt sich: Die pauschale Ablehnung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 47 Abs. 4 NJVollzG im Falle des Freikaufs vom Militärdienst verletzt den aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip resultierenden Anspruch des Gefangenen auf Resozialisierung.[36] Das Gericht vertritt eine enge Auslegung des Absatzes 4, die die sozialstaatliche Dimension und die Resozialisierungsaufgabe des Vollzugs, wie sie in der Regelung über das Überbrückungsgeld zum Ausdruck kommt, annulliert. "Die Vorschrift in § 47 Abs. 4 NJVollzG, die eine Abweichung von dem Grundsatz darstellt, dass das Überbrückungsgeld erst bei Haftentlassung auszuzahlen ist, ist als Ausnahmevorschrift eng auszulegen",[37] ist in der Entscheidung zu lesen.

Gegen diese Ansicht spricht nicht nur die verfassungsfundierte Resozialisierungsaufgabe des Vollzugs, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen. Zwar hat sich der Gesetzgeber in § 47 NJVollzG sich für die paternalistische Beschränkung der Verfügungsbefugnis des Inhaftierten über seine Bezüge als Ausdruck einer resozialisierenden staatlichen Vor- und Fürsorge entschieden,[38] es ist allerdings bei der Auslegung der Vorschrift nicht aus dem Auge zu verlieren, dass das Überbrückungsgeld prinzipiell Teil des vom Gefangenen selbst erwirtschafteten Geldes ist und seine Verwendung für Ausgaben vorgesehen ist, die die Zeit nach der Entlassung betreffen. Erkennt man diese zeitliche Besonderheit des § 47 NJVollzG, ist dem Selbstbestimmungsrecht des Inhaftierten im Rahmen dieser Vorschrift größeres Gewicht als bei sonstigen vollzuglichen Entscheidungen beizumessen, die die Gestaltung des Vollzugs im engen Sinne betreffen. Wenn schon während des Vollzugs ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zugestanden wird[39] – dies ergibt sich bereits daraus, dass der Gesetzgeber keine Mitwirkungspflicht an der Behandlung vorsieht, und wird in einzelnen Regelungen konkretisiert, wie etwa durch das Zustimmungserfordernis für die Unterbringung im offenen Vollzug[40] und durch die "Mitwir-

kungsfunktion" des Gefangenen bei der Erstellung des Vollzugsplanes[41] – dann sollten die Vorstellungen des Inhaftierten für die Zeit, in der er wieder frei ist, umso mehr berücksichtigt werden, vor allem, wenn es dabei um die Verwendung der eigenen Bezüge geht. Von diesem Standpunkt aus ist die vom OLG vertretene enge Ausle-

gung des § 47 Abs. 4 NJVollG abzulehnen. Vielmehr verlangt die verstärkte Beachtung des Selbstbestimmungsrechts für Entscheidungen bezüglich des Lebens in Freiheit eine großzügige Handhabung der Ausnahmevorschrift und daher eine weite Auslegung.

IV. Fazit

Zusammenfassend sind die folgenden wesentlichen Aspekte festzuhalten:

1. Bei der normativen Voraussetzung des § 47 Abs. 4 NJVollzG, Dienlichkeit der Eingliederung, ist aufgrund der erforderlichen persönlichen Einschätzungen und Beurteilungen, die sich auf zukünftige Vorgänge beziehen, von der "Entscheidungsprärogative" der Anstaltsleitung auszugehen.[42] Ihr steht ein Beurteilungsspielraum zu, der vom Gericht nicht ausgefüllt werden darf.[43] Dies wurde vom OLG Celle übersehen, als es anstelle der Anstaltsleitung die Dienlichkeit der Eingliederung im Falle der Freigabe von Überbrückungsgeld zum Freikauf vom Wehrdienst beurteilte.

