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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2018
19. Jahrgang
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1. Der konventionsrechtliche Grundsatz der Waffengleichheit gebietet es, einen Verfahrensbeteiligten über Stellungnahmen eines anderen Verfahrensbeteiligten
in Kenntnis zu setzen und ihm die realistische Möglichkeit zu gewähren, seinerseits Stellung zu nehmen. Nach der Rechtsprechung des EGMR (Urteil vom 7. September 2017, Nr. 8844/12, Stollenwerk gegen Deutschland) gilt dies unabhängig davon, ob die Stellungnahme dem Beteiligten bislang unbekannte Tatsachen enthält oder nicht.
2. Soweit Eingriffsmaßnahmen – wie die Untersuchungshaft – ohne vorige Anhörung angeordnet werden können, darf eine Beschwerdeentscheidung zu Lasten des Beschuldigten nicht ergehen, ohne dass dieser zu der erforderlichen Erklärung der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen konnte.
3. Hiervon unberührt bleibt die Anwendung des Beruhensgrundsatzes, wonach ein Gehörsverstoß nur dann zur Aufhebung einer Entscheidung führt, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Die praktische Wirksamkeit der konventionsrechtlichen Garantie der Waffengleichheit wird dadurch nicht gemindert.
4. §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse, sondern erfassen über den Gesetzeswortlaut hinaus jeden Aspekt des rechtlichen Gehörs.
5. Namentlich in Haftsachen darf eine gerichtliche Entscheidung jedenfalls in der Beschwerdeinstanz nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, die dem Beschuldigten durch Akteneinsicht der Verteidigung bekannt sind.
6. Bei der Bestimmung des sachlichen Gehalts des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen. Dies zielt allerdings nicht auf eine schematische Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe, sondern auf eine funktionsanaloge Adaption der Gewährleistungsgehalte der EMRK.
7. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.
8. Mit einer gerichtlichen Verurteilung vergrößert sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs. Allerdings ist es mit dem Resozialisierungsgebot nicht vereinbar, den Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten, bis die Strafe überwiegend oder vollständig verbüßt ist.
9. Eine Verfassungsbeschwerde ist nicht hinreichend substantiiert, wenn die angegriffene Entscheidung maßgeblich auf die Gründe einer anderen Entscheidung verweist und der Beschwerdeführer diese weder vorlegt, noch ihrem wesentlichen Inhalt nach mitteilt.
Eine Verfassungsbeschwerde gegen die einen Klageerzwingungsantrag als unzulässig zurückweisende Entscheidung ist mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn der Beschwerdeführer zuvor keine Anhörungsrüge erhoben hat, obwohl das Oberlandesgericht seine Ausführungen zum Gang des Ermittlungsverfahrens offensichtlich übersehen hat.