HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2018
19. Jahrgang
PDF-Download

IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1172. BGH 3 StR 390/17 - Urteil vom 3. Mai 2018 (LG Wuppertal)

Verwertbarkeit von im Zusammenhang mit einer rechtfehlerhaften Durchsuchung erlangten Beweisen (Vorhalt unzulässig erlangter Erkenntnisse; grundsätzliches Verwertungsverbot; Selbstbelastungsfreiheit; qualifizierte Belehrung; Abwägung; Richtervorbehalt; Schweigerecht; Willkür); Anforderungen an den Revisionsvortrag bei Verfahrensrüge (Prüfungsumfang; Angriffsrichtung; Verfahrenstatsachen).

§ 105 Abs. 1 StPO; § 136 Abs. 1 S. 2 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; § 252 StPO; § 261 StPO; § 344 Abs. 2 StPO

1. Macht der Beschuldigte seine Angaben unter dem Eindruck des Vorhalts von unzulässig erlangten Erkenntnissen, etwa solchen aus einer rechtswidrigen Telekommunikationsüberwachung, ist er selbst dann, wenn er gemäß § 136 Abs. 1 S. 2 StPO belehrt worden ist, nicht mehr frei in seiner Entschließung, ob und wie er sich zu einzelnen Punkten einlassen soll, die ihm aufgrund der unzulässig erlangten Beweismittel vorgehalten werden. Die in dieser Weise verfahrensfehlerhaft erlangte Aussage ist grundsätzlich unverwertbar. Eine Abwägung mit dem Interesse an der Sachverhaltsaufklärung scheidet insoweit aus.

2. Es ist anerkannt, dass ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO auch zur Unverwertbarkeit von späteren Aussagen des Beschuldigten führen kann, sofern dieser nicht durch eine „qualifizierte Belehrung“ auf die Unverwertbarkeit seiner früheren Aussage hingewiesen wird (vgl. zuletzt etwa BGH HRRS 2015 Nr. 240). Ob eine Pflicht zur qualifizierten Belehrung bei einer späteren Vernehmung auch darauf gestützt werden kann, dass der Angeklagte bei seiner ersten Befragung mit Beweismitteln konfrontiert wurde, die einem

Beweisverwertungsverbot unterlagen – hier wegen eines Verstoßes gegen den Richtervorbehalt nach § 105 Abs. 1 StPO –, muss der Senat nicht entscheiden.

3. Unterbleibt eine gebotene qualifizierte Belehrung, folgt daraus nicht ohne Weiteres die Unverwertbarkeit der neuerlichen Aussage. Es ist vielmehr – nach den in der Rechtsprechung anerkannten Grundsätzen – eine Abwägung vorzunehmen. In deren Rahmen kommt dem Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung regelmäßig nicht dasselbe Gewicht zu wie dem vorangegangenen Verstoß. Das gilt auch, wenn die ursprüngliche Unverwertbarkeit auf den Vorhalt unzulässig erlangter Beweismittel bei einer früheren Vernehmung resultiert. Da in diesen Fällen eine Pflicht zur qualifizierten Belehrung bislang höchstrichterlich nicht anerkannt ist, wird das Unterlassen einer solchen Belehrung zudem regelmäßig nicht willkürlich sein.

4. Der Umfang der Prüfung durch das Revisionsgericht wird durch die Angriffsrichtung der von der Revision erhobenen Verfahrensbeanstandung bestimmt. Das folgt aus der Dispositionsbefugnis des Revisionsführers, die sich aus § 352 Abs. 1 StPO ergibt. Danach unterliegen der Prüfung des Revisionsgerichts nur die gestellten Revisionsanträge und, soweit die Revision auf Mängel des Verfahrens gestützt wird, nur diejenigen Tatsachen, die innerhalb der Revisionsbegründungsfrist bezeichnet sind. Dementsprechend steht es dem Revisionsführer frei, ein Prozessgeschehen nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu rügen, einen etwa zusätzlich begangenen Verfahrensverstoß dagegen hinzunehmen.