2. Im Rahmen der justiziellen Überprüfbarkeit ist das Gericht allerdings gehalten, Wertungskriterien zu formulieren, die bei der Ausübung des behördlichen Beurteilungsspielraums zu berücksichtigen sind. Dieser Aufgabe ist das Gericht in dem hiesigen Fall nicht gerecht geworden. Dies wäre möglich gewesen, wenn das OLG den Zusammenhang zwischen der Diskussion um die Verbüßung einer weiteren Freiheitsstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) und der Thematik der Ableistung des Wehrdienstes gleich nach der Verbüßung der Freiheitsstrafe richtig hergestellt hätte.

3. § 47 Abs. 4 NJVollzG ist im Lichte der Resozialisierungsaufgabe und des Selbstbestimmungsrechts des Inhaftierten weit und nicht eng auszulegen. Das Selbstbestimmungsrecht gewinnt noch mehr an Bedeutung, wenn es um Maßnahmen geht, die unmittelbar die Zeit nach der Entlassung betreffen, wie die Verwendungen des Überbrückungsgeldes. Der besondere Stellenwert der Selbstbestimmung des Inhaftierten im Rahmen des § 47 Abs. 4 NJVollzG wird vom OLG nicht gesehen.

4. Von Bedeutung für die vorzeitige Freigabe des Überbrückungsgeldes ist spätestens bei der Ermessensentscheidung der Angleichungsgrundsatz. Durch die Tatsache, dass nicht-inhaftierte Wehrdienstpflichtige die Möglichkeit einer Ausgleichszahlung zur Befreiung vom Wehrdienst haben, verengt sich der Ermessenspielraum der Behörde und die Anforderungen an die Begründung einer Ablehnung der Freigabe von Überbrückungsgeld[44] steigen. Eine starke Vermutung spricht dafür, dass ein sich unmittelbar nach der Strafhaft anschließender Militärdienst in vielen Fällen die Sorge begründet, er könne ein Risiko für die Wiedereingliederungsperspektive darstellen.


[1] BVerfGE 35, 202, Rz. 70.

[2] BVerfGE 33, 1, Rz. 13.

[3] Laubenthal, Strafvollzug, 7. Aufl. 2014, Rn. 196; Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, Rn. 170; Bung/Feest, in: Feest/Lesting (Hg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 6. Aufl. 2012, Vor § 2, Rn. 7 sowie § 2, Rn. 11.

[4] Laubenthal (Fn. 3), Rn. 196.

[5] Lindemann, in: Feest/Lesting/Lindemann (Hg.), Strafvollzugsgesetze – Kommentar, 7. Aufl. 2017, Teil II, Abschnitt 1, Vor § 2, Rn. 7.

[6] Goffman, Asyle, Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, 1. Aufl. 1973, S. 24, zur totalen Institution s. Böhm (Fn. 3), Rn. 170; Laubenthal (Fn. 3), Rn. 196.

[7] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 21, abrufbar unter: http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod?showdoccase=1&doc.id=KORE200942018 .

[8] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 1-9.

[9] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 9.

[10] Ebd.

[11] Laubenthal (Fn. 3), Rn. 804; zur Verpflichtung des Gerichts, die "materielle Wahrheit" durch eigene Recherche zu erforschen s. auch OLG Hamm, NStZ 2002, 224.

[12] Zur prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts Laubenthal (Fn. 3), Rn. 802.

[13] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 13.

[14] "Der Anstaltsleiter kann gestatten, daß das Überbrückungsgeld für Ausgaben in Anspruch genommen wird, die der Eingliederung des Gefangenen dienen."

[15] Ausführlich zum Überbrückungsgeld statt vieler Laubenthal (Fn. 3), Rn. 473 ff.

[16] Als zweite Voraussetzung gilt im niedersächsischen Vollzugsgesetz – anders § 51 Abs. 3 StVollzG, s. Fn. 14 – alternativ zu der Voraussetzung der Dienlichkeit der Eingliederung der Ausgleich eines durch die Straftaten des oder der Gefangenen verursachten Schadens. Für den vorliegenden Sachverhalt kommt diese Voraussetzung allerdings nicht in Betracht.

