Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2018
19. Jahrgang
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Thomas Fischer: Über das Strafen. Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft. 375 Seiten, ISBN 978-3-426-27687-7, 22,99 € (gebundene Ausgabe), Droemer-Verlag, München 2018.
Muß ein Kenner des Strafrechts (z.B. auch HRRS-Leser) dieses Buch lesen? Ja, unbedingt! Wer noch nicht im Strafrechtssystem voll drin steckt, wird ebenfalls begeistert sein: er erfährt komprimiert viel über die Struktur der Strafgesetzgebung, die Strafgerichtsbarkeit, Strafrechtstheorien und hat die gegenwärtige Praxis klar mit vielen plastischen, erklärenden, z.T. auch verblüffenden Beispielen vor Augen. Fischer war selbst entscheidend (im wahren Sinn des Wortes) in dem System tätig, verschafft dem Leser aber den Blick eines Außenstehenden auf Entstehung und Wirkungsweise des Strafrechtssystems. Als ehemaliger Insider beschönigt oder glorifiziert er nicht, sondern erlaubt sich auch grundlegende Kritik (u.a. am Gesetzgeber, am BGH, am BVerfG, vor allem an der Presseberichterstattung). Im Strafrecht manifestiere sich das "Gewaltmonopol" des Staates, das unterschiedlichen politischer Einflüsse unterliege. Er beschreibt das Strafrechtssystem souverän mit all seinen Vor- und Nachteilen.
In sieben Kapiteln sind (teils mit historischen Vergleichen) Fragen der Gesellschaft, Kommunikation, Gerechtigkeit, der Strafrechtspolitik und vor allem der Strafrechtspraxis (mit einem kurzen Ausblick in die Zukunft) abgehandelt. Im Vordergrund stehen dabei stets die jeweils maßgeblichen Begriffe. Die Auslegung von Begriffen im Alltag und auch in der Rechtsprechung ist erfahrungsgemäß vom jeweiligen Zeitgeist und – langfristig betrachtet – von der jeweiligen Kultur abhängig, z.B.: Wille, Wahrheit, Wirklichkeit, Gerechtigkeit, Straftatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld, Täter, bedingter Vorsatz, Schuldfähigkeit, Irrtum etc.
Erstaunlich, wie anschaulich und kompetent der jeweilige Meinungsstand in Rechtsprechung, Gesetzgebung und in der öffentlichen Meinung dargestellt wird. Fischer illustriert die Begriffe manchmal mit fiktiven, übertreibenden, aber stets plastischen Beispielen zur bessern Verständlichkeit. Dabei werden auch Entscheidungen des Gesetzgebers zur Strafrechtspolitik kritisiert (z.B. S. 193). Die Gesetzgebung sei "gelegentlich gefährlich" (S. 331), "überflüssig" (S. 269), "ineffektiv" (Geldwäsche; S. 272 ff.) oder bloße "Wortlautakrobatik" (S. 281). Das "Gedächtnis der Strafrechtspolitik sei kurz" (S. 290). Manche Politiker bezeichnet Fischer als "Egoisten" (S. 287; Kritik auch an Schily: S. 160, 176). Auch die Ausschüsse im Parlament kommen nicht nur gut weg (S. 289). Dem BMJ(V) lastet Fischer an, dass es Fehler des Gesetzgebers nicht immer korrigiert (z.B. Rückwirkungsverbot; S. 178; s auch S. 193, 265 f.). Der Leser erfährt, welche (oft personenbezogen oder zeitabhängigen) Einflüsse, Beweggründe die Strafnormgebung beeinflussen (einerseits), und wie rasch und kompetent auf frühere legislatorische Versäumnisse oder aktuelle Ereignisse reagiert werden kann (andererseits).
Der Autor kennt die Strafjustiz von innen und außen; er geht nicht dogmatisch-abstrakt oder wissenschaftlich verbrämt durch den gesamten Aufbau des Strafrechtssystems und die Verfahrensabläufen; er beschreibt auch die Grenzen von Richtern und Staatsanwälten, Strafverteidigern und anderen Akteuren im System (S. 297 ff.). Der Leser erkennt in ihm einen erfahrenen Experten, der alle Vor- und Nachteile des Systems kennt und benennt. Er markiert den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit (S. 79 f.) und unterscheidet zwischen wirklicher und prozessualer Wahrheit (S. 131). Hat er Vorurteile gegenüber habilitierten Richtern? (S. 140). Spannend sind seine Wertungen/Ausführungen zu Täter (Recht/Strafe) und Opfer (Leid).
In einem Punkt hält sich Fischer nicht zurück. Er kritisiert die "inkompetente Berichterstattung" der Presse (S. 256), beklagt die "dämonische Wirkung der BILD-Zeitung" (S. 256) und die "journalistische Selbstüberschätzung" (S. 250; erg. s. S. 153 ff., 156, 255 f., 263, 317, 319). Die Medien tragen nach seiner Ansicht mehr zur Einschätzung der Strafjustiz in der Öffentlichkeit bei als das System selbst. Das Buch "Terror" von v. Schirach wird als Beispiel dafür genannt, wie ein Buch (Theaterstück und Film) die öffentliche Meinung beeinflussen und an tatsächlichen Rechtsfragen eines Problems vorbeiführen kann (S. 247 ff.).
Der Autor macht deutlich, dass Sprache im Strafrecht eine entscheidende Rolle spielt (S. 184 ff.). Das Strafrecht sei ein "Ozean von Begriffen" (S. 195), die ihrerseits stets "fließend" sind, also nur scheinbar stets eindeutig und feststehend (S. 187; amüsant und klar die Beispiele, die der Autor dazu anführt). Aus einem Begriff allein ergibt sich nach Fischer manchmal nicht abschließend oder konturenscharf, was nach Auffassung des Gesetzgebers strafbar sein soll (z.B. "Beleidigung"; S. 194).
Tragende Begriffe sind in dem Buch stets mit Anführungszeichen hervorgehoben, in Klammern befinden sich häufig ergänzende Erklärungen oder Hinweise, erwähnenswert sind die jeweils markanten Formulierungen und aphorismenhaften Zusammenfassungen (über die mancher wissenschaftliche Dogmatiker gelegentlich stolpern mag, die aber Einblick in die Erfahrungen und Wertungen des Autors geben).
Rechtsanwalt Dr. Gernot Steinhilper, Wennigsen.