5. Das Revisionsgericht hat zu der Frage, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt, nicht lediglich diese Würdigung auf Rechtsfehler zu überprüfen, sondern selbst im Wege des Freibeweises festzustellen, ob der behauptete Verfahrensfehler vorliegt. Gemäß den danach geltenden allgemeinen Grundsätzen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO muss der Beschwerdeführer im Rahmen einer Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen grundsätzlich so vollständig und genau darlegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und - in der Regel durch wörtliche Zitate oder eingefügte Abschriften oder Ablichtungen - zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen.


Entscheidung

1131. BGH 2 StR 421/17 - Beschluss vom 5. September 2018 (LG Frankfurt am Main)

Hinzuziehung eines Ergänzungsschöffen (Verhinderung des zur Entscheidung berufenen Schöffen; Entscheidungszeitpunkt- und Maßstab; tatrichterliches Ermessen: zu berücksichtigende Interessen; revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; § 192 Abs. 2, Abs. 3 GVG; § 229 Abs. 1 StPO

1. Nach § 192 Abs. 2, Abs. 3 GVG tritt ein zu der Hauptverhandlung zugezogener Ergänzungsschöffe in das Quorum ein, wenn ein zur Entscheidung berufener Schöffe an der weiteren Mitwirkung verhindert ist. Die Feststellung, ob ein Verhinderungsfall vorliegt, obliegt dem Vorsitzenden. Der Vorsitzende hat bei der Entscheidung einen Ermessenspielraum. Dieser umfasst auch den Zeitpunkt seiner Entscheidung.

2. Eine zeitweise, sich prognostisch innerhalb der Frist des § 229 Abs. 1 StPO bewegende Verhinderung eines Spruchkörpermitglieds begründet nicht notwendig den Vertretungsfall; sie schließt jedoch die Annahme einer Verhinderung auch nicht aus. Bei der Wahl des Entscheidungszeitpunktes hat der Vorsitzende die widerstreitenden Interessen zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters einerseits und den auf Beschleunigung und Konzentration gerichteten sonstigen Prozessmaximen anderseits zu berücksichtigen.

3. Während das Prinzip des gesetzlichen Richters dafür streitet, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und abzuwarten, ob sie noch fristgemäß unter Mitwirkung des erkrankten Spruchkörpermitglieds fortgesetzt werden kann, lassen es die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime sachgerecht erscheinen, die Verhinderung baldmöglichst festzustellen, um die Hauptverhandlung ohne Zeitverzug fortzusetzen. Die Entscheidung des Vorsitzenden bedarf daher substantiierter Erwägungen im Einzelfall. Dabei können neben dem – in Haftsachen in verstärktem Maße in den Blick zu nehmenden – Beschleunigungsgebot beispielsweise das auf eine effektive, zügige und für alle Verfahrensbeteiligten ressourcenschonende Durchführung der Hauptverhandlung gerichtete Konzentrationsgebot, die konkrete Planung der Beweisaufnahme sowie die Anzahl der (noch) geplanten Hauptverhandlungstermine oder auch ein drohender Beweismittelverlust Bedeutung gewinnen. Bei der Entscheidung im Einzelfall ist jedoch stets das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter im Blick zu behalten.

4. Die Entscheidung des Vorsitzenden ist vom Revisionsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur darauf hin zu überprüfen, ob sie sich als unvertretbar und damit als objektiv willkürlich erweist. Eingedenk des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs des Angeklagten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt Willkür in diesem Sinne nicht erst bei einer bewussten Fehlentscheidung, sondern bereits dann vor, wenn die mit der Verhinderungsfeststellung des Schöffen verbundene Bestimmung des gesetzlichen Richters grob fehlerhaft ist und sich so weit von der verfassungsmäßigen Garantie des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann.


Entscheidung

1138. BGH 4 StR 135/18 - Urteil vom 27. September 2018 (LG Bielefeld)

Revisionsbegründung (Anforderungen an den Revisionsvortrag: Darlegung revisionsbegründender Tatsachen im Falle der Behauptung eines zu Unrecht angenommenen Beweisverwertungsverbotes); Unverletzlichkeit der Wohnung (Dispositionsbefugnis eines Mieters über den Hausflur eines Mietshauses); Raub (Voraussetzungen eines minder schweren Falles); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (symptomatischer Zusammenhang: Prüfungsmaßstab).