[17] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 14.

[18] Ebd., Rz. 13 f.

[19] Ebd., Rz. 16.

[20] Ebd., Rz. 17 ff.

[21] Ebd., Rz. 18 ff.

[22] Zu Koppelungsvorschriften Treptow, NJW 1978, 2227.

[23] Allgemein dazu Laubenthal (Fn. 3), Rn. 813.

[24] Zum Werturteil beim Beurteilungsspielraum s. Justen, Unbestimmte Rechtsbegriffe mit "Beurteilungsspielraum" im Strafvollzugsgesetz, 1995, S. 17; Treptow, NJW 1978, 2227 (2229).

[25] So zur Thematik des § 10 StVollzG Treptow, NJW 1978, 2227 (2229); vgl. auch Justen (Fn. 24), S. 16.

[26] So wie bei der Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr, s. hierzu OLG Celle, NStZ 2000, 615.

[27] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 21.

[28] Zur Freigabe von Überbrückungsgeld zur Abwendung der Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 6. Aufl. 2013, § 51, Rn. 15; Nestler, in: Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel, Strafvollzugsgesetz, 12. Aufl. 2015, Abschnitt F, Rn. 188.

[29] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht in dieser Politik eine Verletzung des Art. 9 der Konvention (Gedanken-Gewissens-Religionsfreiheit), s. Ercep gegen Türkei, https://hudoc.echr.coe.int/fre#{"itemid":["001-107532"]}.

[30] Vgl. Justen (Fn. 24), S. 17.

[31] Vgl. die Argumentation von Lesting in Bezug auf die Abgabe von Einwegspritzen im Strafvollzug zur Aids-Prävention, Lesting, StV 1990, 225 (229).

[32] Laubenthal (Fn. 3), Rn. 198.

[33] Böhm (Fn. 3), Rn. 18.

[34] Vgl. Lesting, StV 1990, 225 (229).

[35] Zu persönlichkeitsbezogenen Werturteilen im Rahmen der Ausübung des Beurteilungsspielraums Treptow, NJW 1978, 2227 (2229).

[36] "Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden Grundrechte muß der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Vom Täter aus gesehen erwächst dieses Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 GG. Von der Gemeinschaft aus betrachtet, verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor-und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören auch die Gefangenen und Entlassenen", heißt in der prominenten Lebach-Entscheidung, BVerfGE 35, 2013, Rz. 72; s. auch BVerfGE 98, 169; dazu Lindemann (Fn. 5), Teil II, Abschnitt 1, § 2, Rn. 15.

[37] OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 07.11.2017, 3 Ws 543/17 (StrVollz), Rz. 18; so auch Nestler (Fn. 28), Abschnitt F, Rn. 187; Arloth, Srafvollzugsgesetz, 2. Auflage 2008, § 51, Rn. 10; vgl. Laubenthal (Fn. 28), § 51, Rn. 14.

[38] Vgl. Laubenthal (Fn. 3), Rn. 473.

[39] Ebd., Rn. 348.

[40] Laubenthal (Fn. 3), Rn. 348. In Niedersachsen ist zwar kein Zustimmungserfordernis vor der Unterbringung im offenen Vollzug vorgesehen, gleichwohl ist eine Zurückverlegung in den geschlossenen Vollzug erst nach Antrag des Inhaftierten möglich, ebd. (Fn. 3), Rn. 348.

[41] Ebd., Rn. 324.

[42] Zur "Entscheidungsprärogative" der Verwaltung wegen der notwendigen persönlichen Wertungen und Einschätzungen von zukünftigen Vorgängen allgemein Laubenthal (Fn. 3), Rn. 813.

[43] Vgl. ebd.

[44] Vgl. Lesting, StV 1990, 225 (229) bei seiner nachvollziehbaren Argumentation für die Abgabe von Einwegspritzen im Strafvollzug zur Aids-Prävention.