§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; Art. 13 Abs. 1 GG; § 64 StGB; § 250 Abs. 3 StGB

1. Der Beschwerdeführer muss im Rahmen einer Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen grundsätzlich so vollständig und genau darlegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Für den Revisionsvortrag wesentliche Schriftstücke oder Aktenstellen sind im Einzelnen zu bezeichnen und zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen.

2. Diese Anforderungen gelten auch dann, wenn die Beschwerdeführerin rügt, das Gericht habe zu Unrecht das Vorliegen eines Verwertungsverbotes für ein Beweismittel angenommen, das auf Grund einer Wohnungsdurchsuchung erlangt wurde. Zwar kann das Revisionsgericht die für das Vorliegen eines Verwertungsverbotes in tatsächlicher Hinsicht entscheidungserheblichen Fragen gegebenenfalls im Wege des Freibeweises überprüfen; dies kann jedoch wie auch sonst bei behaupteten Verletzungen von Verfahrensvorschriften nur auf der Grundlage eines entsprechenden zulässigen Revisionsvortrags erfolgen. Ist die Annahme eines Beweisverwertungsverbots tragender Grund für die Ablehnung eines Beweisantrags, sind regelmäßig Beweisantrag und Ablehnungsbeschluss im Wortlaut mitzuteilen, da sich die Fehlerhaftigkeit der Annahme eines Beweisverwertungsverbots als Grundlage für die Zurückweisung des Beweisantrags bereits allein aus dessen Begründung ergeben kann. Lässt der Inhalt des Ablehnungsbeschlusses eine abschließende Beurteilung des Vorliegens eines Verwertungsverbots indes nicht zu, ist für die Darlegung des geltend gemachten Verfahrensfehlers weiterer Vortrag zu den maßgeblichen Verfahrenstatsachen erforderlich, um den Anforderungen zu genügen.

3. Der Flur eines Apartmenthauses fällt mangels allgemeiner Zugänglichkeit jedenfalls als befriedetes Besitztum in den – weit auszulegenden – Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG. Der Angeklagte als einer der Mieter des Hauses ist Inhaber des Mitgewahrsams bzw. des Hausrechts an gemeinschaftlich genutzten Hausfluren. Er kann deshalb sein Einverständnis mit der Nachschau durch Polizeibeamte erklären.

4. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt ein minder schwerer Fall des Raubes dann vor, wenn das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem Maße abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint. Die danach erforderliche Gesamtbetrachtung und die Würdigung aller wesentlichen entlastenden oder belastenden Gesichtspunkte ist – ebenso wie die Strafzumessung im engeren Sinne – in erster Linie Aufgabe des Tatrichters. Seine Wertung muss das Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinnehmen. In die Einzelakte der Strafzumessung kann es in der Regel nur eingreifen, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn die verhängte Strafe auch unter Berücksichtigung des dem Tatrichter eingeräumten Ermessensspielraums nicht mehr als gerechter Schuldausgleich anzusehen ist. Eine bis ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist dem Revisionsgericht dagegen verwehrt.

5. Der für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erforderliche symptomatische Zusammenhang zwischen dem Hang des Täters zum übermäßigen Drogengenuss und den begangenen Taten sowie seiner zukünftigen Gefährlichkeit wird nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht dadurch infrage gestellt, dass neben dem Hang auch andere Umstände mit dazu beigetragen haben, dass der Angeklagte erhebliche rechtswidrige Taten begangen hat und dies auch für die Zukunft mit dem erforderlichen Grad von Wahrscheinlichkeit zu besorgen ist. Mit Blick auf den Sicherungszweck der Maßregel ist eine Verbesserung der öffentlichen Sicherheit durch eine Suchtbehandlung schon dann erreicht, wenn bei ihrem erfolgreichem Verlauf das Ausmaß der Gefährlichkeit des Täters nach Frequenz und krimineller Intensität den von ihm zu befürchtenden Straftaten deutlich herabgesetzt wird.


Entscheidung

1195. BGH 5 StR 389/18 - Beschluss vom 10. Oktober 2018 (LG Berlin)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen (Indiz- oder Hilfstatsache; kein Zusammenhang mit der Urteilsfindung; kein Einfluss auf die richterliche Überzeugung im Fall der Bestätigung; nur möglicher Schluss auf das Vorliegen oder Fehlen einer Haupttatsache oder den Beweiswert eines anderen Beweismittels; Einstellung in das bisherige Beweisergebnis; prognostische Prüfung).

§ 244 Abs. 3 StPO

1. Eine unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache ist aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung bedeutungslos, wenn sie in keinem Zusammenhang mit der Urteilsfindung steht oder wenn sie trotz eines solchen Zusammenhangs selbst im Fall ihrer Bestätigung keinen Einfluss auf die richterliche Überzeugung vom entscheidungserheblichen Sachverhalt hätte, weil sie nur einen möglichen Schluss auf das Vorliegen oder Fehlen einer Haupttatsache oder den Beweiswert eines anderen Beweismittels ermöglicht und das Gericht der Überzeugung ist, dass dieser Schluss in Würdigung der gesamten Beweislage nicht gerechtfertigt wäre.

2. Ob der Schluss gerechtfertigt wäre, hat das Tatgericht nach den Grundsätzen der freien Beweiswürdigung zu beurteilen. Hierzu hat es die unter Beweis gestellte Indiz- oder Hilfstatsache so, als sei sie erwiesen, in ihrem vollen Umfang ohne Umdeutung, Einengung oder Verkürzung in das bisherige Beweisergebnis einzustellen und prognostisch zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung zu der potentiell berührten Haupttatsache bzw. zum Beweiswert des anderen Beweismittels in einer für den Schuld oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.


Entscheidung

1151. BGH 4 StR 314/18 - Beschluss vom 24. Oktober 2018 (LG Konstanz)


Notwendige Auslagen des Nebenklägers (Auferlegung gegenüber einem verurteilten Jugendlichen aus erzieherischen Gründen).

§ 472 Abs. 1 StPO; § 74 JGG

Die notwendigen Auslagen der Nebenklage können auch einem verurteilten Jugendlichen aus erzieherischen Gründen auferlegt werden. Ist der Jugendliche wegen eines Tötungsdeliktes verurteilt worden, lässt sich ihm auf diese Weise vor Augen führen, dass durch seine Tat auch Angehörige betroffen sind. Zudem kann hierdurch eine Abschwächung der Verurteilung vermieden werden, die in einer umfassenden Kostenfreistellung gesehen werden könnte.


Entscheidung

1114. BGH 1 StR 666/17 - Beschluss vom 6. November 2018 (LG Bonn)

Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit im Revisionsverfahren (letztmögliche Geltendmachung bei Entscheidung des Revisionsgerichts im Beschlusswege, keine Verlängerung durch Anhörungsrüge).

§ 24 StPO; § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 349 StPO; § 356a StPO

Entscheidet das Gericht über die Revision außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege, so kann ein Ablehnungsgesuch in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO nur solange statthaft vorgebracht werden, bis die Entscheidung ergangen ist. Etwas anderes gilt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann nicht, wenn gegen den die Revision verwerfenden Senatsbeschluss eine Anhörungsrüge nach § 356a StPO erhoben wird, die sich mangels Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als unbegründet erweist. Denn die Regelung des § 356a StPO soll dem Revisionsgericht die Möglichkeit geben, einem Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch erneute Sachprüfung selbst abzuhelfen; der Rechtsbehelf dient indes nicht dazu, einem unzulässigen Ablehnungsgesuch durch die unzutreffende Behauptung der Verletzung rechtlichen Gehörs doch noch Geltung zu verschaffen (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 214).


Entscheidung

1130. BGH 2 StR 417/18 - Beschluss vom 23. Oktober 2018 (LG Gera)

Gang der Hauptverhandlung (Informationspflicht: Mittelung über Erörterungen, soweit diese Möglichkeit einer Verständigung betreffen; Vermutung des Beruhens des Urteils auf Verstößen gegen Mittelungspflichten); Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Verpflichtung zur Bildung der Gesamtstrafen bei Vorliegen der Voraussetzungen).

§ 202a StPO; 212 StPO; § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 257c StPO; 273 Abs. 1 a Satz 2 StPO; § 55 StGB

1. Nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO teilt der Vorsitzende des Gerichts mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Diese Pflicht gilt nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, soweit sich Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung ergeben haben. Die Pflicht zur Mitteilung der mit dem Ziel einer Verständigung über den Verfahrensausgang geführten Gespräche erstreckt sich deshalb auch auf die Darlegung, von welcher Seite die Frage einer Verständigung aufgeworfen wurde, welche Standpunkte gegebenenfalls von den einzelnen Gesprächsteilnehmern vertreten wurden und auf welche Resonanz diese bei den anderen am Gespräch Beteiligten jeweils gestoßen sind. Dementsprechend hat der Vorsitzende zur Gewährleistung einer effektiven Kontrolle Verlauf und Inhalt der Gespräche in das Protokoll der Hauptverhandlung aufzunehmen (§ 273 Abs. 1a Satz 2 StPO), wobei die Dokumentationspflicht auch für erfolglos geführte Gespräche gilt, in deren Verlauf keine Verständigung zustande gekommen ist.

2. Bei Verstößen gegen die Mitteilungspflichten ist regelmäßig davon auszugehen, dass das Urteil darauf beruht, da sich – bis auf eng begrenzte Ausnahmefälle – nicht ausschließen lässt, dass das Gericht bei gesetzesmäßigem Vorgehen infolge eines anderen Prozessverlaufs zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

3. Liegen die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung vor, ist der Tatrichter hierzu grundsätzlich verpflichtet.


Entscheidung

1137. BGH 2 ARs 311/18 (2 AR 176/18) - Beschluss vom 31. Oktober 2018

Verbindung und Trennung rechtshängiger Strafsachen (grundsätzlich keine nachträgliche „Heilung“ fehlender Zuständigkeit durch den Bundesgerichtshof).

§ 4 Abs. 2 StPO; § 154 Abs. 2 StPO; § 349 Abs. 2 StPO

1. Eine nachträgliche „Heilung“ fehlender Zuständigkeit durch den nicht gleichzeitig als Revisionsgericht zuständigen Bundesgerichtshof in einer Vielzahl von Fällen würde Verstöße gegen § 4 Abs. 2 StPO weitgehend sanktionslos lassen und dessen Anwendungsbereich damit unangemessen einschränken. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen hält der Senat die Nachholung einer Verfahrensverbindung in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 2 StPO für zulässig, nämlich wenn das Revisionsverfahren bei ihm anhängig ist und durch diese Verfahrensweise unter Ausschluss jeglicher Beschwer für den Angeklagten endgültig erledigt werden kann.

2. Dies setzt voraus, dass das Verfahren, soweit es infolge unwirksamer Verfahrensverbindung an einer Verfahrens- (oder: Sachurteils-)voraussetzung fehlt, gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt und zugleich insgesamt nach § 349 Abs. 2 StPO verfahren werden kann.


Entscheidung

1187. BGH 5 StR 229/18 - Urteil vom 24. Oktober 2018 (LG Lübeck)

Abgrenzung von Vernehmung zur Sache und Vernehmung zu den persönlichen Verhältnissen (über die Identitätsfeststellung hinausgehende Angaben zu Werdegang, Vorleben oder wirtschaftlichen Verhältnissen); keine räuberische Erpressung bei erzwungener Preisgabe eines Tresorschlüssels (Möglichkeit zur anschließenden Wegnahme); Teilabsehen von der Wertersatzeinziehung.

§ 243 StPO; § 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 249 StGB; § 253 StGB; § 255 StGB

Über die bloße Identitätsfeststellung hinausgehende Angaben eines Angeklagten zu seinem Werdegang, seinem Vorleben oder seinen wirtschaftlichen Verhältnissen sowie zu sonstigen Umständen, die für die Beurteilung der Tat und den Rechtsfolgenausspruch von Bedeutung sein können, gehören zu der von der Aussagefreiheit erfassten Vernehmung zur Sache im Sinne des § 243 Abs. 5 Satz 2 StPO und nicht – wie dies der Wortlaut des § 243 Abs. 2 Satz 2 StPO auf den ersten Blick nahezulegen scheint – zur Vernehmung des Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse.


Entscheidung

1107. BGH 1 StR 399/15 - Beschluss vom 6. November 2018 (LG Traunstein)

Anhörungsrüge (Zulässigkeit: erforderliche Begründung der Rüge).

§ 356a Satz 2 StPO

1. In Fällen, in denen sich die Einhaltung der Frist des § 356a Satz 2 StPO nicht schon aus dem aus den Akten ersichtlichen Verfahrensgang ergibt, gehört die Mitteilung des nach § 356a Satz 2 StPO für den Fristbeginn maßgeblichen Zeitpunkts der Kenntniserlangung von den tatsächlichen Umständen, aus denen sich die Gehörsverletzung ergeben soll, und dessen Glaubhaftmachung (§ 356a Satz 3 StPO) zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsbehelfs (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 351).

2. Dem Begründungserfordernis in § 356a Satz 2 StPO ist nicht nur bei Fehlen jeglicher Begründung, sondern auch dann nicht Genüge getan, wenn die Begründung völlig ungeeignet ist, um einen Gehörsverstoß schlüssig darzutun; dem Fehlen einer Begründung ist eine völlig ungeeignete Begründung rechtlich gleichzustellen.


Entscheidung

1169. BGH 3 StR 92/18 - Beschluss vom 18. September 2018 (LG Hannover)

Zustellung des Urteils an den Verteidiger (kein Zustellungsmangel; mangelnde Lesefähigkeit des inhaftierten Angeklagten; unterbleibende Verlesung); Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Zulässigkeit; Wochenfrist; Fristbeginn; Kenntnisnahme; Zweifel an der Fristeinhaltung; Glaubhaftmachung; konkreter Vortrag):

§ 35 StPO; § 37 StPO; § 45 StPO

1. Der Umstand, dass nach Nr. 154 Abs. 1 Satz 1 RiStBV die Zustellung des Urteils an den Verteidiger gerichtet werden sollte, steht der Wirksamkeit der Zustellung an den Angeklagten nicht im Wege. Ein Gebot der Zustellung an den Verteidiger ergibt sich auch nicht aus § 37 Abs. 1 StPO i.V.m. § 172 Abs. 1 ZPO; vielmehr sind allein die Vorschriften der StPO maßgeblich.

2. Die Wirksamkeit der Zustellung wird auch nicht dadurch beeinträchtigt, dass der Angeklagte nur unzureichend lesen lernte; auch wenn eine auf Grund der mangelnden Lesefähigkeiten des in Haft befindlichen Angeklagten an sich nach § 35 Abs. 3 StPO gebotene Verlesung unterbleibt, begründet dies keinen Zustellungsmangel, sondern kann lediglich zu einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen.

3. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 45 Abs. 1 Satz 1 StPO). Entscheidend für den Fristbeginn der Wochenfrist für die Wiedereinsetzung ist der Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Angeklagten. Zweifel an der Fristeinhaltung gehen zu Lasten des Antragstellers.

4. Innerhalb der Wochenfrist muss der Antragsteller auch Angaben über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses machen. Diese Angaben sind ebenso wie ihre Glaubhaftmachung Zulässigkeitsvoraussetzungen.


Entscheidung

1134. BGH 2 StR 578/16 - Beschluss vom 24. Oktober 2018 (LG Rostock)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung (Wiedereinsetzung zur Nachholung einer Verfahrensrüge nur in Ausnahmefällen).

§ 44 StPO

1. Das Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung dient nicht der Heilung von Zulässigkeitsmängeln von fristgemäß erhobenen Verfahrensrügen. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Wiederholung einer zunächst vom Verteidiger nicht formgerecht vorgetragenen und daher unzulässigen Verfahrensrüge widerspräche im Übrigen der Systematik des Revisionsverfahrens. Könnte ein Angeklagter, dem durch die Antragsschrift des Generalbundesanwalts ein formaler Mangel in der Begründung einer Verfahrensrüge aufgezeigt worden ist, diese unter Hinweis auf ein Verschulden seines Verteidigers nachbessern, würde im Ergebnis die Formvorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO außer Kraft gesetzt. Da den Angeklagten selbst an dem Mangel regelmäßig keine Schuld trifft, wäre ihm auf einen entsprechenden Antrag hin stets Wiedereinsetzung zu gewähren. Dies stünde nicht mit dem öffentlichen Interesse in Einklang, einen geordneten Fortgang des Verfahrens zu sichern und ohne Verzögerung alsbald eine klare Verfahrenslage zu schaffen.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Nachholung einer Verfahrensrüge kommt daher nur in besonderen Prozesssituationen ausnahmsweise in Betracht, wenn dies zur Wahrung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) unerlässlich erscheint.


Entscheidung

1146. BGH 4 StR 269/18 - Urteil vom 8. November 2018 (LG Arnsberg)

Revisionsbegründung (Auslegung der Rechtsmittelerklärung); Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Sinn und Zweck; Zäsurwirkung der frühesten nicht erledigten Verurteilung; Härteausgleich bei Vollstreckung, Verjährung oder Erlass einer zunächst erkannten Strafe).

§ 344 StPO; § 53 StGB; § 54 StGB; § § 55 Abs. 1 StGB

1. Sind die Ausführungen zum Angriffsziel widersprüchlich, ist die Reichweite des Revisionsangriffs durch Auslegung der Rechtsmittelerklärungen zu ermitteln.

2. § 55 StGB soll seinem Grundgedanken nach sicherstellen, dass Taten, die bei gemeinsamer Aburteilung nach den §§ 53, 54 StGB behandelt worden wären, auch bei getrennter Aburteilung dieselbe Behandlung erfahren, sodass der Täter im Ergebnis weder besser noch schlechter gestellt ist.

3. Folgen der Beendigung der neu abgeurteilten Tat mehrere Verurteilungen des Täters nach, ist bei der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe von der frühesten nicht erledigten Verurteilung auszugehen. Dieser Verurteilung kommt regelmäßig eine Zäsurwirkung zu.

4. Scheitert eine an sich mögliche nachträgliche Gesamtstrafenbildung daran, dass die zunächst erkannte Strafe bereits vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, so fordert eine darin liegende Härte einen angemessenen Ausgleich bei der Bemessung der neuen Strafe. Bezugspunkt für den zu gewährenden Härteausgleich ist die Gesamtstrafenbildung, wie sie ohne die eingetretene Erledigung der früheren Verurteilungen vorzunehmen gewesen wäre. Für die Bemessung des Härteausgleichs ist der Tatrichter daher gehalten, sich Klarheit über die ohne Berücksichtigung der Erledigung an sich gegebene Gesamtstrafenlage zu verschaffen.


Entscheidung

1124. BGH 2 StR 340/17 - Beschluss vom 5. September 2018 (LG Gera)

Urteilsgründe (Umfang der Urteilsgründe).

§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO

1. Die Urteilsgründe müssen die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden; die Sachverhaltsschilderung soll ein geschlossenes Ganzes bilden und – unter Weglassung alles Unwesentlichen – kurz, klar und bestimmt sein.

2. Die Beweiswürdigung wiederum soll keine Dokumentation der Beweisaufnahme enthalten, sondern belegen, warum bestimmte bedeutsame Umstände so festgestellt worden sind. Es ist regelmäßig verfehlt, die Aussagen von Zeugen aus der Hauptverhandlung in ihren Einzelheiten mitzuteilen, wenn sich der Angeklagte umfassend geständig einlässt.